Das virale Feuilleton-Tagebuch. Die Einsamkeit des Kontrabassisten beim Solo

Das Coronavirus bringt auch die Feuilletonredaktion in eine ausserordentliche Lage: Man sieht sich kaum noch. Offen ist, ob das ein Vorteil oder ein Nachteil ist. Bis das geklärt ist, schreiben wir Tagebuch.

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Freitag, 24. April

14:23 Uhr

Ueli Bernays · Seit Wochen keine Konzerte und nichts mehr in Aussicht. Auch sämtliche Sessions und Proben gestrichen. Üben scheint sinnlos. Der Kontrabassist hat sein schweres Instrument seufzend beiseitegelegt. Er thront auf seinem Hocker und denkt an die Kollegen, die sich in Kellern und Kammern verschanzt haben

Wäre jetzt nicht die Zeit für künstlerische Versuche?, fragt er sich. Wäre jetzt nicht die Gelegenheit für kollektive Experimente und gruppendynamische Erfahrungen? Die Musik spielt ja jetzt an keinem Firmenjubiläum, an keiner Hochzeit und an keinem Begräbnis. Befreit von den Erwartungen des Publikums und entbunden von feierlichen Funktionen, könnte man also der reinen Klangkunst huldigen.

Der Kontrabass, ein systemrelevantes Instrument.

Der Kontrabass, ein systemrelevantes Instrument.

ubs.

Gewiss, eine Big Band, ein Orchester – solche Grossformationen sind zu riskant, wenn es jetzt gilt, virale Transaktionsketten zu durchbrechen. Ein Trio aber, ein Quartett, selbst ein Quintett wäre in der Quarantäne noch zu verantworten. Die Trompeter und Saxofonisten müssten ihren Viren schleudernden Hörnern einfach irgendeine Maske, irgendeinen Filter aufsetzten. Aber die sonst so hochtrabenden Bläser haben die Segel ebenso gestrichen wie die komplizierten Pianisten, die zerstreuten Gitarristen. So wird jetzt nicht gemeinsam gejammt, sondern einsam gejammert.

Angsthasen, Feiglinge! Der Kontrabassist fühlt sich im Stich gelassen. Jahrelang hat er den anderen selbstlos zugedient. Er hat sich auf die Begleitung konzentriert, quasi auf seine Systemrelevanz. Ohne ihn ging nichts. Das verstanden die Leute nicht recht. Wo die Leute nur das Bumbumbum fortschreitender Viertel vernahmen, da hat er mit ein paar federnden Triolen einerseits den Swing markiert. Andrerseits hat er mit Grundtönen, Terzen und Septimen den harmonischen Boden bestellt, auf dem die Kollegen erst ihr Ego in Szene setzen konnten – nicht selten in nicht enden wollenden Improvisationen.

Ohne seine systemrelevante Disziplin lief an den Jam-Sessions tatsächlich wenig. War er dann selber an der Reihe für ein kurzes Solo, hatte er die Finger bereits wund gescheuert an den dicken Saiten, so dass seine Melodien zaghaft klingen mussten. Prompt wurde er übertönt vom Schlagzeuger, der die relative Ruhe zu nutzen wusste, um dem Pianisten ein Rezept für Schweinebraten oder Kürbissuppe darzulegen. Wie viel Kartoffeln, wie viel Kürbis?, fragte dann auch noch der Trompeter, bevor er das Bass-Solo mit seinem Finale abwürgte.

Mit der Bescheidenheit ist es jetzt vorbei. Das Blingblingbling der Systemrelevanz war gestern. Der Kontrabassist setzt jetzt nämlich auch auf Selbstverwirklichung und gewährt den Fingern sehr viel Auslauf. So steigert er sich in ausdrucksstarke Rhapsodien und Fugen, seine virtuosen Läufe durch die mittleren Lagen sind erschütternde Herzensergüsse – zumindest für Kenner, die richtig hinhören. Wie der Kontrabassist selbst, der seine Ambitionen in immer höhere Register klettern lässt. Und, aufgepasst, dazu bewaffnet er sich zuletzt mit einem Bogen. Allein, mit dem Bogen ist er noch nicht ganz vertraut. Statt zu klingen, surren oder quietschen die Saiten. Vielleicht deshalb hat seine Frau die Wohnung plötzlich verlassen. Und die Söhne, sie wappnen sich bereits mit Tennisbällen und Tomaten.

Der Künstler lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Das Solo ist jetzt seine Welt. Er träumt auch schon von einem Auftritt. Irgendwann in den nächsten Wochen wird er auf einer Bühne, auf einem Balkon Stellung beziehen mit seinem Kontrabass. Und dann wird er die Nachbarschaft mit halsbrecherischen Läufen und herzergreifenden Motiven für die Anliegen musikalischer Unterschichten sensibilisieren. Die Hinzes im fünften Stock und die Kunzes vis-à-vis werden dann laut klatschen, frenetisch applaudieren wird der ganze Strassenzug. Denn aus der Corona-Krise wird noch ein neuer Held hervorgegangen sein.

09:13 Uhr

Roman Bucheli · Das Feuilleton sei das beste Ressort dieser Zeitung? Ja, mit dem Gedanken versuche ich mich jeden Morgen aufzumuntern und in Form zu bringen. Ich laufe am frühen Morgen durch den Wald, begrüsse die Rehe, tausche mich mit den Nachtigallen aus und murmle vor mich hin: Du bist Redaktor im besten Ressort dieser besten Zeitung der Welt. Und die Nachtigallen jubeln.

Dann komme ich äusserlich verschwitzt und innerlich erhitzt zurück, dusche und mache Frühstück, setze mich hin, trinke die erste Tasse Kaffee, öffne die Zeitung und beginne zu lesen, ganz hinten, beim Sport. Und mein frohes Selbstbild sackt in sich zusammen. Neidlos anerkenne ich: Der Sport ist das bessere Feuilleton. Die Kollegen schreiben einfach besser als wir, sie können Geschichten erzählen, sie haben die besseren Themen, mehr Muskeln und weniger Hirn, wir haben Gumbrecht, sie Ronaldo (wen möchten Sie zum Frühstück lieber anschauen? Na ja, gut, vielleicht keinen von beiden, aber wenn Sie wählen müssten?).

Und jetzt verlässt uns einer der Besten des besten Ressorts! Was soll nun aus uns werden? Es wäre zum Heulen – wenn er uns nicht zum Abschied einen seiner schönsten Texte hinterlassen hätte. Nein, es ist zum Heulen, weil er einen seiner bewegendsten Texte geschrieben hat. Lesen Sie! Und wenn Sie ihn schon gelesen haben, lesen Sie ihn hier noch einmal. Man kann nicht genug davon kriegen:

Samuel Burgeners Hommage an Herkunft und Zukunft

Montag, 20. April

12:45 Uhr
Wer den Blues hat, erinnert sich an Robert Johnson.

Wer den Blues hat, erinnert sich an Robert Johnson.

PD

Ueli Bernays · Heute Morgen bin ich aufgewacht, und etwas hat mir gefehlt. O Gott, heute Morgen bin ich aufgewacht, und etwas hat mir gefehlt. Ich habe die eine Hand übers Bett auf die Suche nach meiner Frau geschickt, aber die Hand hat mir nichts zurückgebracht. Dann habe ich die andere Hand auf die Suche nach meiner Brille geschickt, ich habe sie fortgeschickt, und sie hat mir von unter dem Bett meine Brille gebracht. Ich habe sie aufgesetzt, die Brille, o Gott, ich habe sie über den Nasenrücken geschoben und nirgends eine Frau gesehen. Ich habe meine Frau nicht gesehen, denn sie lag schon in der Stube und schaute eine Serie, sie lag in der Stube und schaute schon ihre Serie. O Gott, heute Morgen bin ich aufgewacht und ich hatte gleich den Lockdown-Blues, o Gott, den Lockdown-Blues.

Heute Morgen bin ich aufgewacht, und etwas hat mir gefehlt. Heute Morgen bin ich aufgewacht, und mein Baby war schon in der Stube. O Gott, mein Baby war in der Stube – wie gestern, vorgestern, vorvorgestern. Aber auch meine Buben waren da, wie gestern, vorgestern, vorvorgestern. Die Buben waren da, und sie sollten in keine Schule gehen, und die Buben wollten noch keinen Sport treiben. Die Buben waren da, und sie wollten hocken, starren, essen, nur hocken, starren, essen. Heute Morgen bin ich aufgewacht, und alle waren zu Hause, meine Frau, die Kinder und der Papa. Und mir wurde eng um die Seele, denn alle waren da. Mir wurde eng um die Seele, denn alle waren da, und nirgends war Platz für meinen Laptop, nirgends war Platz für den verdammten Laptop, nur in der engen, hintersten Ecke. O Gott, heute Morgen bin ich aufgewacht, und ich hatte den Home-Office-Blues, o Gott, den Home-Office-Blues.

Heute Morgen bin ich aufgewacht, und etwas hat mir gefehlt. O Gott, heute Morgen bin ich aufgewacht, und etwas hat mir gefehlt. Ich bin den Korridor rauf und runter gewandert, ich bin durch den Korridor gewandert, auf und ab, rauf und runter, bis ich müde wurde und den Verstand verlor. Als ich heute Morgen durch den Korridor wanderte, müde wurde und den Verstand verlor, da sah ich einen brennenden Busch, da erschien mir Gott, halleluja, Gott unser Lord. Gott der Lord erschien mir, halleluja, und er sagte: Ulrich, dir fehlt nichts! Bleibe zu Hause, o Mann, bleibe zu Hause, führe dein Weib und deine Kinder nur kurz an die frische Luft, zeige ihnen die Sonne, aber dann bringe sie wieder heim in die Stube. Führe sie nicht in den Park, wo die Ungläubigen grillieren und saufen, zeige ihnen nicht die Gestade des glitzernden Sees, wo die Verdorbenen beieinander sitzen und sündigen, wo sie sündigen gegen Gesetz und Verstand! O Gott, ich bin aufgewacht, und mir hat etwas gefehlt, mir hat etwas gefehlt. Denn ich bin aufgewacht, und ich hatte den Blues, ich hatte den Pandemie-Blues, den Pandemie-Blues.

Heute Morgen bin ich aufgewacht, und mir hat etwas gefehlt, ich bin aufgewacht, und mir hat etwas gefehlt. Aber mir brummte der Kopf noch vom gestrigen Schnaps, und mir brannten die Augen vom gestrigen Stumpen. Ich ging in ein Zimmer, da zankten die Buben, ich ging in ein Zimmer, da lag meine Frau und schaute ihre Serie. Ich ging in ein Zimmer, da surrte der Laptop, ich ging in die Küche, da stand meine Freundin, die Flasche. O Gott, heute Morgen, da fehlte mir etwas, aber ich fand eine Flasche. Ich nahm die Flasche, wanderte durch den Korridor, auf und ab, runter und rauf, und als ich müde wurde und den Verstand verlor, da erschien mir mein Freund, der Teufel. Und der Teufel sprach: Dir fehlt das Leben, Ulrich! Schreite hinaus in den lachenden Frühling, lass den Laptop surren, lass die Kinder streiten, geh hinaus an die Gestade des glitzernden Sees, nimm deine Freundin mit, und setz dich zu den freundlichen Menschen, und sing mit ihnen ein Lied, sing mit ihnen ein fröhliches Lied. Heute Morgen bin ich aufgewacht, und ich hatte den Blues. O Gott, heute Morgen bin ich aufgewacht, und ich hatte den Corona-Blues, ich hatte schon wieder den gottverdammten Corona-Blues.

12:05 Uhr

Angela Schader · Sprache ist bekanntlich geduldig, aber wer sie wertschätzt, wird nicht alles mit ihr machen wollen. Das Wort «daheim» zu steigern etwa – das verkneife ich mir, obwohl es tatsächlich einen Faktor gibt, der bewirkt, dass ich mich in meiner Wohnung noch (bitte ergänzen Sie selbst) fühle.

Es ist die Klavierspielerin im Haus nebenan; sie lebt nicht in der direkt angrenzenden Wohnung, sondern ein, zwei Stockwerke höher. Ich kenne sie nicht, faktisch weiss ich nicht einmal, ob ein Mann oder eine Frau in die Tasten greift; aber in meiner Wahrnehmung kann es nur eine Frau sein. Ich könnte jetzt Objektivität vorschützen und schreiben, dass sich das dem Anschlag ablauschen lasse, aber mehr als sexistisch und ignorant wäre eine solche Behauptung nicht. Also sagen wir’s ehrlich: Meine Klavierspielerin ist meine Klavierspielerin, weil sie genau das Repertoire spielt, das mich durch Kindheit und Jugend begleitete: Bach, Mozart, Schubert, Haydn.

Nicht, dass ich selbst diese wunderbaren Töne hervorgezaubert hätte. Es war meine Mutter. Und sie musste mit der Zeit am Paradox verzweifeln, dass ich zwar gestreckten Laufs ins Wohnzimmer platzte, sobald sie zu spielen begann, mich gebannt unter den Flügel hockte oder bei einem Presto auch einmal das Gampiross zum Galopp spornte; dass sich das Fräulein Tochter aber, als sie es hoffnungsfroh auf den Klavierhocker hob, auf Teufel komm raus nicht zum Üben bequemen wollte.

Ganz so wohnlich, wie ich es mir als Kind vorstellte, sieht es im Innern eines Flügels nicht aus.

Ganz so wohnlich, wie ich es mir als Kind vorstellte, sieht es im Innern eines Flügels nicht aus.

Christian Beutler / Keystone

Beim viel zu spät unternommenen Versuch, ein Instrument zu erlernen, habe ich dann für diese Unterlassungssünde gebüsst; im Licht des eigenen Unvermögens erkannte ich auch, dass mein musikalisches Talent sich wohl tatsächlich aufs begleitende Schaukelpferdreiten beschränkte. Problematischer war übrigens eine andere Spielart meiner kindlichen Begeisterung. Sie resultierte aus dem festen Glauben, dass Johann Sebastian Bach, dessen Italienisches Konzert ich besonders liebte, im geräumigen Leib unseres Bechstein-Flügels hause. Mehrfach versuchte ich, ihm dortselbst Nahrung zukommen zu lassen, was dem Instrument nicht immer gut bekam.

Jetzt, da ich zu Hause arbeite, komme ich täglich in den Genuss der wie aus der Kindheit herüberwehenden, zugleich fernen und vertrauten Musik. Und auch wenn ich mir in diesen Tagen die Crème de la Crème der heutigen Pianistinnen- und Pianistenszene per Live-Stream frei Haus auf den Bildschirm zaubern kann – auch die virtuoseste Darbietung hat nicht den Zauber dieser Klänge aus dem Nachbarhaus.

Freitag, 17. April

13:10 Uhr

Señor Bucheli · Ich musste heute meinen Bagger ins Gebet nehmen. Denn ich war ernsthaft besorgt. Tapferkeit vor dem Freund war nun geboten. Denn es ist eingetreten, was ich befürchtet hatte. Susi – Sie erinnern sich, die Bohrmaschine – hat ihm den Kopf verdreht. Nach anfänglicher Zurückhaltung hat er seine Schüchternheit abgelegt. Inzwischen baggert er kaum noch, er tänzelt und scharwenzelt bald nur noch um die Hübsche herum.

Bagger und Bohrer (hinten links mit schwungvoller Aufschrift «Susi»).

Bagger und Bohrer (hinten links mit schwungvoller Aufschrift «Susi»).

rbl.

Zuerst gingen beide ihrer Arbeit nach, sogar zeigte er ihr ein wenig die kalte Schulter, drehte ihr jedenfalls den Rücken zu. Nicht aus Überheblichkeit, nicht ostentativ. Ein Cavaliere eben. Dann aber.

Was geht hier vor?

Was geht hier vor?

rbl.

Hier konnte ich doch nicht mehr nur zuschauen! Ich musste einschreiten. Es war Gefahr in Verzug. Nicht dass ich prüde wäre, um Gottes willen. Ich habe ja auch nichts gegen ein wenig Freude im Leben. Aber hier drohte eine Mésalliance. Die gute Susi mag ja hübsch sein und apart und charmant. Aber sie ist faul.

Nun ja, auch dagegen kann ich fauler Hund eigentlich nichts einwenden. Aber sie hockt nur einfach den ganzen lieben langen Tag herum. Und bohrt ab und zu ein Loch. Sonst nichts. Null Bewegung (wozu die Raupen, frage ich mich), kein Armeschwingen, keine Kniebeugen, nicht einmal ein Hüftschwung, nichts. Alles Fehlanzeige. Den ganzen Tag nur hocken und bohren.

Das ist doch kein Leben!, sagte ich dem Bagger. Wie soll das auf Dauer gut gehen, fragte ich ihn. Du bist ja selber schon so weit, dass du nur noch herumhockst und sogar die Freude am Baggern verloren hast, sagte ich ihm. Man stelle sich vor, sagte ich, ein Bagger, der nicht mehr baggert.

Erst schaute er mich nur etwas blöde an und tat so, als wüsste er nicht, wovon ich da redete. Dann rauperte er wortlos davon. Seither baggert er wieder. Und Susi hockt, wo sie immer schon hockte.

Aber ich fürchte, bald wird es sowieso nichts mehr zu baggern geben. Denn mit dem Aushub ist bald Schluss. Es steht der magische Moment des Bauens bevor, meine Bewunderung der Arbeiter steigt ins Unermessliche: Mitten im Nichts des Baugrunds stehen sie mit Plänen wie Bettlaken, gehen herum, messen, diskutieren, dann schauen sie wieder in die Pläne und gehen wieder herum und diskutieren abermals.

Und plötzlich liegt da quer über den erdigen Boden ein schwarzes Wasserrohr. Es ist die Urzelle des Hauses. Darum herum wird nun gebaut. Und es ist wie bei einem Roman. Ist der erste Satz falsch, geht immer nur Falsches daraus hervor. Liegt hier das Rohr einmal da und am falschen Ort, und sei es auch nur ein Hauch, das Haus wird am Ende um diesen Hauch für immer schief und krumm stehen.

Ich hätte schlaflose Nächte und wüsste nicht wohin mit dem Rohr. Die Arbeiter aber reden, gehen herum, messen, reden wieder, gehen wieder herum, messen noch einmal, dann spucken sie in die Hände. Und plötzlich liegt da quer über den erdigen Boden ein schwarzes Wasserrohr.

Donnerstag, 16. April

17:15 Uhr
Flügel hat er nicht, aber er wird Sie trotzdem auf eine weite Reise führen.

Flügel hat er nicht, aber er wird Sie trotzdem auf eine weite Reise führen.

Angela Schader · Lassen Sie sich nicht täuschen von meinem hübschen Topf. Nicht mit süsser Milch gefüllt bekommen Sie ihn serviert, sondern voll bitterer Tränen. Als Begleiter eines Lamentos, über dessen Anlass Sie sich vielleicht an den Kopf greifen werden. Es ist der blaue Himmel, es ist die Tag für Tag triumphal über uns hinwegmarschierende Sonne, es ist, verdammt noch mal, das wochenlange Ausbleiben des Regens, das mir zunehmend zu schaffen macht.

Natürlich, die Zeiten sind dem Katastrophendenken förderlich. Warum sollte nicht zur Corona-Pandemie und deren ins Unermessliche schiessenden Folgekosten noch eine weitere Plage in Gestalt der Dürre treten? Wie war das schon wieder mit den zehn ägyptischen und den sieben Plagen der Endzeit?

Nehmen wir gleich die Letzteren, weil diejenigen in Ägypten ja schon stattgefunden haben. Zu finden sind sie in der Offenbarung des Johannes, Kapitel 16. Von der ersten Plage heisst es: «Da bildete sich ein böses und schlimmes Geschwür an den Menschen . . .» Nicht die Covid-19-Symptome, aber eine Epidemie immerhin. Nummer zwei und drei: Das Wasser des Meeres wie auch das der Flüsse und Quellen wird zu Blut. Das trifft die heutige Realität zwar ebenfalls nicht ganz, doch was wusste Johannes damals von Pestizidrückständen, Mikroplastik und verklapptem Giftmüll? Vier und sechs: Da wird’s brenzlig. Die Sonnenhitze versengt die Menschen, der Euphrat trocknet aus. Sehen Sie jetzt, was ich meine?

Nun weiss man, dass Untergangspropheten öfters falsch liegen; vor allem aber sind die Sandalen der Kassandra oder des Johannes für gewöhnlich Sterbliche viel zu gross. Doch das, worauf ich in aller Bescheidenheit pochen möchte, ist real und für mich nicht minder greifbar als der emaillierte Topf. Es ist die Erinnerung ans Dürrejahr 2018. An die Wochen und Monate, in denen man an den sterbenden Bäumchen auf dem Sechseläutenplatz vorbeischlich, an vergilbenden Wiesen, unter denen die Erde vor Durst zu ächzen schien, an vorzeitig über die Strassen treibendem welkem Laub. Die Zeit, da einem klar wurde: Auch hierzulande ist es nicht selbstverständlich, dass Boden und Bäume Nahrung hervorbringen.

Aber was, werden Sie denken, hat der blauweisse Topf damit zu tun? Hat ein Liter Flüssigkeit je die Welt vor Dürre bewahrt? Sicher nicht. Doch für mich ist er das tägliche Memento an 2018. Damals begann ich, beim Abwaschen das Wasser nicht mehr einfach aus dem Hahn pladdern zu lassen, bis es warm war, sondern es in diesem gefälligen Gefäss aufzufangen und das mit Seifenwasser geschrubbte Geschirr damit abzuspülen. Närrisch, werden manche denken, und vielleicht haben sie recht. Aber in Gedanken von einem Milchtopf zur Apokalypse zu reisen und wieder zurück an den Spültrog – das ist doch eigentlich nicht schlecht, besonders in räumlich eingeschränkten Zeiten wie diesen.

14:20

Claudia Mäder · Heute vermisse ich meine Kollegen sehr, und ganz besonders Thomas Ribi. Seit Stunden versuche ich, ein paar läppische lateinische Sätze zu übersetzen. Im Büro wäre ich nach weniger als zehn Metern am Ziel, nämlich an der Türe von Thomas, unserem Lateinexperten. Natürlich könnte ich ihn jetzt per Skype anrufen, ihm eine Teams- oder Slack-Nachricht schicken oder es auch mit Rauchzeichen versuchen. Aber irgendwie traut man sich doch nicht, wegen kleiner Dinge zu solch komplizierten Mitteln zu greifen, zumal man weiss, dass die Kollegen anderes zu tun haben in ihren Heimbüros. Thomas zum Beispiel ist momentan bekanntlich mit Bienen beschäftigt (siehe unten, 10:34 Uhr).

Ich dagegen kämpfe mit Drachen, so viel weiss ich sicher. «Dracones» steht da in meinem Text. Google Translate meint zwar, dass es sich dabei um Schakale handle, aber von der dummen künstlichen Intelligenz lasse ich mich sicher nicht beirren. Dracones sind Drachen, und offenbar gibt es in den Bündner Bergen besonders interessante Exemplare von ihnen. Das entnehme ich der «Itinera Alpina» von Johann Jakob Scheuchzer, und zu diesem Buch aus dem 18. Jahrhundert wiederum habe ich gegriffen, weil Elias Canetti einst an der Scheuchzerstrasse wohnte und ich selber mich nach Bergreisen sehne.

Wenn Sie das alles jetzt nicht verstehen, geht es Ihnen gleich wie mir mit Scheuchzers Drachen. Der Schweizer Naturforscher hat alle einheimischen Drachenarten säuberlich gezeichnet, beschrieben und kategorisiert. Diejenigen, die Rätien besiedeln, müssen irgendwie sonderbar sein («curiosa sunt»), offenbar halten sie sich überwiegend in der Nähe von Bergün auf und werden dort meist bei strahlendem Sonnenlicht gesehen («a radiorum solarium»). Mehr kann ich mir leider nicht erschliessen, aber gewiss sind diese Bündner Tiere ziemlich freundlich – oder haben Sie das Gefühl, dass ein solches Geschöpf einem Menschen etwas antun könnte?

Rhätischer Drache, abgebildet im Buch von Johann Jakob Scheuchzer.

Rhätischer Drache, abgebildet im Buch von Johann Jakob Scheuchzer.

cmd.

Auf mich wirkt dieser kleine Draco eindeutig harmloser als die gemeine Corona, und sobald dieses wahre Ungeheuer besiegt ist, werde ich die Rhätische Bahn besteigen und ins Fabelland reisen.

10:34 Uhr
Da ist sie, die erste der Wildbienen, auf die ich so gewartet habe.

Da ist sie, die erste der Wildbienen, auf die ich so gewartet habe.

rib.

Thomas Ribi · Nur gerade fünf Wochen ist es her, da wäre es ganz normal gewesen, über Bienen zu sprechen. Heute kommt mir ein Gespräch über Bienen schon fast sonderbar vor. Besonders wenn Claudia Mäder an den Brand der Notre-Dame-Kathedrale erinnert, Angela Schader über die anhaltende Trockenheit nachdenkt und sich vor Señor Buchelis Arbeitszimmer herzzerreissende Liebesdramen abspielen. Aber ich muss einfach von ihnen erzählen.

Von den Wildbienen nämlich, die sich auf unserer Terrasse angesiedelt haben. An Ostern sind sie gekommen. Ich hatte schon länger auf sie gewartet. Letztes Jahr hatte mir meine Tochter zum Geburtstag ein Bienenhotel geschenkt, und ich hatte mich auf den Augenblick gefreut, da es bewohnt sein würde. Ja, ein Bienenhotel. Zugegeben, der Name klingt ziemlich dümmlich – die Biologen sprechen von einer Nisthilfe, was allerdings auch nicht viel besser ist. Vielleicht ist das Ganze sowieso so etwas wie «Landlust» für Städter, wie ich einer bin – Städter, die sich das Leben auf dem Land wunderbar vorstellen, obwohl sie eigentlich ganz genau wissen, dass sie halt Städter sind und bleiben.

Aber was soll’s, ich freue mich über die neuen Nachbarn. Wenn ich von meinem temporären Arbeitsplatz aus dem Fenster schaue, sehe ich sie. Besser gesagt: Ich habe sie gesehen, habe zugeschaut, wie sie das Nisthäuschen umkreisten, es in Besitz genommen und ihre Nistlöcher gefüllt haben. Seit vorgestern sind sie weg. Aber sie haben Larven hinterlassen und Nahrung für ihre Nachkommenschaft. Und sie haben die Nistlöcher verschlossen. Fein säuberlich, mit Lehm. Sieht aus, als ob ein Maurermeister am Werk gewesen wäre.

Doch wenn es eines Beweises bedurfte, dass nichts je vor irgendetwas in Sicherheit ist – er wäre erbracht. Seit die Larven abgelegt und die Bienen verschwunden sind, machen sich nämlich Vögel am Nistkasten zu schaffen. Meisen. Nun müssen Sie wissen: Ich liebe Vögel und Blaumeisen ganz besonders. Aber was sich die Kerle da leisten, geht über die Hutschnur. Und lässt jeden Anstand vermissen. Sie krallen sich an dem kleinen Häuschen fest und versuchen die verschlossenen Nistlöcher aufzupicken. An einer Stelle haben sie es schon geschafft: Da klafft ein Loch, gross und traurig. Schlüpfen wird nichts mehr.

Klar, so hochwertige Nahrung lässt man sich ungern entgehen, wenn man eine Blaumeise ist. Aber meine Loyalität gehört doch in erster Linie den Bienen. Ich schaue während der Arbeit regelmässiger als sonst, was sich vor dem Nistkasten tut. Und sobald ich eine Meise sehe, die sich dem Balkon nähert, springe ich auf, um meine Bienen vor den dreisten Feinden zu schützen. Bis jetzt ist es mir gelungen. Ich gebe mein Bestes.

Mittwoch, 15. April

17:50 Uhr

Claudia Mäder · Heute bekommen die Franzosen mächtige Unterstützung: Während die Menschen um 20 Uhr für das Gesundheitspersonal klatschen, wird auch die grösste Glocke der Notre-Dame läuten. Zwei Männer werden zu ihr hochklettern und sie in Bewegung setzen, 13 Tonnen wiegt die Glocke aus dem Jahr 1686. Als einzige hat sie die Revolutionszeit überstanden, und auch der 15. April 2019 vermochte sie nicht zum Schweigen zu bringen.

Ja, genau ein Jahr ist es nun her, dass die Pariser Kathedrale in Flammen stand. Einen Moment lang schaute die ganze Welt gebannt auf die kleine Insel in der Seine, später machten ein paar Architekten noch mit bizarren Rekonstruktionsideen von sich reden, aber irgendwann ging das Ereignis vergessen.

Auf den ersten Blick ist das nur die brennende Notre-Dame. Aber wenn man genau hinschaut, kann man in der nach links zügelnden Flamme in der Bildmitte auch drei böse grinsende Coronaviren erkennen.

Auf den ersten Blick ist das nur die brennende Notre-Dame. Aber wenn man genau hinschaut, kann man in der nach links zügelnden Flamme in der Bildmitte auch drei böse grinsende Coronaviren erkennen.

Thierry Mallet / AP/AP

Nicht bei den Franzosen, natürlich! In Paris blieb der Brand ein Thema, und heute, zum Jahrestag der Katastrophe, überboten sich die Journalisten geradezu mit Kommentaren; ich blieb vorher bei der Zeitungslektüre eine ganze Weile an Notre-Dame-Texten hängen. Interessante Dinge wie das Gewicht der Glocke habe ich ihnen entnommen, aber auch manch seltsame Analogie war da zu lesen.

Ein kleiner Funke genügt, um ein eigentlich völlig stabiles Konstrukt innert kürzester Zeit zum Kollabieren zu bringen – zeigt sich das nicht just in unseren Tagen wieder? Doch, natürlich, man kann das so sehen, auch wenn der Wiederaufbau einer kollabierten Kathedrale bei allem Respekt doch etwas weniger komplex sein dürfte als die Wiederbelebung einer narkotisierten Weltgesellschaft.

Dass Notre-Dame ein Symbol ist für Stärke und Widerstandskraft, nun ja, auch das mag noch durchgehen lassen, wer Gesteinsblöcke und Menschen für seelenverwandt hält. Aber spätestens wenn man liest, dass wir mit der Pandemie in die Gründungszeit der Kathedrale katapultiert würden und das Virus heute wie einst die Pest oder Lepra wüte, muss man sich fragen, ob nicht auch die Journalisten ihre Hände besser zum Klatschen als zum Schreiben verwenden würden.

15:27 Uhr

Señor Bucheli · Heute kam Susi. Nein, keine Sorge, das ist nicht meine Geliebte. Susi ist eine Bohrmaschine, und zwar eine richtig grosse Maschine, nicht so ein ordinärer Handbohrer, nein, ich meine: richtig gross. Auf Raupen. Mit einem dicken Bauch, aus dem es gelegentlich wuchtig faucht. Mit Schläuchen und Stangen und einem Turm, der dicke Rohre in den Boden rammt. Vermutlich bis sie irgendwo auf der anderen Seite wieder herauskommen. Und ja, das ist kein Witz, die Maschine heisst Susi. In schwungvollen Girlanden wurde der Name auf die grasgrüne Verschalung gepinselt.

Ich hätte es ahnen müssen, dass sie zu Besuch kommt. Und ich muss jetzt hier wieder einmal ein Geständnis ablegen. Denn ich habe über Ostern schlecht über meinen Baggerführer geschrieben. Er sei ein Pedant, sagte ich, Sie erinnern sich. Und heute dachte ich, er sei obendrein auch noch ein ebenso fauler Hund wie ich. Alles falsch. Asche auf mein Haupt. Er hat nur das Terrain für die Ankunft von Susi bereitet. Und als er heute ruhte, polierte er seinen Bagger, damit seine Maschine bereit ist für die Ankunft der Schönen.

Nun bohrt Susi. Und er baggert. Nein, er baggert sie nicht an. Wie kommen Sie denn darauf? Er baggert. Punkt. Er ist ein Gentleman, ein Cavaliere. Er weiss, was sich gehört. Wir wollen hier nicht auch noch eine Baustellen-#MeToo-Debatte. Also: Sie bohrt, er baggert – und zwischendurch machen sie Pause und stellen sich schön artig nebeneinander. Und tratschen ein wenig. Dann wieder bohren und baggern, bohren und baggern, bohren und baggern.

Ach, sie sind jung und haben noch das ganze Leben vor sich. Der Bagger ist etwas schüchtern, Susi wäre es nicht, aber sie will jetzt auch nichts überstürzen. Sie kam ja erst heute. Morgen mehr!

11:30 Uhr

Angela Schader · Und wenn es nur ums Einkaufen geht oder um den kurzen Spaziergang zwischendurch: Ein kleiner modischer Extra-Effort, wie ihn Sabine von Fischer unternommen hat (vgl. Eintrag vom 1. April, 13.45 Uhr), lohnt sich. Mit ihren Traum-Textilien können es die Bestände in meinem Kleiderschrank nicht aufnehmen, aber immerhin hängt dort ein appetitliches neues Hemd, das bestens für den Frühling passt. Das ziehe ich über, wenn es Zeit wird für den Hofgang, fahre die computermüden Augen auf Strahleblick hoch, straffe den Rücken und marschiere los; natürlich auch in der Hoffnung, unterwegs – als Ausgleich für die unbehaglichen Ausweichmanöver auf dem Trottoir – ein Lächeln mit Unbekannt zu tauschen.

Nur schon deswegen konnte ich mich bis dato nicht zur Atemschutzmaske durchringen; vor allem aber würde ich mich ein wenig genieren, die begehrten Wegwerf-Exemplare überzustreifen, seit ich weiss, dass in dem Heim, wo meine Nachbarin arbeitet, die Betreuerinnen für zwei Wochen gerade einmal drei Masken ausgehändigt bekommen. Wenn es denn unumgänglich würde, dann holte ich meine Elna Lotus aus dem Schrank – übrigens die Originalversion der legendären Nähmaschine aus dem Jahr 1968, der das hilflos aufgepeppte Nachfolgemodell in keiner Weise das Wasser reichen kann.

Sie läuft und läuft und läuft – auch nach 50 Jahren.

Sie läuft und läuft und läuft – auch nach 50 Jahren.

as.

Ermutigend wirkten in dieser Hinsicht nicht zuletzt die beiden jungen Frauen, die heute meinen Weg kreuzten. Sie trugen Masken, die trotz dem eleganten Zuschnitt eindeutig selbstgefertigt sein mussten – denn sie waren farblich perfekt auf das restliche Outfit abgestimmt. Man hört ja schon munkeln, dass auf den Laufstegen dieser Welt die Atemschutzmaske gerade zum angesagten Accessoire heranreife, während anderswo die Kostümschneidereien lahmgelegter Theater sich als Phalanx in der Produktion textiler Schutzmasken hervortun. Welch glamouröser Karneval bräche aus auf Zürichs Strassen, wenn sich auch das Opernhaus zu diesem Schritt genötigt sähe!

Dienstag, 14. April

17:19 Uhr

Roman Bucheli · Ich bin Ihnen noch mein Canetti-Geständnis schuldig geblieben über die Ostertage: warum ich den Literaturnobelpreisträger von 1981 nicht sonderlich schätze. Vielleicht sollte ich für einmal nicht so ehrlich sein, wie es sich für einen anständigen Menschen gehört. Aber was soll’s. Man darf Abneigungen auch mal kultivieren. Erst recht, wenn sie vielleicht ungerecht sind.

Bei mir ging das mit Canetti etwa so: Ich las mit allergrösster Begeisterung den ersten Teil seiner Autobiografie. Genialer Titel: «Die gerettete Zunge», und geniale Anekdote: Der Geliebte des Kindermädchens droht dem Kind, dem späteren Dichter (man stelle sich vor!), die Zunge herauszuschneiden, sollte es die Liebschaft an seine Eltern verraten.

Dann las ich den zweiten Band, und meine Begeisterung kühlte sich ein wenig ab. Das hatte vielleicht auch mit mir zu tun. Vielleicht brachte mich noch immer der gewaltbereite Liebhaber des Dienstmädchens ins Grübeln, und ich verlor darum ein wenig die Konzentration. Sei’s drum. Es trat nun aber auch eine verwirrende Menge Leute auf: Freud, Karl Kraus, Brecht, immer wieder die Mutter, schliesslich eine gewisse Veza, Canettis spätere Ehefrau. Ihr war dieser Band, «Die Fackel im Ohr», gewidmet. Canetti konnte sich aber auch fast nicht mehr einkriegen vor lauter Veza: Veza hier, Veza dort. So richtig verliebt halt.

Dann Band 3, «Das Augenspiel», man merkt schon, zuerst die Zunge, dann das Ohr (mit Kraus’ «Fackel»), nun die Augen. Aber sei’s drum, jeder hat seine Marotten. Veza und Elias jedenfalls heiraten 1934, halleluja. Und dann? Verschwindet Veza. Einfach weg, wie vom Erdboden verschluckt. Steht sie vielleicht in der Küche? Man weiss es nicht. Kein Wort mehr von ihr. In der Autobiografie spielt sie keine Rolle mehr.

Das sage ich nun ein wenig aufs Gratwohl, denn nachgeprüft habe ich es nicht mehr. Der dritte Band steht in der Redaktion. Aber so ungefähr muss es sein, genau so hat sich mir die Lektüre eingeprägt. Das ist lange her, ich gebe es zu. Damals aber weckte es meinen Argwohn. Und es verdarb mir die weitere Lektüre.

Was ich über Ostern stattdessen gelesen habe? Gottfried Keller. Nachweislich auch ein kleiner Mann. Und in dem schönen Aufsatz, den Walter Benjamin einst dem Dichter des «Grünen Heinrich» gewidmet hatte, stiess ich auf die zauberhafte Formulierung von «den bauchigen Arabesken seines Vokabulars». Und ich wusste augenblicklich: Darum liebe ich Keller, seiner «bauchigen Arabesken» wegen. Könnte man Ähnliches von Canettis Vokabular behaupten? Eben!

13:20 Uhr
Warum bloss holt mich niemand ab?

Warum bloss holt mich niemand ab?

as.

Angela Schader · Nein, ein verspätetes Osterlamm ist das nicht. Schon gut drei Wochen sitzt es nämlich da draussen und wartet. Wartet auf das Kind, das ihm wohl ein paar Tage nachgeweint und es inzwischen vielleicht schon vergessen hat.

Es ist so eine Sache mit verlorenen Stofftieren. Als Kind habe ich Puppen verächtlich von mir gewiesen und stattdessen einen kleinen textilen Zoo aufgebaut. Doch stellen Sie sich das Drama vor, als ausgerechnet dessen Kronjuwel – ein Okapi, jawohl, ein Okapi aus exquisitem, samtartigem Material – plötzlich spurlos verschwand. Gründlicher als bei jener Suche wurde nie ein Garten durchforstet, keinem Haus je das Innerste zuäusserst gekehrt. Umsonst. Aber mit Vergessen war da, wie Figura zeigt, nix; bis heute frage ich mich, wer oder was mir den Schatz wohl geraubt hat.

Und nun schwanke ich innerlich, wann immer ich an dem kleinen Schaf vorbeigehe. Es dauert mich, mit seinen freundlich, ja flehend geöffneten Armen. Einerseits bin ich versucht, es nachts heimlich zu bergen und es dann, ordentlich gewaschen und mit einer frischen Schleife geziert, der Strickkatze in der Sofaecke beizugesellen. Aber abgesehen davon, dass man sich als alter Esel doch ein wenig schämt, einen solchen Plan in Tat umzusetzen, ist da auch die aus dem eigenen Verlust gezogene Lehre: Was, wenn die eigentlichen Besitzer doch noch auftauchten, um das Schäfchen heimzuführen?

Auf jeden Fall aber muss ein Kranz für den Besitzer oder die Besitzerin des Scooters gewunden sein, auf dem das Tier seinen Platz gefunden hat. Braucht er oder sie einmal den fahrbaren Untersatz, dann wird es sorgfältig auf dem Gepäckträger des benachbarten Velos deponiert, bis es wieder den bequemeren Sitz beziehen kann. Vielleicht wird man ihm auch eine Plastikhülle umlegen, falls das Wetter einmal umschlägt. Oder aber das Schäfchen wird dann endlich vom Warten erlöst, ins Haus mitgenommen und – ordentlich gewaschen und mit einer frischen Schleife geziert – in die Sofaecke gesetzt.

12:20 Uhr

Ueli Bernays · Wir sind eine vierköpfige Familie, und im Moment ist das ja gerade recht so. Ein Töchterchen, von dem ich einst träumte, hätte zwar noch in den Rahmen pandemischer Intimität hineingepasst. Nicht auszumalen aber, was eine allfällige Zwillingsgeburt uns derzeit für Unannehmlichkeiten bereiten würde. Ein sechstes Mitglied würde die familiäre Gesundheit und Sicherheit wohl derart gefährden, dass man ein Kind ins Babyfenster stecken oder im Wald auswildern müsste.

In der erzwungenen Nähe der pandemischen Wochen zeigt sich allerdings, wie viel Leid schon in einer bescheidenen, vierköpfigen Familie zusammenkommt – genauer: wie viel Leiden. Der Ältere ist so schnell so hoch gewachsen, dass es ihn nun ständig zwickt im Kreuz; seine therapeutischen Übungen sorgen dann gleich auch noch für Muskelkater. Der Jüngere schien lange zwar etwas benommen, aber physisch unversehrt aus den nicht enden wollenden Schlachten zurückzukehren, die er auf seiner Playstation ausficht. Allein, sein Nacken ist von den virtuellen Kills mittlerweile derart verkrampft, dass man ihn regelmässig und quasi rituell massieren soll.

Wir Eltern schliesslich werden vom Wind geplagt, der uns beissende Pollen in die Schleimhäute treibt oder Migräneanfälle mit sich bringt. Ich persönlich muss an dieser Stelle gleich auch noch unruhigen Schlaf, auffällige Vergesslichkeit und eine zunehmende Begriffsstutzigkeit geltend machen.

So geht oft ein Wehen und Klagen durch die Quarantäne, obwohl wir vier vom bösen Virus bisher verschont geblieben sind – allem Anschein nach. Aber kann man sich dessen jemals sicher sein? Eigentümliche Empfindungen und seltsame Reize versetzten mich immer öfter in Aufregung und Alarmbereitschaft. Plötzlich kratzt es im Hals, manchmal ist mir schwindlig, oder ich muss husten. Und schon wähne ich mich auf dem direkten Weg von der Inkubation zur Intubation. Nur durch drei-, vierminütiges Händewaschen, verzweifelte Stossgebete und Whiskey-Halsspülungen kann ich mich jeweils etwas beruhigen. Aber nicht für lange.

Als ich heute Morgen erwachte – um ein Viertel nach sechs statt wie gewöhnlich um Viertel vor sieben –, da ging schon wieder ein sonderbares Ziehen und Drücken durch meinen ganzen Oberkörper. Schlimmer noch, ich fühlte mich irgendwie duselig und schwindlig, auch der Kopf schmerzte. Ich versuchte drei, vier Mal ruhig durchzuatmen, aber irgendeine kleine Kröte hockte in der Luftröhre. So verfiel ich in ein aufsässiges Räuspern und Hüsteln, der Atem wurde kurz und kürzer. Nun fühlte ich mir den Puls und registrierte prompt ein Fieber. Oder war bloss Panik im Anmarsch? Ängstlich kroch ich aus dem Bett, wankte ins Badezimmer, um im Spiegel die bleiche, aufgedunsene Visage eines Desperados zu gewärtigen.

Abermals wusch ich lange die Hände, noch einmal spülte ich den Hals mit Hochprozentigem. Dann erkundigte ich mich per Google über die Symptomatik und typische Verläufe der schrecklichen Krankheit. Ich landete auf einer einschlägigen Website. Vom Ziehen in der Brust war hier so wenig zu erfahren wie von Schwindel oder gehäufter Vergesslichkeit. Das Husten sei zwar typisch, es trete allerdings auch bei einer Erkältung oder einer normalen Grippe auf. Kopfweh gebe es manchmal, ebenso wie Gliederschmerzen, von denen ich nun glücklicherweise verschont geblieben war.

Schon hatte ich mich wieder etwas beruhigt, da las ich gleichsam mein Todesurteil. Die Symptome der neuen Krankheit, las ich mit Entsetzen, seien typischerweise eher unspezifisch. Unspezifische Symptome – gerade solche triezen mich ja, seit ich in der Quarantäne stecke.

Am Frühstückstisch sass ich niedergeschlagen meiner Frau gegenüber, um ihr nun mein Schicksal zu eröffnen. «Ich spüre ein unangenehmes Drücken und Ziehen im Oberkörper», berichtete ich, während ich an meinem letzten Cappuccino schlürfte. «Der Kopf schmerzt, der Hals juckt, mir ist ausserdem übel, der Puls rast schon. Das ganze unspezifische Leiden deutet wohl darauf hin, dass mich die schlimme Pandemie erwischt hat.» – Meine Frau blieb allerdings überraschend ruhig. «Wahrscheinlich leidest du im Moment an einer ganz anderen Krankheit, armer Hypochonder.»

10:50 Uhr
Die Rhätische Bahn bringt endlich wieder Bewegung ins Leben.

Die Rhätische Bahn bringt endlich wieder Bewegung ins Leben.

cmd.

Claudia Mäder · Ich hatte bereits begonnen, eine eher durchzogene Bilanz der Ostertage zu ziehen und ein paar trübselige Zeilen ins Tagebuch zu tippen.

Der einzige gefundene Osterhase ist ohne mein Zutun auf die Hälfte seiner Grösse geschrumpft. Er hat zu lang in der Sonne gestanden. Vom Butterschaf, das ich am Samstag freudig kaufte, ist nur noch ein Viertel übrig, von Canettis «Blendung» dagegen, die ich seit Wochen zu lesen versuche, bleiben vier Fünftel unberührt. Es geht einfach nicht richtig vorwärts in diesen Tagen. Nur die Haare bewegen sich zuverlässig und unaufhaltsam in Richtung Nase. Bald wird es mir unmöglich sein, durch den Fransenvorhang hindurch noch die richtigen Tasten zu treddeb.

Anderswo ist die Lage besser, das habe ich gestern von einer Freundin aus Singapur erfahren. Coiffeure dürfen dort noch wirken, jedenfalls mit der Schere. Das Kürzen der Haare ist trotz steigenden Fallzahlen gestattet, nur das Färben ist verboten. Hingegen werden in Singapur sogar Zusammenkünfte in Privathäusern mit hohen Bussen geahndet, bis zu 10 000 Dollar müsse man etwa für einen Besuch bei Freunden bezahlen. Wahnsinn. Aber geht es mir letztlich nicht gleich? Mit dem Fransenvorhang kann ich meine Freunde doch auch nicht mehr sehen, egal ob drinnen im Haus oder draussen am Fluss.

In solch tristen Überlegungen war ich also gefangen, als es vorher an der Türe klingelte und der Pöstler ein Paket bei uns deponierte: Das Puzzle ist angekommen! Nach fast vier Wochen des Wartens, Bangens und Zweifelns! Gleich werde ich die kürzlich noch verspottete Puzzlematte ausrollen (siehe 6. April, 14:52 Uhr) und mit dem Zusammensetzen beginnen. Und zum Glück kann ich die tausend Teilchen hinter meinen lampigen Strähnen nicht richtig erkennen: So wird das Puzzeln ganz gewiss bis zum Ende der Krise dauern.

Ostermontag, 13. April

09:14 Uhr
Ja, das ist eine Tischplatte. Und ja, hier hat es «Chritzi», auch wenn klar ist, dass man eigentlich keine «Chritzi» machen sollte.

Ja, das ist eine Tischplatte. Und ja, hier hat es «Chritzi», auch wenn klar ist, dass man eigentlich keine «Chritzi» machen sollte.

rib.

Thomas Ribi · Mit dem Eiersuchen ist es ja dieses Jahr so eine Sache. Schwierig, schwierig. Aber ich soll ja nicht Eier suchen, sondern mich an Canetti halten. Auch das ist, ehrlich gesagt, so eine Sache. Denn wenn ich in meinen Canetti-Leseerinnerungen krame, kommen mir ganz spontan und zuerst zwei in den Sinn, für die ich mich wahrscheinlich ein bisschen schämen müsste. In verschiedener Hinsicht.

Es ist doch so: Zu den dauerhaftesten Lesefrüchten gehören die, bei denen man irgendwann einmal feststellen muss, dass sie gar keine sind. Szenen, Sätze, Konstellationen, manchmal auch Stimmungen aus einem Buch, an die man sich ganz genau, manchmal wörtlich erinnert, die aber so gar nicht vorkommen. Oder zumindest nicht bei dem Autor, nicht in dem Buch, in dem man sie gelesen zu haben glaubt. Man erinnert sich also eigentlich gar nicht: Man glaubt sich zu erinnern.

Man erinnert sich an etwas, was es nicht gibt – geht das überhaupt? Oder man erinnert sich an etwas, was man sich selber ausgedacht und mit Gehörtem, vielleicht flüchtig Gelesenem oder falsch Verstandenem vermischt hat. Ich glaube mich zum Beispiel an ein Gleichnis aus der «Ilias» zu erinnern (oder aus der «Odyssee»?), das ich bisher mit allen verfügbaren Mitteln nicht mehr auffinden konnte. Wo ich es gelesen habe? Wohl nirgends, obwohl ich es mich seit Jahren begleitet. Bei Gelegenheit gern mehr dazu.

Aber jetzt ist ja Ostern, und Kollege Bucheli hat für das Feuilleton-Tagebuch Canetti-Ostereier versprochen. Nun ist Canetti der letzte Autor, den ich mit Ostereiern in Verbindung bringen würde, ich weiss auch nicht, warum. Das hat sicher nichts mit Canetti zu tun, sondern ist ganz allein mein Problem, wie so vieles andere auch. Und selbstverständlich lasse ich meine Kolleginnen und Kollegen nicht hängen und mache über Ostern einfach so frei. Wäre ja noch schöner.

Roman Bucheli inspiziert am Karfreitag Baustellen (wahrscheinlich beim Einnachten, um kein Aufsehen zu erregen), und Claudia Mäder unterzieht sich auch an Ostern der rituellen Lektüre (zumindest wenn sie nicht gerade Butterschafe kauft). Da kann ich es doch nicht damit bewenden lassen, Schokoladehasen zu essen und es mir wohl sein zu lassen. Obwohl ich ja, ehrlich gesagt, Bisquithasen fast lieber mag als die aus Schokolade, aber sei’s drum. Vor allem aber, vielleicht geht es mir mit Canetti ja gleich wie mit dem homerischen Gleichnis. Am Ende ist alles nix, wer weiss?

Wenn ich an Canetti denke, kommt mir nämlich zuerst «Giotto» in den Sinn. Nein, nicht der Maler. Und um genau zu sein, müsste ich sagen, nicht «Giotto», sondern «Dschoddo». Und wenn man es ganz genau nehmen würde, ist es der Satz «Dschoddo, komm zu Pápa!», der mir von fernher an die Ohren klingt. Wenn ich mich recht erinnere, erzählt Canetti im ersten Band seiner Lebenserinnerungen davon, wie er auf seinem Schulweg in Zürich jeweils einem älteren Herrn mit einem grossen, strubbligen Hund begegnete.

Ja, und dieser Herr habe immer wieder gerufen: «Dschoddo, komm zu Pápa!» Ob der Hund auf den Ruf hin zu ihm kam oder nicht, weiss ich nicht. Wahrscheinlich schreibt Canetti auch nichts darüber. Aber woran ich mich noch genau erinnere: Der Mann mit Hund war Ferruccio Busoni, der grosse Pianist und Komponist. Erst als ich Canetti las, habe ich erfahren, dass Busoni in Zürich gelebt hat.

Jetzt fragen Sie natürlich, was das Ganze soll. Ein abgehackter Satz, der vielleicht aus einem Buch von Canetti kommt – und das war’s dann? Grundsätzlich: Ja, das war’s. Ostereier halten nicht immer, was sie versprechen. Aber so ganz nur bei Dschoddo soll es denn doch nicht bleiben. Es gibt nämlich in unserer Familie einen geflügelten Satz, der mit Canetti zusammenhängt. Wenn meine Frau und ich unsere Kinder, als sie noch klein waren, auf scherzhafte Weise dazu anhalten wollten, vorsichtig zu sein, sagten wir jeweils: «Nid Chritzi mache!» Wir sagen das heute noch. Und auch bei den Kindern ist der wunderbare Satz «Nid Chritzi mache!» geprägte Münze.

Ich bin überzeugt, ihn bei Canetti gelesen zu haben: als Mahnung, die er als Kind von der Vermieterin der Wohnung zu hören bekam. Zunächst verstand er wohl überhaupt nicht, was die Dame von ihm wollte. Unsere Kinder wussten ganz sicher, was wir von ihnen verlangten. Aber wenn ich unseren Esstisch anschaue, dann entdecke ich, ohne allzu genau hinschauen zu müssen, ein paar «Chritzi». Beim einen oder anderen glaube ich mich zu erinnern, wie es zustande gekommen ist. Aber wie es mit Erinnerungen manchmal so ist. Am Ende ist alles nix, wer weiss?

Ostersonntag, 12. April

09:50 Uhr

Claudia Mäder · Señor Bucheli stellt sich seltsame Fragen! Natürlich gehen die Canetti-Exerzitien weiter über Ostern – die Schweizer Luftwaffe mag nur zu Bürozeiten arbeiten, mein Dienst an der Wahrheit kennt selbstverständlich keine Wochenenden. Wobei das nicht die ganze Wahrheit ist: Gestern musste ich Canetti um neun Uhr kurz verlassen, um ein Butterschaf zu kaufen.

An diesen Ostern ist alles anders als üblich, es kommen keine gefärbten Eier von meiner Mutter, keine Zopfhasen von meiner Tante – also darf nicht auch noch das Butterschaf fehlen. Das dachten offenbar viele, das Tier war dauernd ausverkauft letzte Woche, eine traurige Leere herrschte in den Butterschafregalen. Darum musste ich gestern gleich zu Verkaufsbeginn vor Ort sein und die «Blendung» dieser lebenswichtigen Besorgung opfern.

Butterschafe sind wichtiger als Canetti-Lektüren.

Butterschafe sind wichtiger als Canetti-Lektüren.

cmd.

Sicherheitshalber kaufte ich dann gleich zwei Butterschafe. Man weiss ja nicht, wie lange die ausserordentliche Lage in den Kühlregalen noch anhält, und auch zu einem richtigen Weihnachtsfest gehört nun mal ein Butterschaf. Dieser Einkauf hat mich nachdenklich gemacht, und anstatt in der «Blendung» weiterzulesen, habe ich dann, als die Sonne ohnehin schon verschwunden war vor meinem Fenster, zu «Masse und Macht» gegriffen.

Ich gestehe, dass ich dieses Buch nie ganz gelesen habe. Aber es enthält höchst interessante Passagen zu verschiedenen Fragen rund ums Essen: Inwiefern übt der Mensch – oder jedes andere Lebewesen – Macht aus in dem Moment, da er sich etwas einverleibt? Warum tut er das am liebsten mit anderen Menschen zusammen? Und wieso, wiederum, sondert er sich von allen anderen ab, sobald es ums Verdauen und Ausscheiden geht?

Gut, damit will sich am Sonntagmorgen nun vielleicht niemand beschäftigen. Ich sehe das ein, möchte Señor Bucheli dann aber raten, ein anderes Canetti-Buch hervorzuholen. Der «geretteten Zunge» kann man nämlich entnehmen, dass unser helvetisches Kulturgut eine nicht unerhebliche Schuld an der Ausbildung von Canettis übergrossem Ego trägt. Der Mann schreibt es klar und deutlich: Es war der Pestalozzi-Schülerkalender, der die gewaltigen Ambitionen in ihm nährte.

Drei Jahre lang hat der Kalender den jungen Elias mit Bildern grosser Männer konfrontiert, ihm Gestalten wie Kolumbus, Humboldt, Defoe oder Cervantes vorgeführt, und das Resultat war klar: «Es ist schwer zu entscheiden, ob dieser Stimulus ein günstiger war, dass er mich zu grossmäuligen Hoffnungen bestimmte, ist nicht zu bezweifeln.» Richtig schlimm finde ich an dieser Passage bloss, dass Canetti just für die Schweizer Kalendergrössen wenig übrig hatte. Und dies, obwohl er an der Scheuchzerstrasse wohnte! Von Johann Jakob Scheuchzer könnte ich stundenlang schwärmen, aber leider muss ich jetzt los, denn bald schmilzt sonst das Butterschaf.

Karsamstag, 11. April

17:29 Uhr

Roman Bucheli · Ich frage mich, ob meine Kollegin Claudia Mäder noch immer ihren täglichen Canetti-Exerzitien obliege (obläge, würde Kollege Ribi mit seinem Hang zu rustikalen Konjunktiven hier gerne sagen). So etwas hatte sie zu Beginn dieses Tagebuchs jedenfalls einmal behauptet: Immer zwischen 08.55 Uhr und 09.10 Uhr sei sie gezwungen, in Elias Canettis «Blendung» zu lesen. Ich weiss nicht mehr, welche Bewandtnis es damit hat, irgend etwas mit Sonne und Sonnenschutz und blendendem Sonnenlicht. Egal.

Für Canetti habe ich nur ein mildes Lächeln. Mit ihm habe ich längst abgeschlossen. Kaum hatte ich ihn angefangen zu lesen, war auch schon wieder Schluss. Ich weiss, das ist rufschädigend. Immerhin hatte Canetti den Literaturnobelpreis bekommen, als man sich noch nicht dafür schämen musste. Von meiner Canetti-Abneigung werde ich vielleicht ein anderes Mal erzählen. Heute will ich schildern, wie ich ihm einmal fast begegnet wäre. Das muss zwei, drei Jahre vor seinem Tod 1994 gewesen sein.

Ich sass gedankenverloren im Tram vom Klusplatz hinunter in die Stadt, als im Römerhof ein Koböldchen einstieg. Das Gesicht kannte ich, und ich hätte schwören können: Das ist Canetti! Wenn ich mir nur nicht immer den Mann mit dem übergrossen Ego wie einen 1-Meter-80-Hünen vorgestellt hätte. Der grosse Kopf mit grauer Mähne passt, dachte ich, der kurze Rest darunter definitiv nicht.

Und während sich das Koböldchen doch tatsächlich gleich vor meine Nase setzte und ich darüber nachzudenken begann, was in einem solchen Fall mehr zählt: der grosse Kopf oder der kurze Rest darunter, sah ich aus dem Augenwinkel schräg gegenüber eine Frau, die den Kobold streng ins Auge fasste, aufstand und einen Schritt auf ihn zu machte. Ich ahnte, was kommen würde. Sie würde ihn ansprechen, und ich hätte Gewissheit.

Dann sagte sie, ganz begeistert: «Sind Sie nicht Herr Ramseier?» Vielleicht sagte sie auch Rüdisüli oder Röösli, ich erinnere mich nicht mehr so genau, ich war einfach baff. Und was sagte das Koböldchen, und zwar in einem wienerisch gefärbten Deutsch? «Nein, bin ich nicht.» Nicht unhöflich, aber doch etwas genervt. Dann die Frau, nun etwas lauter: «Nein, so etwas, jetzt dachte ich doch, Sie seien Herr Ramseier.» (Vielleicht sagte sie auch Rüdisüli oder Röösli.) Und er, etwas weniger höflich: «Tut mir leid.»

Und sie wiederum, noch lauter, so dass nun das ganze Tram hören musste, dass sich da einer stur weigert, Ramseier oder Rüdisüli oder Röösli zu sein: «Ich hätte schwören können, Sie seien Herr Ramseier.» (Oder Rüdisüli oder Röösli.) Man hätte denken können, da habe es eine enttäuschte Canetti-Leserin darauf angelegt, den Mann in aller Öffentlichkeit zu demütigen. Endlich kamen wir beim Kunsthaus an, und der Mann, der nicht Ramseier (und auch nicht Rüdisüli oder Röösli) sein wollte, entkam seiner Peinigerin.

Mir tat Canetti etwas leid. Ehrlich. Fast hätte ich seine Bücher wieder hervorgeholt. Aber so weit reichte das Mitleid dann doch nicht.

Karfreitag, 10. April

15:27 Uhr

Señor Bucheli · Gäbe es einen schöneren Nom de plume für einen verhinderten Baggerführer? Alle Lastwagenfahrer und vermutlich auch alle Baggerführer, die etwas auf sich halten, haben einen Künstlernamen. Ich kann zwar nicht Bagger fahren, aber längst träume ich nächtelang davon, wie ich riesige Erdmassen herumschaufle. Und an der Türe zu meinem Home-Office habe ich das Namensschild ausgewechselt. Genau, Señor Bucheli steht jetzt da. Ohnehin habe ich längst einen Antrag auf Namenswechsel gestellt, nachdem die Satire-Zeitschrift «Titanic» einmal geschrieben hatte, der Bucheli sei der beste Roman des Jahres. Nächstes Mal schicke ich den Bagger vorbei.

Mein Baggerführer hat natürlich auch einen Künstlernamen. Ich verrate ihn nicht, aber ich verrate Ihnen jetzt trotzdem etwas: Ich glaube, er ist ein Pedant. Ich sehe ja, dass er seinen Bagger keine Minute ruhen lässt. Selbst wenn es nichts zu tun gibt, schaufelt er Erde von hier nach da. Ich will nicht schlecht von ihm reden, aber ich glaube, er hat das Erdreich auf der winzigen Parzelle vor meinem Fenster bestimmt schon dreimal von der linken Seite auf die rechte und wieder zurück nach der linken Hälfte geschaufelt.

Ich beklage mich nicht, Gott bewahre. Mir soll's recht sein. Worüber sollte ich auch sonst schreiben? Vermutlich macht er das alles sowieso nur meinetwegen. Und flucht längst über mich, weil er die Herumfahrerei über hat. Aber wie gesagt, er ist auch ein Pedant. Schauen Sie mal, wie er sein Arbeitsfeld für die Feiertage hinterlassen hat:

Wir dachten immer, da werde ein Haus gebaut. Soll das jetzt ein Fussballfeld werden?

Wir dachten immer, da werde ein Haus gebaut. Soll das jetzt ein Fussballfeld werden?

rbl.

Schauen Sie sich den Boden rechts vom Bagger an? Alles platt gewalzt. Feinsäuberlich, pedantisch eben. Ich weiss nicht, wie oft er hin- und hergefahren ist, millimeterweise vorrückend. Als wollte er uns für die Feiertage ein Fussballfeld zurücklassen. Am meisten nervt das übrigens die Quartierkatzen, die nämlich in jeder Mittagspause und abends sowieso das Terrain erkunden, sobald der Bagger verstummt. Augenblicklich strömen sie von allen Seiten herbei und inspizieren, was da gerade herumsteht an schwerem Gerät und wie sich das Gelände verändert hat. Aber was sollen sie hier entdecken? Nada! Sie kommen, verdrehen die Augen, gähnen und trotten weiter. Trostlose Katzenostern.

Donnerstag, 9. April

17.10 Uhr

Damit verabschieden sich das barfüssige Frühstücksfernsehen und der längst Feierabend feiernde Baggerführer, die früh aufstehende und geblendete Canetti-Leserin und der nächtliche Safari-Tourist in die Osterfeiertage. Wir gönnen Ihnen (und uns) eine Verschnaufpause bis zur nachösterlichen Tagebuch-Kanonade. Damit Sie nicht vollends auf unseren geistigen Beistand verzichten müssen und wir nicht ganz aus dem Trott fallen, werden wir an dieser Stelle gelegentlich ein Canetti-Osterei legen.

Weder Fisch noch Vogel, aber sicher ein Ei.

Weder Fisch noch Vogel, aber sicher ein Ei.

Annick Ramp / NZZ
16.20 Uhr

Claudia Mäder · Vielleicht wollen Sie nichts mehr von Corona hören. Das wäre verständlich – aber auch etwas schade. Das Virus klingt nämlich ziemlich angenehm, irgendwie lieblich und entspannend. Ein Forscherteam des MIT hat die Proteinstruktur des Virus decodiert und die Schwingungen hörbar gemacht, die von den verschiedenen Aminosäure-Molekülen ausgehen. Wenn Sie über Ostern einmal richtig abschalten wollen, wird das mit dem Corona-Sound gewiss gelingen.

14.33 Uhr

Angela Schader · Roman Bucheli arbeitet zu Hause an einem Biedermeiertischchen. Thomas Ribi baut sein Arbeitsgerät jeden Morgen auf, jeden Abend ab. Ich bin also nicht allein mit dem eher karg bemessenen Platz im Home-Office. Es ist mittlerweile sogar recht funktional eingerichtet, mit einer Erweiterung in Gestalt einer zusätzlichen Dokumentenablage, mit dem Laptop-Ständer, der den mickrigen 13-Zoll-Bildschirm wenigstens auf eine vernünftige Höhe bringt, mit der unübersehbar placierten To-do-Liste.

Zudem aber verfügt mein Arbeitsplatz über ein Extra, das für Geld nicht zu haben ist, nämlich den Vogelgesang, der durchs offene Fenster in meinem Rücken dringt. Zwar schäme ich mich meiner diesbezüglichen Ignoranz: Die Amsel kann ich zur Not noch identifizieren, nicht aber den Besitzer jener helleren Stimme, deren atemberaubende Koloraturen mir heute im wahrsten Sinn den Kopf verdrehen – zu gern würde ich einen Blick auf ihn erhaschen.

Ein Distelfink ist’s zwar nicht, der draussen singt – aber Carel Fabritius’ Gemälde passt perfekt zu seinem kunstfertigen Lied.

Ein Distelfink ist’s zwar nicht, der draussen singt – aber Carel Fabritius’ Gemälde passt perfekt zu seinem kunstfertigen Lied.

Mauritshuis

Vergebene Liebesmüh. Aber vielleicht weiss ja das Internet Rat. Dort gibt es Vogelstimmen-Websites und Videos à gogo, unter anderem wartet die Vogelwarte Sempach mit einem ganzen Katalog von Vogelarten auf, die im städtischen Umfeld zu finden sind. Es könnte sich lohnen, einmal hineinzuhören . . . Aber da, welch schriller Misston im morgendlichen Konzert! Das ist garantiert kein Vogel – sondern das Über-Ich, welches mich zurückpfeift zu Arbeit und Pflicht.

13.29 Uhr

Sabine von Fischer · Vor allem vermisse ich den Stau, dieses hintergründige Brummen und Summen, das mir so oft den Soundtrack zum Schreiben geliefert hatte. Seit dem Lockdown rasen die Autos mit den erlaubten fünfzig Kilometern pro Stunde an der Wohnung vorbei, manche auch schneller, eines nach dem andern. Jedes einzelne ärgert mich. Keine Menschenstimmen sind mehr zu hören, auch keine Skateboards, die über den Asphalt krachen. Aber Automotoren, Lastwagenmotoren, Motorradmotoren, vor allem Automotoren: Manchmal verstreichen zwei, manchmal vier Sekunden zwischen ihrem Aufheulen, darunter liegt das stete Rauschen der Räder, die sich am Strassenbelag reiben.

Der Basler Architekt Ernst Spycher fragt mich, ob ich die Stille in der Stadt ertrage. Die Fotos, die er mir schickt, zeigen den menschenleeren Petersplatz in Basel am Morgen, am Mittag, am Abend. Ich denke, er vermisst die Menschen dort. Ich schulde ihm eine Antwort, doch ich weiss nicht, was ich ihm schreiben soll. Statt ihm zu antworten, tippe ich diesen Tagebucheintrag.

Blick aus dem Fenster auf den Petersplatz in Basel, aufgenommen von Ernst Spycher am Abend des 3. April 2020.

Blick aus dem Fenster auf den Petersplatz in Basel, aufgenommen von Ernst Spycher am Abend des 3. April 2020.

Ernst Spycher

In den Architektur-Blogs, die ich täglich lese, taucht nun vermehrt die Frage auf, ob es nicht besser wäre, die Menschen – natürlich in angemessenem Abstand gemäss dem Gebot der Distanznahme – in die Grünanlagen einzuladen, heraus aus ihren Wohnungen in den Frühling. Oh. Ich habe den Bus vergessen. Obwohl er sanft an- und abfährt, ebenmässiger laut als die kleineren Fahrzeuge, scheint auch er mir lauter als zuvor. Ich habe früher in Geschichten, sogar in wissenschaftlichen Papers erklärt, warum der Lärm das Leben einer Stadt ausmache. Wenn aber die Menschen unter Hausarrest stehen, bleiben nur die Geräusche, die eigentlich niemand hören will. Auch der Lärm verändert sich.

10.39 Uhr

Roman Bucheli · Gerade kam mir ein Band mit den betörenden Gedichten einer Schweizer Autorin in die Hände, die eigentlich gar keine Schweizerin mehr war, als sie zu schreiben begann. Denn die Tochter eines schon um 1900 herum nach Piemont ausgewanderten Zürchers und einer Italienerin heiratete 1944 einen italienischen Luftwaffenpiloten. Durch Heirat Italienerin werden und Schweizerin bleiben? Ging gar nicht damals! Man nahm ihr also das rote Büchlein ab, doch sie bestand ein Leben lang darauf, mit ihren Büchern eine Schweizer Dichterin zu sein.

Lina Fritschi wurde 1919 im Städtchen Pinerolo bei Turin geboren, dort hat sie eine kaufmännische Ausbildung erhalten, und dort lernte sie ihren späteren Ehemann kennen. Doch schon 1950 kam er bei einem Flugzeugabsturz in Südapulien ums Leben. Christoph Ferber, der Übersetzer und Herausgeber dieses Bandes, schreibt in seinem Nachwort, dass Lina Fritschi vermutlich durch dieses einschneidende Ereignis vollends zur Dichterin geworden sei. (Lina Fritschi: Ein anderer Traum / Un altro sogno. Zweisprachige Ausgabe. Limmat-Verlag, Zürich.)

Lina Fritschi habe schon immer gelesen, schreibt Ferber, vor allem Dickinson und Quasimodo, Dylan Thomas und Rimbaud. Doch nun formen sich ihre Gedanken und Bilder zu lakonisch nüchternen Versen. Ein frühes Gedicht passt auf seltsame Weise in unsere Zeit, es heisst «Die Gnade».

Lina Fritschi: «Die Gnade».

Lina Fritschi: «Die Gnade».

Limmat-Verlag

Bereits Mitte der achtziger Jahre begann eine schleichende Erblindung, die bis zu Lina Fritschis Tod 2016 zur vollständigen Blindheit führte. Die Krankheit und der nahende Tod werden in der letzten Phase ihres Schaffens zu einer Konstante der poetischen Reflexion. Poesie sei, so heisst es einmal bei ihr, «die extremste Form von Kenntnis». Wenn es für Gedichte ganz allgemein gilt, dass wir uns und die Welt in ihnen neu kennenlernen, dann gilt es ganz besonders für das Werk von Lina Fritschi. In dem späten Gedicht «Wie viel Gepäck?» sehen wir, was Dichtung vermag: Sie fügt die grossen Fragen zu stillen Bildern, die so einfach sind, wie sie zugleich rätselhaft bleiben.

Lina Fritschi: «Wie viel Gepäck?».

Lina Fritschi: «Wie viel Gepäck?».

Limmat-Verlag
10.00 Uhr

Ueli Bernays · Gestern Abend war ich einmal mehr nicht im Restaurant mit Freunden, ich tanzte wiederum auf keiner Party, berauschte mich an keinem Konzert und landete auch nicht im Kino. Trotzdem war ich seit längerem wieder einmal im Ausgang, wie man so sagt; wobei das banale Wort meinem Abenteuer in keiner Weise gerecht wird.

Zu später Stunde, als die meisten Zürcher wohl einnickten vor ihren Büchern und Bildschirmen, schläfrig ihre Zähne putzten oder bereits unter warmen Bettdecken verschwanden, begab ich mich auf eine städtische Safari, auf einen Streifzug durch Zürichs Wildbahn.

Mein Bruder ist nicht Wildhüter, aber er wohnt am richtigen Ort. In der Innenstadt mag die Natur gänzlich unter dem Boden der Zivilisation verschwunden sein. In den Aussenbezirken aber, wo die City in den letzten Jahrzehnten amöbenhaft ihre Gliedmassen ausgestreckt hat, kommt es da und dort zu Überlagerungen von modrigen Biotopen und modernen Dienstleistungskomplexen, zu brüchigen Verwerfungen zwischen Neubauten und alten Brachen. In solchen Zonen können Tiere noch Unterschlupf finden. In einer solchen Zone hat mein Bruder eine Wohnung gefunden.

Als wir die Spaghetti bolognese verdrückt und eine Flasche Rotwein geleert hatten, rückten wir aus in die Finsternis. Aus der Entschlossenheit unserer Schritte sprachen die Spannung und Vorfreude von Jägern. Wir passierten einen weiten Innenhof, überquerten eine Ausfallstrasse, wir liessen den Thai-Take-away hinter uns, um dann auf einen asphaltierten Feldweg einzubiegen. Die Dunkelheit wird hier in regelmässigen Abständen von Strassenlaternen durchbrochen, die den nächtlichen Spaziergängern die Furcht vor Räubern oder Bären nehmen sollen, aber auch den Blick freigeben auf ein kanalisiertes Bächlein, das parallel zum Weg vor sich hin fliesst.

Das bisschen Feuchtigkeit sorgt immerhin für Leben. Das merkte ich nicht nur an den Mücken, die uns umschwärmten, sondern auch am Geflatter von Fledermäusen, die hier reiche Beute finden. In der Ferne hörte man inständiges Quaken von Fröschen, sonst herrschte eine tiefe Stille, der wir uns so geduldig wie konzentriert unterwarfen. Wir hatten ein Ziel, mein Bruder sollte mir etwas zeigen – ein Tier. Ein Tier, das ich letztmals vor Jahren in den ausladenden Wäldern des Algonquin-Naturreservats in Kanada erspäht hatte.

Plötzlich blieb der Bruder stehen, er wies hinunter in den Kanal, wo sich allerdings bloss eine Ratte durchs Wasser pflügte. Ratten gebe es hier ziemlich viele, erklärte er; auch grosse Bisamratten. Damit gab sich mein Jagdinstinkt so wenig zufrieden wie mit den Enten, die wir später noch entdeckten.

Als wir vor uns eine Gruppe von Gestalten bemerkten, die bewegungslos auf den Bach starrten – teilweise mit Kamera und Stativ bewaffnet –, erhöhte sich mein Puls. Wortlos näherten wir uns der Stelle. Mein Blick wanderte über die dunkle Furche des Kanals, bis er ein bewegtes Glänzen bemerkte, den Abglanz eines nassen Pelzes. Erst allmählich aber konnte ich in der Dunkelheit des Wassers die Form des Bibers begreifen. Ohne Angst und Respekt vor den verschwiegenen Zuschauern kletterte er die gegenüberliegende Böschung empor, um gemütlich an einem Ast zu knabbern.

Zürich, ein schmutziger Kanal, ein wilder Biber! Ich hatte es meinem Bruder kaum geglaubt, jetzt konnte ich mich mit eigenen Augen versichern. Es kam noch besser. Es schwamm auch noch ein zweiter Biber hinzu, das Weibchen vielleicht (oder umgekehrt), dem wir auf seinem Weg folgten.

Hier hat sich der Biber versteckt.

Hier hat sich der Biber versteckt.

ubs.

Fünfzig Meter weiter mündete der Kanal in einen breiteren, von Büschen und Bäumen gesäumten Graben. Es stank hier zwar nach Abwasser. Aber dass es sich die Zürcher Biber gerade hier gemütlich gemacht haben, erkannte ich an den gefällten Bäumen, an den angenagten Ästen und einem Damm, unter dem das mutmassliche Biberweibchen schliesslich verschwand.

Vor Jahrzehnten hat Franz Hohler die allmähliche Rückeroberung der Stadt durch Wildtiere heraufbeschworen. Und gewiss wäre die Lage jetzt im Zeichen der Corona-Krise günstig für weitere, entscheidende Vorstösse. Hat der Biber die Chance quasi beim Schopf gepackt? Schön wär’s! Es ist vielmehr so, dass unsere gnadenlose Zivilisation selbst scheue Wesen zur Anpassung zwingt. Ich hoffe nun sehr, dass die Zivilisierten, wenn sie bald wieder aus ihren Löchern steigen werden, den Biber in Ruhe lassen und ihm nicht auf den Pelz rücken.

09.10 Uhr

Claudia Mäder · Jawohl, pünktlich um acht Uhr muss es losgehen mit der Arbeit – Thomas Ribi hat es geschrieben, und er hat gewichtige literarische Figuren auf seiner Seite.

Solange die Sonne schien und mir morgens eine Viertelstunde lang die Sicht auf den Bildschirm nahm, bin ich meinem Vorsatz gefolgt und habe in Canettis «Blendung» gelesen (siehe 31. März, 09.35 Uhr). Dank den Wolken, die sich heute endlich einmal zeigen, kann ich nun aber auch zwischen 08.55 und 09.10 Uhr wieder wichtigen Arbeiten nachgehen – zum Beispiel ist es mir jetzt möglich, im Tagebuch über Canettis «Blendung» zu schreiben.

Der schönste Blendschutz, der sich denken lässt.

Der schönste Blendschutz, der sich denken lässt.

cmd.

Es ist erstaunlich, was man bei der Wiederlektüre bekannter Bücher an Neuem entdeckt, wie man sich über frühere Anstreichungen wundert und sofort gültigere macht. Dass Professor Kien, Sinologe, Bibliomane und Protagonist des Buches, auf einen strikten Arbeitsbeginn pocht, hat mir jetzt, da wir als unentbehrliche Informationslieferanten fungieren, zum Beispiel auf ganz neue Weise eingeleuchtet: «Punkt acht begann die Arbeit, sein Dienst an der Wahrheit.»

Bevor man in diesen wichtigen Dienst tritt, kann man sich natürlich noch die eine oder andere Ablenkung gönnen – die einen mögen sich beim Frühstücksfernsehen verlustieren, andere ziehen es vor, mit ausgewählten Büchern durch die noch leeren Strassen zu promenieren. Auf diesen morgendlichen Spaziergängen führt Kien, auch das bemerke ich jetzt zum ersten Mal, ein Journal mit sich herum. Darin notiert er Dinge, die ihm im Alltag auffallen, doch ich weiss nicht recht, ob wir ihm auch hierin ähneln wollen. Sein Heft trägt den Titel «Dummheiten» und ist schon zu Beginn des Buches halb voll.

Diese Passage brachte mich länger ins Grübeln, und überhaupt geht es mit der Lektüre nur langsam vorwärts. Gestern morgen bin ich erst auf Seite 49 angekommen. Aber ich halte mich ja auch an die Haushälterin Therese, die zu Kien etwas sagt, was für die «Blendung» wie für wenige andere Bücher stimmt: «Ich lese jede Seite ein Dutzend Mal, sonst hat man nichts davon.»

08.54 Uhr
So würde Frühstücksfernsehen aussehen. Aber woher soll ich wissen, wie Frühstücksfernsehen ist, ich hab’s schliesslich noch nie geschaut.

So würde Frühstücksfernsehen aussehen. Aber woher soll ich wissen, wie Frühstücksfernsehen ist, ich hab’s schliesslich noch nie geschaut.

rib.

Thomas Ribi · Kollege Bernays hat ja völlig recht. Nachmittagsfernsehen, das klingt, als ob der Ständer mit der trocknenden Wäsche mitten im Wohnzimmer stünde, der Aschenbecher von Zigarettenstummeln überquölle und das Abendessen aus Chips und Dosenbier bestehen würde. Da klingt Frühstücksfernsehen doch ganz anders. Hell, fröhlich, einladend, ich bin fast versucht zu sagen: wohnlich. Wie wenn es keinen schöneren Einstieg in den Tag gäbe.

Übrigens, mit der Verbform «fernzusehen» geht es mir gleich wie mit «staubzusagen», Sie erinnern sich (Mittwoch, 8. April, 09.34 Uhr). Vielleicht müsste es ja korrekterweise «Fern zu sehen» heissen, wer weiss. Mir würde das gefallen. Ich hätte daran fast so grosse Freude wie an der Form «überquölle» – die übervollen Aschenbecher im ersten Abschnitt habe ich nämlich nur erwähnt, um diese schöne Verbform verwenden zu können.

«Fern zu sehen» also: Klingt doch grossartig. Allein das grossgeschriebene «Fern» weckt in mir das Gefühl «bedeutsamer Weitläufigkeit», wie es bei Thomas Mann heisst. «Gefernseht» kann man definitiv nicht sagen. Das verstösst sogar gegen mein Sprachempfinden. Anderseits, für den Schrott, den sich Ueli Bernays gestern Nachmittag angeschaut hat, wäre es wahrscheinlich eine durchaus passende Bezeichnung. Dann doch lieber staubsaugen.

Aber eben, Frühstücksfernsehen. Ich gestehe, seit ich den Begriff zum ersten Mal gehört habe, spiele ich mit dem Gedanken, einmal zu schauen, wie das wäre: am Morgen aufwachen, dann sofort den Fernseher einschalten und einfach drauflosglotzen. Muss eine Mischung aus Fegefeuer und Vorgartenidyll sein, mit Kaffee und Gipfeli. Vielleicht hätte ich dann endlich einmal die Chance, Beatrice Egli singen zu hören.

Aber selbstverständlich ist zurzeit an Frühstücksfernsehen nicht zu denken. Jetzt wird gearbeitet. Pünktlich um acht wird alles Essbare vom fernsehlosen Frühstückstisch geräumt, der Laptop aufgestartet, und dann geht’s los. Struktur muss schliesslich sein. Und Haltung auch. Sie sehen es zwar nicht, aber ich trage immer ein sauber gebügeltes Hemd, wenn ich vor dem Computer sitze. Ehrlich, und alle paar Tage wird die Hose gewechselt. Vielleicht spüren Sie’s ja den schönen Verbformen in meinen Texten an, dass ich nicht im Pyjama schreibe. Wäre zu hoffen.

Doch faltenfreies Hemd hin, saubere Hose her, zu einem kann ich mich nicht überwinden: Socken anzuziehen. Selbst wenn es so schöne wären, wie Kollegin Claudia Mäder sie trägt, mit U-Booten und bunten Streifen drauf (Mittwoch, 16.45 Uhr), es bliebe eine Qual. Nur Schuhe sind noch schlimmer, und die schönste Annehmlichkeit des Home-Office besteht für mich darin, dass ich barfuss zur Arbeit gehen kann, was man sich im «richtigen» Büro dann doch nur selten einmal gönnt. Dabei ist der Mensch nur barfuss ganz Mensch. Der Fuss will schliesslich frei sein, und man spürt die Welt auch mit den Sohlen. Aber vielleicht ist es mit dem Barfusslaufen wie mit dem Frühstücksfernsehen. Solange man es noch nie ausprobiert hat, weiss man nicht, wovon man spricht.

Mittwoch, 8. April

16.45 Uhr

Claudia Mäder · Heute Nachmittag stand ein grosses Abenteuer an. Ich will nicht bestreiten, dass auch eine Staubsauger-Tour durchs Home-Office aufregend sein kann: Besonders wenn man ab und zu die Bürsten wechselt und mal auf glatten Böden herumflitzt, mal über Teppichbeläge streift, ist so eine Fahrt gewiss ein Erlebnis erster Güte. Aber draussen über geteerte Strassen zu rollen – das ist nun doch eine andere Liga. Und wie herrlich ist es erst, wenn man den Fahrtwind um die Nase spürt, weil man spät dran ist und kräftig pedalen muss!

Ja, das kam schon lange nicht mehr vor. Zu Hause am Bildschirm ist man immer pünktlich, aber heute Nachmittag, da hatte ich einen echten Termin mit richtigen Menschen. Also wollte ich mich auch verhalten wie ein normales Wesen, doch so leicht ist das nach Wochen des Rückzugs nicht mehr zu machen. Schuhe zum Beispiel sind mir völlig fremd geworden. Ich weiss, man stülpt sie über die Füsse, ganz ähnlich wie die Socken, in denen ich mich den ganzen Tag bewege, aber anders als diese flauschigen Freunde drücken und zwicken die blöden Schuhe an etlichen Stellen.

Nichts macht den Fuss so glücklich wie eine Socke (hier: Modell Yellow Submarine).

Nichts macht den Fuss so glücklich wie eine Socke (hier: Modell Yellow Submarine).

cmd.

Kann ich mich vielleicht in den ausgelatschten Einkaufsturnschuhen zum echten Termin mit den richtigen Menschen wagen? Ja, echte Menschen haben jetzt gewiss ganz andere Probleme als meine Schuhe, also an den Fuss mit dem Turnschuh, nein, schon mein eigenes Auge erträgt die Formlosigkeit nicht, also weg mit dem Turnschuh, her mit dem nächsten Paar, was, Pelzbesatz, bei 20 Grad, sicher nicht, weg auch damit und auf zum nächsten Versuch – und immer so fort bis fast zum Nervenzusammenbruch.

Trotzdem habe ich es noch knapp zum Termin geschafft, zum Glück, denn es ist richtig schön, solch echte Menschen zu treffen, und ich will sie auch unbedingt bald wiedersehen, denn vor lauter Aufregung habe ich völlig vergessen, auf ihre Schuhe zu achten.

15.57 Uhr

Ueli Bernays · Die Arbeitszeit ist kurz geworden und der Tag umso länger. Der Morgen hat zwar einiges zu bieten: eine ausgiebige Dusche, zwei Tassen Kaffee und ein üppiges Frühstück, das nun regelmässig mit honigsüssen Pancakes angereichert wird wie sonst an trüben Sonntagen. Aber es will keine rechte Freude aufkommen, denn die Welt scheint ungerecht. Einer kriegt bloss zwei grosse Stücke, während ein anderer drei kleinere verschlingt. So mischt sich in das verschlafene Mampfen ein bedrohliches Murren.

Die Stimmung bleibt auch in den folgenden Stunden entzündlich. Die zivilisierten Primaten hocken unwillig an Bildschirmen und versuchen, ihren wenigen Pflichten nachzukommen – statt bereits zu gamen und zu glotzen. Dann und wann stehen sie auf und tigern hin und her zwischen Stube und ihren Käfigen. Wenn sich ihre Wege kreuzen, knurren sie; manchmal wird auch gefaucht.

So ziehen sich die Stunden hin. Bald aber meldet sich – ein treuer Begleiter – bereits wieder der Hunger. Eigentlich schleppt man seit dem üppigen Frühstück Kohlenhydrate für eine ganze Woche mit sich herum. Und wenn sich nun der eine Suppe macht, der andere Chicken-Nuggets in den Ofen schiebt und ein Dritter Geld sammelt für einen Ausflug zum Take-away, geht es nur nebenbei um Genuss und Energie – vor allem möchte man eine innere Leere stopfen.

Nach dem Mittagessen verliert sich der Rhythmus gänzlich, die Zeit wird dickflüssig wie Melasse und versumpft in ausladenden Mäandern. So gähnt nun die Musse. Man könnte jetzt lesen, üben, trainieren zeichnen . . .

In seiner Talk-Runde diskutiert Marco Schreyl wichtige Fragen des Lebens.

In seiner Talk-Runde diskutiert Marco Schreyl wichtige Fragen des Lebens.

ubs.

Ach, wann kommt endlich wieder mehr Zug und Zweck zurück ins Leben? Weiss die Television darauf eine Antwort? Abermals mahnen Talking Heads mit gedämpfter Stimme und väterlicher Sorge zur Vorsicht. Ein ritueller Singsang, eine tägliche Elegie. Die Finger machen sich irgendwann selbständig. Sie spielen mit den Knöpfen der Fernsteuerung, so dass man unversehens im regulären TV-Nachmittagsprogramm landet – sozusagen auf dem Abstellgleis menschlicher Kultur.

Nachmittagsfernsehen! Allein das Wort tönt nach einsamer Verzweiflung und No-Future; es erinnert auch an den Horror Vacui, der einst auf die Uni-Abschlussprüfung folgte. Vielleicht bietet das Nachmittagsfernsehen nun aber doch ein bisschen Zerstreuung? Für einen Test sind die Umstände jedenfalls günstig.

Der Schweizer Kanal zeigt «Hinter den Hecken». Die Sendung kann nicht sehr aktuell sein, denn ein Grossvater erklärt seinen Enkeln, wie der Mensch pflanzt und erntet; ein Gärtner bohrt enthauptete Blumenstecklinge in Töpfe, damit sie ohne Schaden überwintern. Über Österreich 1 fegt gleichzeitig ein «Sturm der Liebe» – ein Schmachtfetzen, in dem nach Herzenslust und mithin ungehemmt geküsst und geschmust wird. Das ist jetzt gerade schwer auszuhalten.

Lieber verweile ich bei RTL. Der sympathische Herr Schreyl moderiert eine lockere Talk-Runde, die einen in die neunziger Jahre zurückversetzt, in die Zeiten eines Hans Meiser, einer Arabella Kiesbauer. Das Thema der Sendung? Nein, nicht das eine. Sondern: «Teenie-Mütter – aber wir haben es trotzdem geschafft». Larissa ist zweiundzwanzig und hat schon zwei Kinder. «Ich bereue das nicht, dass ich meine Kinder hab!» Das Publikum applaudiert. «Der Vater war dagegen, er hat sich dann aber in die Enkelin verliebt.» Tosender Applaus. «Gute Verbindungen zwischen den Eltern und ihrer Tochter sind wichtig», sagt die Psychologin. Wieder wird eifrig geklatscht.

Für den Höhepunkt sorgt im SRF-Kinderfernsehen der Moderator Pätagei. Er ist nach Südafrika gereist, um Elefanten aufzusuchen. Zuerst erspäht er einen im fernen Gebüsch, später kommt ihm ein eindrückliches Exemplar auf dem Waldweg frontal entgegen. Schon scheint Pätageis schiere Existenz in Gefahr, da schiebt sich ein bewaffneter Wildhüter ins Bild. Vielleicht hat auch der Dickhäuter die Flinte entdeckt. Jedenfalls macht er plötzlich doch einen Bogen um den jungen Naturforscher. Mir bleibt der Atem weg. So eine Safari auf freier Wildbahn, das wäre für mich genau das Richtige.

14.13 Uhr

Roman Bucheli · Zu Staub fällt mir übrigens auch etwas ein. Das passt jetzt nicht wirklich zu den Problemen meiner Kolleginnen und Kollegen (siehe unten, was die Leute nur immer für Probleme haben). Es passt dafür umso besser in unsere Zeit, na ja, nicht in die Jahreszeit (etwas zu warm derzeit), aber ich meine, in diese seltsame Corona-Zeit und zu dem, was uns noch blühen könnte.

Weiss eigentlich noch jemand, was eine Roger-Staub-Mütze ist? Mir ist sie noch so gegenwärtig, als hätte ich gestern zum letzten Mal eine getragen. Unsere Mütter strickten daran einen ganzen Sommer lang, wenn sie geschickt waren, sonst den Herbst noch dazu. Und kaum lag der erste Schnee, setzten wir die Mütze, die eigentlich eher einem wollenen Helm glich, auf.

Die Idole unserer Jugendtage: Roger Staub mit der nach ihm benannten Mütze (links) und Toni Sailer 1964 in Arosa.

Die Idole unserer Jugendtage: Roger Staub mit der nach ihm benannten Mütze (links) und Toni Sailer 1964 in Arosa.

Comet Photo / ETH-Bildarchiv

Das war aber nur der Anfang. Denn die Mütze war – heute würde man sagen: convertible! Beim Skifahren zum Beispiel, da schneit es bekanntlich manchmal (jedenfalls war das früher so, heute gibt’s ja den Schnee nur noch aus den Kanonen, aber dagegen hilft ein Helm auch), also Schnee jetzt, und das brennt dann so auf der Haut, wenn man die Hänge runterrast und es einem die Schneekristalle in die Backen haut. Dann zack, eine Handbewegung, und zack wurde der Convertible-Teil, sozusagen das Cabriolet-Verdeck, über das Gesicht heruntergezogen. Es blieb dann nur noch ein Augenschlitz offen, Nase und Mund und Backen waren geschützt vor dem fiesen Schnee.

Man hätte glatt einen Banküberfall verüben können. Daran dachten wir damals noch nicht, dafür taugte das multifunktionelle Cabriolet-Verdeck auch als Taschentuch. Das war dann nach einem harten Tag Arbeit auf der Skipiste nicht mehr so appetitlich, aber was kümmerte es uns! Wären wir in Österreich (Schutzmaskenpflicht), wir würden das Teil auf der Stelle wieder ausgraben und ab Ostern mit der Mütze durch die Gegend laufen. Und käme uns dann jemand entgegen, zum Beispiel der Kanzler Kurz auf Kontrollgang, zack – und runter mit dem Cabriolet-Verdeck.

12.21 Uhr

Angela Schader · Jetzt ist es klar und bewiesen: Die Feuilletonredaktion ist ein eingeschworenes Team, sogar im Nebensächlichen funktioniert die Gedankenübertragung. Denn während Thomas Ribi heute früh der richtigen Perfektform für das Verb staubsaugen wie auch den Verdriesslichkeiten der genannten Tätigkeit nachgrübelte, gingen meine Gedanken ganz ähnliche Wege.

Im heiteren Morgenlicht wollte ich mich an die Arbeit setzen – und da war er wieder. Schon wieder. Blickte mir fahl und matt von der Oberfläche des Sichtmäppchens entgegen, das ich doch erst am Montagabend feucht abgewischt und zartfühlend – man will ja der statischen Aufladung nicht Vorschub leisten – mit einem Handtuch trockengetupft hatte. Dieser Staub. Die Nemesis des Zimmers, in dem ich meine Nächte und derzeit auch einen Grossteil des Tages verbringe.

Es ist nicht der gewöhnliche Hausstaub. Den wische ich ebenfalls häufiger als sonst von der Tischplatte, damit sie immer reinlich und einladend strahlt. Dieser andere Staub aber, dem ich in keiner früheren Bleibe begegnete und dessen Reich sich einzig auf dieses Zimmer beschränkt, ist fies. Weiss, ultrafein, beharrlich sich an die Materie (welche auch immer) heftend, und – ja, irgendwie muss er lebendig sein. Wie brächte er es sonst fertig, überall, einfach überall hinzukriechen? In Schränke. In hinterste Schubladenecken. Sogar an Schubladenböden setzt er sich fest. Klettert grinsend an Kleidungsstücken empor, denen ich extra eine Hülle übergestülpt habe, erobert das Futter sittsam zugeknöpft im Schrank hängender Jacken.

Wenn ich mich schon tage- und wochenlang auf diese vier Wände beschränken muss, dann wäre ich ihm eigentlich gern einmal auf die Schliche gekommen. Ob er sich aus dem Anstrich von Wänden und Zimmerdecke löst? Ob irgendwo ein Dschinn hockt, der ihn stillvergnügt – und am allervergnügtesten, wenn ich wieder mit Wisch- und Handtuch zugange bin – in die Luft bläst? Aber keine Chance. Keine heisse Spur. Sichtbar wird das Übel erst, wenn es sich wie ein Leichentuch über meine Sachen gebreitet hat.

PS: Sollte der 8. April vielleicht zum Tag des Staubes erhoben werden?

11.27 Uhr
«Paradise Lost» – der Titel von Miltons grossem Gedicht kommt einem hier unweigerlich in den Sinn.

«Paradise Lost» – der Titel von Miltons grossem Gedicht kommt einem hier unweigerlich in den Sinn.

as.

Angela Schader  ·  Zweck dieses kollektiven Tagebuchs ist es ja eigentlich, Heiterkeit, Gelassenheit und Zuversicht zu verbreiten. Tut mir leid, im Moment geht das nicht. Weil mich nämlich jedes Mal das Heulen ankommt, wenn ich an diesem verlorenen Paradies vorbeigehe. Der kleine Bücherladen lag nicht weit von meiner Wohnung, eine echte Quartierbuchhandlung, die neben Lesestoff auch schöne Karten, Geschenkpapier und allerlei Kleinigkeiten anbot; sogar die geliebte blauweisse Badetasche mit den drei dicken Fischen aussen drauf habe ich dort gekauft.

Und nun also: das Ende. Natürlich wird der Entscheid zur Schliessung schon vor der Corona-Krise gefallen sein; aber in der dunklen, öden Leere unter der Aufschrift «Zum Bücherparadies» wohnt jetzt gewissermassen die Sorge um mein ganzes kulturelles Herzland. Um die Buchhandlungen, die mit Hauslieferdienst und telefonischer Kundenberatung ums Überleben kämpfen. Um die unabhängigen Kleinverlage, bei denen vorwärts und rückwärts kalkuliert werden muss, bis die Köpfe rauchen. Um die Autorinnen und Autoren, die zwar zum Teil auf Online-Formate ausweichen – allerdings ohne das Honorar, das eine Live-Lesung einträgt, ohne den direkten Publikumskontakt, der sie attraktiv macht.

Bin ich zu schwarzseherisch, wenn mir bang ist um die Biotope der Literatur? Dann sehen Sie es mir bitte nach, es ist nicht ganz einfach, aus dem finsteren Ladeninneren eine Frohbotschaft zu lesen. Und läge ich falsch mit meinen Befürchtungen – das wäre wahrhaft das Paradies!

11.15 Uhr

Roman Bucheli  ·  Halleluja und ein Hoch auf die Bagger-Medizin! Ich bin gerettet, weil der Bagger gerettet wurde (siehe unten 08.29 Uhr). Der Bagger-Doktor hat unter Beizug von schwerstem chirurgischem Besteck (einiges ging dabei auch drauf) das Schlimmste abgewendet. Und der unerschrockene Patient fuhr unter Fanfaren direkt aus der Krankenstation noch mit etwas Mull wie mit herumflatternden Siegesfahnen behangen unverzüglich zurück in sein Einsatzgebiet. Nun schaufelt er, als hätte er nie etwas anderes gekannt. Und heult und poltert und donnert, dass mein Herz die schönsten Sprünge macht.

09.34 Uhr

Thomas Ribi  ·  Ich habe staubgesaugt. Sagt man so? Oder muss es heissen: Ich habe Staub gesaugt? Ich habe gestaubsaugt, könnte man auch sagen. Das wäre zweifellos die hässlichste Variante, aber genau deshalb wäre sie dem Übel, dem ich zu Leibe zu rücken versucht habe, mehr als angemessen. Denn da ist keine Klage zu laut und kein Jammer zu übertrieben: Staub ist eine Plage. Er trübt die Freude am Dasein im ganz wörtlichen Sinn. Und gegen ihn ist kein Kraut gewachsen.

Also, ich habe gestaubsaugt. Und eigentlich dachte ich, ich hätte das erst gerade getan. Nur, was da alles auf dem Boden lag, unter dem Tisch, in den Ritzen, neben dem Sessel, vor dem Fenster, auf dem Bücherregal, auf dem Lampenschirm, vor der Truhe, in den Kissen – es sah aus, als ob es Wochen her wäre, seit das letzte Mal geputzt wurde. Zugegeben, die fiese Frühlingssonne tut das Ihre dazu. Schräg scheint sie herein und beleuchtet die Szenerie so unbarmherzig, dass man verzweifeln könnte. Fenster putzen müsste ich auch wieder mal.

Sehen Sie hier Staub? Ich auch nicht. Aber er ist da. Hinterhältig und hartnäckig.

Sehen Sie hier Staub? Ich auch nicht. Aber er ist da. Hinterhältig und hartnäckig.

rib.

Ich war erschüttert über das, was sich da schon wieder angesammelt hatte: Fläuschen, Fussel, Krümel, Flöckchen, Brösel, Körnchen, Fitzelchen, also lauter Zeug, das auf einem anständigen Boden nichts zu suchen hat! Und ich musste an Wilhelm Genazino denken. Er hat den Staub verstanden wie kein Zweiter. Staub, schreibt er in einem seiner tollen Bücher, sei nicht Schmutz. Nein, Staub und Schmutz seien verschiedene Dinge. Ganz verschieden. Das macht die Sache aber nicht besser.

Staubig, sagt Genazino, werde etwas von selber. Schmutz ziehe man sich zu. Wenn ich zum Beispiel über die Baustelle vor Kollege Buchelis Haus liefe, dann wären meine Schuhe schmutzig. Damit sie staubig werden, reicht es, wenn ich sie ein paar Stunden irgendwo stehen lasse. Dem Staub haftet etwas Unheimliches an. Staubig würden die Dinge, sagt der Metaphysiker Genazino, durch die Teilhabe an dem grossen Staub, in dem wir alle leben müssten.

Der grosse Staub. Das ist es! Man kann nichts gegen ihn tun. Er ist auch dort, wo man ihn zunächst gar nicht sieht. Er ist überall. Und ist nicht wegzubringen. Von Zeit zu Zeit wirbelt man ihn auf, so dass er sich aufs Neue ablagern kann. Vielleicht schaue ich dabei einmal zu. Es müsste ein tolles Schauspiel sein.

08.29 Uhr

Roman Bucheli  ·  Das ist jetzt mein Super-GAU. Der Bagger ist kaputt. Tote Hose. Rien ne va plus. Alles still und stumm und traurig schlapp. Der Ausleger hängt herunter, kraftlos und saftlos. Der Baggerführer raucht Kette. Rauft sich verzweifelt die Haare. Alle stehen ratlos um das ruhende Monster herum, das plötzlich ganz klein und zittrig geworden ist. Endlich eilt der Bagger-Doktor in seiner leuchtend roten Ambulanz heran. Aber auch er schüttelt nur den Kopf. Verwirft die Hände. Und schreitet stracks zur Notoperation.

Ein Assistent hockt rittlings auf dem Ausleger, sei’s zur Beruhigung des Baggers, sei’s zur Unterstützung des Doktors. Und der Baggerführer raucht unentwegt, rudert mit den Armen. Aber der Doktor schraubt und hämmert, bohrt und flucht, eilt zurück zur Ambulanz, um weiteres Gerät heranzuschleppen. Nun legt er einen Bypass, gar einen zweiten, hier braucht’s noch einen Schlauch, da eine Klemme, etwas Gaze auch noch, viel Gaze, klafterweise Gaze.

Ach, das sieht düster aus. Ich fürchtete mich vor Karfreitag. Wenn hier alles ruhen würde, dann Samstag, Ostern, Ostermontag. Vier stille Tage! Schlimm genug. Aber nun soll heute schon Schluss sein? Und was ist mit mir? Hat denn niemand Erbarmen mit mir? Was soll jetzt aus mir werden?

Ich gehe jetzt ans offene Fenster und klatsche. Mal sehen, ob das hilft. Oder besser: Ich gehe gleich runter und nehme auch einen Hammer mit und werde den Doktor anfeuern.

06.20 Uhr
Nein, nichts ist super an diesem Mond.

Nein, nichts ist super an diesem Mond.

cmd.

Claudia Mäder  ·  Wie soll das alles nur weitergehen? Seit einer Stunde bin ich besorgter denn je. Angefangen hat das Elend natürlich schon lange zuvor, genau zehn Stunden ist es jetzt her. Um 20.27 Uhr goss ich frisch gekochte Pasta ins Abtropfsieb, da fiel mir siedend heiss ein Versäumnis ein. Es gibt ja wahrlich nicht viele himmlische Events in diesen Tagen – und nun hatte ich tatsächlich den auf allen Kanälen angekündigten Supermond vergessen! Kurz nach zwanzig Uhr wäre das Spektakel zu sehen gewesen, aber in meinem leeren Kopf kam der Vollmond einfach nicht vor, Pasta und basta – mehr tat sich da nicht mehr.

Später aber sah ich plötzlich einen Silberstreif am Horizont: Laut Internet erreichte der Mond erst um 4.35 Uhr seine ganze Grösse, und in den frühen Morgenstunden, hiess es bei GuteFragenRundUmDenVollenMond.net, sei der Supermond gar noch superber als am Abend vorher. Also stellte ich sofort den Wecker, unnötigerweise, denn die Aufregung hielt mich sowieso wach.

Ab 4 Uhr tappte ich nervös durch die Wohnung. Um 5 Uhr legte ich mich enttäuscht wieder hin. Und dann begannen die Sorgen zu nagen: Was würde unser Bildchef zu dieser lächerlich verzerrten Mondkugel sagen? Ich habe wirklich alles versucht, um sie super zu inszenieren, trotz grösster Gefahr (siehe 7. April, 14.05 Uhr) bin ich sogar in den Garten geschlichen. Aber es war einfach nichts zu machen. Nun geht bald die Sonne auf, mir fallen die Augen zu, und gewiss werde ich heute wegen mangelhafter Tagesleistung aus unserem Tagebuch entlassen.

Dienstag, 7. April

15.13 Uhr

Roman Bucheli · Es gäbe zu Ottilia Giacometti (siehe unten 09:16 Uhr) noch vieles zu sagen. Ich kann nur hoffen, dieses Home-Office-Gehampel dauere noch eine Weile und ebenso lange dieses Tagebuch. Und ich gelobe, am Ende werde ich von meinem Baggerführer nicht mehr erzählt haben als von der verehrten Ottilia.

In der leider geschlossenen Ausstellung im Kunsthaus Zürich sind nicht nur die von Vater und Bruder gemalten Porträts zu sehen. Gezeigt werden auch private Filmaufnahmen aus den frühen dreissiger Jahren, die der spätere Ehemann Ottilias gemacht hatte. Auf diesen zum Teil etwas verwackelten Bildern erlebt man nun die Giacomettis und ihre Freunde ganz leibhaftig. Sie segeln über den Silsersee, tummeln sich in den Gärten des Palazzo Salis in Soglio oder besteigen halsbrecherisch, alle mit einem Seil um den Bauch gesichert, irgendwelche Bergzacken.

Unbekannter Fotograf: Alberto und Ottilia Giacometti in den Wäldern von Stampa, um 1923/24, Privatbesitz.

Unbekannter Fotograf: Alberto und Ottilia Giacometti in den Wäldern von Stampa, um 1923/24, Privatbesitz.

Kunsthaus Zürich

Mit besonderem schauspielerischem Talent tut sich dabei Alberto hervor. Mal spielt er einen Hund und lässt sich von einer Dame an der Leine durch den Garten führen, oder er macht den Hübschen auf konventionellere Art den Hof. Doch gleichgültig, was er gerade treibt: Er tut es nicht ohne Zigarette im Mund.

Und was fällt den Herrschaften also ein, wenn sie eine der wilden spitzen Bergeller Zacken mit dem Seil um den Bauch erreicht haben und unsereiner sich vor lauter Bodenlosigkeit gleich übergeben müsste? Na ja, rauchen eben. Alberto braucht sich die Zigarette erst gar nicht anzustecken, denn sie klebt da noch immer seit dem Frühstück an der Lippe. Aber Ottilia, meine liebe Ottilia, was tust du da, wie kannst du bloss? Kaum sitzt sie auf der äussersten Kante der spitzesten Zacke, packt sie in grösster Seelenruhe ihre Zigaretten und Streichhölzer aus und pustet den Rauch in die schöne klare saubere stille Bergeller Bergluft.

14.05 Uhr
Karl VIII. ist am 7. April 1498 in eine Türe geprallt und gestorben.

Karl VIII. ist am 7. April 1498 in eine Türe geprallt und gestorben.

PD

Claudia Mäder · Wenn Sie den ganzen Tag über reglos vor dem Computer sitzen, können Sie diesen Eintrag überspringen. Falls Sie sich aber gelegentlich durch Ihr Home und Ihr Office bewegen, sollten Sie sich besser über die Gefahren informieren, die in dieser vermeintlich so idyllischen Umgebung lauern. Simples «Umhergehen in Haus und Garten» ist laut offizieller Statistik nämlich eine der häufigsten Unfallursachen. Das ist natürlich keine neue Erkenntnis, schon vor 522 Jahren begann sich diese Tendenz sehr deutlich abzuzeichnen.

Am 7. April 1498 hatte König Karl VIII. von Frankreich eine volle Agenda. Erst hatte er einen kleinen Jagdausflug auf seinem Anwesen in Amboise zu absolvieren. Kurz darauf stand eine Partie Paume auf dem Programm, doch ehe sich Karl zu diesem tennisartigen Spiel begeben konnte, musste er in einem seiner Gemächer frische Kräfte tanken und auch noch seine Frau besuchen. Derart von Termin zu Termin hetzend, liess es der König bei seinen Gängen durchs Schloss an der nötigen Vorsicht fehlen: Auf dem Weg in den Garten stiess sich Karl den Kopf an einer Türe. Pflichtbewusst verfolgte er trotz heftigen Schmerzen den Tennismatch – fiel aber alsbald in Ohnmacht und verstarb noch am selben Abend.

Ausschweifende Spaziergänge sind also gesundheitsschädlich, das können wir an Karl ganz klar erkennen. Allerdings sollte man fairerhalber erwähnen, dass es auch im 15. Jahrhundert einige noch grössere Gefahren gab für Leib und Leben. Seuchen, zum Beispiel. Auch mit ihnen hatte Karl recht viel Erfahrung: Auf einem Feldzug in Italien hat sein Heer 1494 die Syphilis aufgelesen – und die aus aller Herren Ländern stammenden Söldner haben die «Franzosenkrankheit» danach in ganz Europa verbreitet. An Karls 522. Todestag dürfen wir also sagen: Die Welt wäre gesünder geblieben, wenn sich der Mann konsequent im Home-Office aufgehalten hätte.

11.28 Uhr
Das ist eindeutig kein Sandwich. Aber was ist es dann?

Das ist eindeutig kein Sandwich. Aber was ist es dann?

rib.

Thomas Ribi  ·  Entschuldigen Sie, ich weiss, es ist ein bisschen deplatziert, aber seit gestern Nachmittag muss ich immer an Sandwichs denken. An Fleischsandwichs, genauer gesagt. Nein, mit meinem gestrigen Plädoyer für Hunde hat das nichts zu tun, ich bitte Sie! Auch nicht damit, dass ich dauernd Hunger hätte. Und ein stiller Protest gegen militanten Veganismus ist es erst recht nicht. Mir geht Mani Matters Frage nicht mehr aus dem Sinn, was denn ein Sandwich ohne Fleisch eigentlich sei. Und was ein Stück Fleisch ohne Brot sein könnte. Kein Sandwich, so viel ist klar. Aber was dann?

Zugegeben, Mani Matter hat die Frage erschöpfend diskutiert. Nur, am Ende münden seine Betrachtungen in die schlichte Ermahnung, sich die Sache ja nicht zu leicht zu machen. Einfach so sein Sandwich zu essen, ohne sich bewusst zu machen, welche Dialektik in einer vergleichsweise einfachen Zwischenmahlzeit stecke, das sei barbarisch, sagt er.

Das ist natürlich richtig, aber genau das ist mein Problem: Es ist alles viel komplizierter, als wir denken. Und wenn ich schon nicht verstehe, was ein Sandwich zum Sandwich macht und ab wann ein Sandwich kein Sandwich mehr ist, wie soll ich dann begreifen, was die Welt bewegt, umtreibt und zurzeit an den Rand der Verzweiflung bringt?

Immerhin, diese Erkenntnis wird man aus der Sandwich-Studie ziehen dürfen: Was der Fall ist, ist der Fall. Nun würde es nur noch darum gehen, herauszufinden, wie man merkt, ob etwas der Fall ist oder nicht. Und was das heisst. In Verbindung mit dem Sandwich-Problem hätte man damit eine Weltformel, die alles erklärt. Ich verspreche, mich wieder zu melden, wenn sich meine Gedanken geklärt haben.

10.41 Uhr

Ueli Bernays  ·  «Hallo Papi, du kannst dir nicht vorstellen, was gerade passiert ist!» Die Tür ist aufgesprungen, ein frischer Wind geht durch die abgestandene Luft des Home-Office. Und in die Wohnung stürzt der Jüngere, von seinem Erlebnis noch sichtlich erregt. Und begeistert schon vom dramatischen Potenzial seiner Schilderung, die nun ansteht.

Muss ich mir Sorgen machen? Mein Blick geht zur Mutter, die dem Sohn ins Zimmer folgt, nachdem sie ihn per Velo in den Wald begleitet hat. In Zeiten von Home-Schooling betrachten wir Eltern es als Pflicht, die Söhne zur sportlichen Betätigung zu animieren (und meine Frau ist in dieser Mission irgendwie glaubwürdiger als ich).

Nach Stundenplan hätte sich der Jüngere am Morgen mit Mathe und Italienisch beschäftigen müssen. Dieser Plackerei zog er aber einen Bike-Trail vor. Es war mega anstrengend, aber es hat ihm gutgetan, den tiefroten Backen nach zu schliessen. Es ist auch nichts Schlimmes passiert, aber es hat sich etwas Unschönes zugetragen.

«Der Weg war so steil, ich musste plötzlich nach Luft schnappen, die Lungen schmerzten. Deshalb warteten wir auf einer Wegkreuzung. Ich habe gar niemanden gesehen.» Die Mutter aber gibt zu Protokoll, dass sich eine junge Familie – Papa, Mama, Sohn und Töchterchen – in etwa zwanzig Metern Entfernung in Stellung gebracht hatte, scheinbar bloss um die gesunde Waldluft zu geniessen.

«Plötzlich schrie uns die Mutter wutentbrannt an: ‹Könnt ihr endlich aus dem Weg gehen . . .› Erst jetzt habe ich aufgeschaut. Rechts von uns gab es gewiss drei Meter Platz, links von uns wäre die Familie im Gänsemarsch vorbeigekommen; und in ihren Wanderschuhen hätten sie ja auch auf den moosigen Waldboden ausweichen können. ‹Geht doch selber aus dem Weg›, habe ich deshalb geantwortet.»

Anstand und Vernunft sind uns Eltern sehr wichtig. Meine Frau versuchte deshalb nicht nur, die erzürnte Person zu beruhigen, sie wollte auch den Sohn beschwichtigen. Beides missriet ihr. Die gehässige Mutter beschimpfte meinen Sohn, und dieser bot Paroli mit einem Vokabular, das ich weder tolerieren noch niederschreiben kann. Schliesslich waren die Gemüter so erhitzt, dass die feindlichen Lager handgemein geworden und aneinandergeraten wären, hätte sie nicht die Angst vor dem Virus gehemmt.

Jedoch hatte man im Zuge des Rencontres die Zwei-Meter-Regel schon derart verletzt, dass man nun auch ohne weitere Bedenken aneinander vorbeischritt. «Sollen wir die Bullen rufen?», hat die «dumme Zwetschge» ihren Mann noch gefragt. «Oh, mein Gott, dann rufen Sie doch die Bullen», sagte meine Frau.

10.20 Uhr
Nichts ist klar momentan, aber die Alpen sind immer noch da.

Nichts ist klar momentan, aber die Alpen sind immer noch da.

cmd.

Claudia Mäder  ·  Zum Glück liegt jeden Morgen ein feiner Dunst in der Luft. Klare Sicht wäre in diesen Tagen unerträglich: Würden sich die Berge, wie bei gutem Wetter üblich, in ganzer Schärfe am Horizont abzeichnen, könnte ich mich kaum an den Bürotisch zwingen. Oder mindestens wäre ich hier nicht in der Lage, einen anderen Gedanken zu wälzen als diesen: Wann, wann, wann wird man den schroffen Zacken wieder richtig nahe kommen?

Selbst wenn der Nebel sie weichzeichnet, wirken sie stärker auf mich als alles andere, und immer blicke ich den Bergen morgens ein paar Minuten lang sehnend entgegen. Im Verlauf des Tages verschwinden sie dann allmählich, bereits hat der milchige Himmel sie ganz verschluckt. Aber morgen kommen sie wieder, und das Hoffen auf andere Zeiten beginnt aufs Neue.

09.16 Uhr

Roman Bucheli  ·  Gestern Morgen habe ich mich vor der einsam im Zürcher Kunsthaus ausharrenden Ottilia Giacometti verneigt (siehe Montagmorgen, 11.07 Uhr). Inzwischen habe ich noch einmal darüber nachgedacht. Eigentlich war Ottilia ja schon sehr, sehr lange Zeit nicht mehr in so schöner Gesellschaft: wieder vereint mit ihrer Familie. Und im Grunde war doch hier jeder Besucher bloss ein unerbetener Unruhestifter, der in die familiäre Intimität einbrach.

Vielleicht ist es darum die zarteste Ironie des Schicksals, dass die hinreissenden Porträtbilder nun ganz unter sich bleiben: sie da – und wir draussen. Und vielleicht macht es unsere Einsamkeit trotzdem ein wenig kleiner, wenn wir nun am Kunsthaus vorübergehen und zwar nicht hinein können, aber immerhin wissen: Da drinnen ist nun die Familie Giacometti versammelt, wie sie es lange nicht mehr war, nämlich seit dem traurigen frühen Tod Ottilias im Kindbett.

Am 10. Oktober 1937, dem Geburtstag ihres Bruders Alberto, kam ihr Sohn Silvio nach langer, schwerer Geburt zur Welt. Doch schon wenige Stunden später starb Ottilia, erst 33-jährig.

Unentwegt haben Bruder und Vater die schöne Ottilia gezeichnet und gemalt und immer andere Blicke auf ihr Gesicht und in ihre Seele eröffnet: So wuchs das Kind heran – und so wuchs mit ihm auch die Kunst von Vater und Bruder. Es ist seltsam, dass die vielen Porträts von einem ganz frühen und einem ganz späten umrahmt werden, die sich strukturell ähnlich sind: Vater Giovanni zeichnete Ottilia einmal als kleines Mädchen im Bett. Man sieht nur das Kindergesicht aus einer Andeutung von Kissen und Decken herausschauen: melancholisch schaut es in eine unbestimmte Ferne.

Giovanni Giacometti: «Ottilia», um 1910/11, Bleistift auf Papier, 42 x 57 cm, Privatbesitz.

Giovanni Giacometti: «Ottilia», um 1910/11, Bleistift auf Papier, 42 x 57 cm, Privatbesitz.

Kunsthaus Zürich

Als schaute sie voraus auf jenes andere Bild, das ihr Bruder am 12. Oktober 1937 auf ihrem Totenbett zeichnen sollte. Schwer liegt der Kopf nun im Kissen, und das Profilbild wirft einen schemenhaften Schatten an die Wand: als wär’s ein Trauerflor – oder ein zweites Gesicht. Als hätte Alberto eine Andeutung seines eigenen Profils neben jenes der Schwester gezeichnet, das sie fortan begleiten sollte.

Alberto Giacometti: «Ottilia sur son lit de mort», 1937, Bleistift auf Ingres-Papier, 13,6 x 18,5 cm. Kunsthaus Zürich.

Alberto Giacometti: «Ottilia sur son lit de mort», 1937, Bleistift auf Ingres-Papier, 13,6 x 18,5 cm. Kunsthaus Zürich.

© Succession Alberto Giacometti / 2020, Pro Litteris, Zürich

Montag, 6. April

17.33 Uhr

Ueli Bernays · Wenn ich durch leere Strassen schleiche, nicht ohne irgendeinen Grund zwar, aber mit schlechtem Gewissen (man sollte jetzt zu Hause bleiben!), kommt mir zuweilen ein anderer entgegen. Was hat der auf dieser gottverlassenen Strasse verloren, frage ich mich dann. Weshalb bleibt er nicht in seinen vier Wänden, wie es sich gehört, wenn ein schlimmer Erreger umgeht und mit ihm die Angst?

Während sich der andere nun unaufhaltsam nähert, versuche ich mir auszumalen, was sein riskantes Verhalten erklären könnte. Im besten Falle handelt es sich um einen lieben Mitmenschen, der Brot und Butter kauft für ältere Nachbarn oder Verwandte. Vielleicht ist er auch verzweifelt auf der Suche nach seltenen Gütern – nach Schutzmasken, Desinfektionsmittel, Toilettenpapier.

Im schlechteren Falle könnte ich es allerdings mit einem jener Subjekte zu tun haben, die stur und verantwortungslos ihres Weges gehen und dabei in verbotene Hotspots trampen – vom sechsköpfigen Kaffeekränzchen über den siebenköpfigen Grillplausch bis hin zur ausgewachsenen Corona-Party. Wäscht der jemals richtig seine Hände – bis zum Gelenk, mindestens dreissig Sekunden? Und versteht der Dummkopf etwas von Social Distancing? Sollte ich vielleicht die Strassenseite wechseln?

Zu spät! Es kommt, wie es kommen musste, es kommt zum Showdown. Noch bevor wir uns auf gleicher Höhe begegnen, lässt mich der Feind seine Verachtung spüren. Als könnten Blicke töten, wendet er sein Antlitz demonstrativ seinen Halbschuhen zu. Und während ich, den Atem anhaltend, schliesslich ängstlich über die äussere Kante des Randsteins balanciere, windet sich der andere ungeschickt an der Hausmauer vorbei. Unser Passanten-Slapstick aber, er lässt dem Virus keine Chance.

17.03 Uhr

Thomas Ribi · Es gibt zwei grosse ungelöste Rätsel auf der Welt: Kollegen und Hunde. Das bringt mich erstens zu einem Geständnis und zweitens zu einer Aufklärung.

Zuerst das Geständnis: Claudia Mäder ist die liebenswürdigste Kollegin, die ich kenne. Aber sie hat meine Schreibtischschubladen noch nie von innen gesehen. Sonst könnte sie nicht behaupten, ich sei der ordentlichste Mensch der Welt (siehe unten, 14.52 Uhr). Ja, von aussen sieht es bei mir schön aufgeräumt auf. Aber, seien wir ehrlich, eine Schublade müsste sich schon sehr dumm anstellen, um von aussen keinen properen Eindruck zu machen. Nur, von innen – ich erspare Ihnen Einzelheiten. Claudia darf bei Gelegenheit mal in meine Schubladen schauen. Ich hoffe, sie spricht nachher noch mit mir.

Und Sie glauben wirklich, ein Hund könne gefährlich werden?

Und Sie glauben wirklich, ein Hund könne gefährlich werden?

rib.

So, und jetzt zur Aufklärung: Ich weiss beim besten Willen nicht, was Kollege Bucheli tut, dass Hunde so Gefallen finden an ihm (siehe unten, 16.35 Uhr). Hunde, müssen Sie wissen, sind nämlich die friedlichsten Geschöpfe, die es gibt. Schauen Sie ihnen nur mal in die Augen – die können nichts Böses wollen. Unser Hund zum Beispiel. Der liebste Kerl, dafür verbürge ich mich. Aber verspielt halt. Wenn sich etwas bewegt – dann will er mitmachen. Und wenn ein Jogger dafür kein Verständnis hat, dann kann ich auch nicht helfen. Soll er sich halt weniger rasch bewegen. Oder zu Hause auf einem Laufband trainieren. Garantiert hundefrei.

16.35 Uhr

Roman Bucheli · Mit Gorillas (siehe unten, 9.20 Uhr) kenne ich mich nicht so aus, aber mit Hunden dafür umso mehr (siehe ebenfalls unten, 7.51 Uhr). Am liebsten, auch das steht da unten, verstehe ich mich auf die faulen Hunde. Das sind mir naturgemäss die liebsten. Weil sie meiner zweiten oder besseren Natur am nächsten kommen. Und weil sie mir kein Leid antun.

Nämlich: Ich kenne auch andere Hunde. Häufig sind es die kleineren, die noch nicht so faul sind wie die grossen. Und weil sie klein sind, reichen sie mir noch nicht so weit hinauf. Aber unten sind an mir sowieso die besseren Teile: Immer wenn ich gerade nicht so faul bin und im Wald joggen gehe (in diesen Tagen natürlich nicht, Ehrenwort, steht ja auch gross rot auf weiss am Wald angeschrieben: BLEIBEN SIE ZU HAUSE! Ob das für die Rehe auch gilt? Die halten sich nämlich nie daran. Das kann ich bezeugen. Die bleiben auch nicht zu Hause!) – also: Immer wenn ich gerade kein fauler Hund sein will, kommt bestimmt so ein unfauler kleiner Schnäpper und schnappt putzmunter nach meinen besten Teilen!

Zwei gibt es von denen. Und trotzdem soll mir keins von beiden fehlen. Fehlte ja gerade noch! Und weil sich meine besten zwei Teile immer gleich so auf Schnapphöhe der kleinen Schnäpper tummeln, sind sie stets in allerhöchster Gefahr. Demnächst lasse ich sie darum zum Weltkulturerbe erklären. Dann können mich die unfaulen Schnäpper alle kreuzweise. Denn wenn sie dann noch an meine Waden wollen, kriegen sie es mit denen von der Behörde zu tun.

14.52 Uhr

Claudia Mäder · Vielleicht erscheine ich jetzt als Tratschmaul, aber ich muss Ihnen unbedingt etwas über meinen Kollegen Thomas Ribi verraten: Er ist der ordentlichste Mensch, den ich kenne. Sein Home-Office, das er uns heute Morgen um 08.19 Uhr zeigte, sieht genauso aufgeräumt aus wie sein richtiges Büro. An diesem schlich ich einst täglich neidisch vorbei, und immer war es mein Ziel, den Tisch einmal ebenso sauber und leer zu halten wie er. Darum habe ich nach Ausbruch der Krise ein wichtiges Utensil bestellt: eine Rollmatte zum einfachen Einpacken angefangener Puzzles und herumliegender Puzzleteile.

Bestellt war eine Matte, gekommen sind vier Tiger.

Bestellt war eine Matte, gekommen sind vier Tiger.

cmd.

Heute ist dieses Ding endlich angekommen, und ich muss mich nun schon sehr wundern: Warum sind auf der Verpackung der Matte vier Tiger zu sehen? Ja, ich habe mich kürzlich online über Giraffen informiert (siehe unten, 9.20 Uhr), aber daraus eine Vorliebe nicht nur für Menschenaffen, sondern jetzt auch noch für Grosskatzen abzuleiten, ist doch einfach hanebüchen!

Anstatt mir dauernd nachzuspionieren und meine vermeintlichen Interessen zu bedienen, würden die angeblich so allmächtigen Algorithmen besser mal ein bisschen vorwärtsmachen und sich um meine wahren Bedürfnisse kümmern: Auf das einzurollende Puzzle warte ich nämlich schon seit nicht weniger als drei Wochen. Und nein, nach Schnecken habe ich im Netz noch nie gesucht.

11.07 Uhr
Giovanni Giacometti: «Pensierosa», 1913. Öl auf Leinwand, 65×60 cm, Privatbesitz.

Giovanni Giacometti: «Pensierosa», 1913. Öl auf Leinwand, 65×60 cm, Privatbesitz.

Kunsthaus Zürich

Roman Bucheli · Die Corona-Krise wird uns anders als 9/11 in Erinnerung bleiben. Wir werden nicht wissen, was wir gerade getan hatten, als wir zum ersten Mal davon hörten. Aber wir werden uns daran erinnern, wie wir zum letzten Mal taten, was wir seit Mitte März schlagartig nicht mehr dürfen.

Beispielsweise muss ich in diesen Tagen immer daran denken, dass nun die schöne Ottilia, die früh verstorbene Schwester von Alberto Giacometti, ganz einsam im Zürcher Kunsthaus ausharren muss. Niemand besucht sie. Sooft ich am Kunsthaus vorüberkomme, muss ich an sie denken. Still werden die Porträts jetzt an den Wänden hängen, die der Vater Giovanni und der Bruder Alberto gemalt hatten, als wollten sie sich nicht nur künstlerisch gegenseitig übertreffen, sondern auch in ihren Beweisen der Zuneigung zu Tochter und Schwester.

Als hätte ich es geahnt, war ich noch kurz vor der Schliessung der Museen dreimal bei Ottilia zu Besuch. Nun zehre ich davon. Manchmal werde ich wehmütig beim Gedanken an meine Ottilia-Einkehr. Dann schaue ich mir die «Pensierosa» auf Postkarte an, wie sie der Vater gemalt hat. Und beim Anblick der «Nachdenklichen» verfliegt augenblicklich meine eigene Nachdenklichkeit. Oder nein: Sie verwandelt sich.

09.20 Uhr

Claudia Mäder · Mir war nicht besonders langweilig am Wochenende. Ich musste unsere Hängematte aus dem Keller holen, das Hängemattengestell zusammensetzen, die Hängemattenhaken fachgerecht im Hängemattengestell fixieren, die ganzen Hängemattenseile entwirren und dann auch noch verschiedene Liegepositionen testen und die beste Leselage ermitteln. Bis das alles erledigt war, stand die Sonne schon derart hoch, dass ich den Sonnenschirmsockel aus dem Keller holen musste – die Kaskade an neuen Arbeiten, die dieser Schritt auslöste, will ich Ihnen ersparen.

Jedenfalls war ich ziemlich ermattet, als endlich etwas Ruhe einkehrte. Statt eines Buches mochte ich nur noch mein Telefon zur Hand nehmen – und was sagte mir dieses Gerät? Wir hätten da etwas für dich. Ein kleines Filmchen, das dir gewiss gefällt, wir tracken dich schliesslich Klick um Klick und wissen genau, was zu dir passt. Schau dir jetzt also bitte mal das hier an: «Beschäftigung für die Gorillas»! Vor ein paar Tagen hatte ich mich im Internet über Giraffen informiert, nun erhielt ich die Quittung dafür: ein Youtube-Video aus dem Zürcher Zoo mit Direkteinblick ins Affenhaus.

Unsere nächsten Verwandten langweilen sich ohne Besucher offenbar erheblich und werden in der schwierigen Lage von einer Fachspezialistin für Menschenaffen unterhalten. Die Spielchen drehen sich ausnahmslos um Futtersuche: Die Gorillas müssen Nüsse aus trickreich verschlossenen Behältern schütteln und gefrorenen Rosinenbrei aus einem Holzkeil kratzen. Rosinenbrei! Mir lief ein kalter Schauer über den unbehaarten Rücken. Sofort stoppte ich den grässlichen Film und verliess die Hängematte, um den obersten rechten Küchenschrank nach versteckten Bärentatzen zu durchwühlen.

08.19 Uhr
Alles bereit. Jetzt müsste man nur noch arbeiten.

Alles bereit. Jetzt müsste man nur noch arbeiten.

rib.

Thomas Ribi · Was braucht man, um zu arbeiten? Nach drei Wochen Erfahrung im provisorischen Heimarbeitsplatz kann ich sagen: nicht viel. Ein Tisch, ein Stuhl, das reicht. Das stimmt natürlich nicht. Noch etwas wichtiger als Tisch und Stuhl ist ein funktionierendes WLAN, das es aushält, wenn gleichzeitig drei Familienmitglieder am Skypen sind und sich dazu noch einer auf Netflix einen Film anschaut. Aber davon abgesehen – man braucht wirklich nicht einen Bruchteil dessen, was sich in einem Büro so ansammelt.

Ich baue meinen Arbeitsplatz jeden Morgen neu auf. Am Tisch im Esszimmer. Laptop, ein paar Unterlagen, Bleistift und Papier. Und jeden Abend baue ich das Ganze sorgsam wieder ab, so dass keine Spuren bleiben. Wer will schon zwischen Sichtmäppchen, Notizzetteln und Ladekabel zu Abend essen? «Wenn ich arbeite, dann arbeite ich, und wenn ich gammle, dann gammle ich», sagt Edgar Wibeau, der skurrile Held von Ulrich Plenzdorfs «Die neuen Leiden des jungen W.».

Er hat recht, natürlich! Aber warum, um Himmels willen, brauchte es eine Pandemie, bis ich das gemerkt habe? Ich weiss schon, alles nichts Neues. Hätte ich schon lange wissen können. «Clean-desk policy» und so weiter. Und ja, ich schäme mich ja, dass es eine Pandemie brauchte, bis auch ich gemerkt habe, dass man ist, was man tut und, vor allem, wie man es tut.

Sage mir, wie dein Arbeitsplatz aussieht, und ich sage dir, wie du arbeitest. Klingt gut, nicht? Ich hoffe nur, das funktioniere auch umgekehrt. Dass sich die fragile Ordnung auf meinem Tisch auf mein Denken überträgt. Ein bisschen spüre ich das schon. Glaube ich wenigstens. Ordnung, Beschränkung auf das Wesentliche, genau das, was man sich wünscht. Nur die Tabula rasa am Abend, die sollte ich auf meinen Tisch beschränken.

07.51 Uhr

Roman Bucheli · Als wir noch jung waren, zitterten wir zweimal jährlich. Am meisten vor den Sommerferien. Da wurden die Zeugnisse für das ganze Schuljahr verteilt. Und wir ahnten ja längst, was uns blühen würde. Denn wir waren Nieten. Und wo wir keine Nieten waren, waren wir faule Hunde. Das Ergebnis in der Summe: Es hagelte schlechte Noten und als Zugabe zu Hause ein Donnerwetter. Aber dann war auch gut und Schluss und Ferien.

Und jetzt zittern wir plötzlich wieder. Doch heute Morgen kam die Erlösung: Die Bevölkerung hat sich vorbildlich verhalten. Mit ein paar wenigen Ausnahmen (immer die blöden Skitourenfahrer, die den Flüelapass verstopften) und schwarzen Schafen (die gleich ins Gefängnis wanderten). Das Oster-Wochenende ist gerettet! Ostern ist gerettet und wird nicht auch noch abgesagt! Niemand wird Strassen sperren, die wir ohnehin nicht mehr befahren. Niemand wird uns einschliessen, da wir uns selber eingeschlossen haben.

Wir haben zu unserer wahren Natur zurückgefunden: Wir sind wieder die faulen Hunde geworden, die wir immer schon waren. Und nun werden wir dafür sogar noch belohnt! Aber wie alles im Leben hat auch dies einen Haken: Nun, da wir dürfen oder vielmehr sollen, wollen wir keine faulen Hunde mehr sein. Denn so viel Pubertät haben wir in uns bewahrt: Was immer man uns gebietet, dagegen lehnen wir uns auf.

Montag, 30. März, bis Freitag, 3. April

Freitag, 3. April

21.00
Die Fledermaus erfreut sich eines hervorragenden Immunsystems.

Die Fledermaus erfreut sich eines hervorragenden Immunsystems.

K. Bogon / Wildlife

Ueli Bernays · Abends bleibt es ja wieder länger hell, aber es gibt trotzdem nichts zu tun. Ich stehe bloss schmatzend am Küchenfenster und schaue hinaus auf die Stadt in ihrem künstlichen Koma. Unter normalen Umständen könnte man nun die Frühlingsluft geniessen am See, über Plätze und Boulevards promenieren, irgendwo einen Burger essen, einen Burgunder trinken oder vielleicht sogar einen Mojito in einem Strassencafé.

Mit Verspätung legt sich die Dämmerung schliesslich doch noch über Dächer, Mauern und Fluchten. Und mein Nachtleben besteht nun darin, dass ich den Kopf möglichst weit in die leblose Finsternis hinausstrecke.

Bald wird es allerdings kalt. Schon möchte ich mit resigniertem Gähnen das Fenster schliessen, da geht plötzlich ein Schwirren durch die Luft. Kleine Schattenbündel schiessen bedrohlich nahe vorbei. Ihre Flugbahn ist so eckig und nervös, dass die Augen ihnen kaum folgen können. Irgendwie beängstigend. Handelt es sich um bissige Nachtschwalben, um toxische Riesenmoskitos, um blutgierige Vampire?

Schau mal, die Fledermäuse, sagt der Ältere; hungrig und gelangweilt kommt er auch wieder einmal in der Küche vorbei. Im Biounterricht hat er übrigens gelernt, dass Fledermäuse über einen hervorragenden Körperbau, einen effizienten Stoffwechsel und ein hartnäckiges Immunsystem verfügen. Aus der Warte der Wissenschaft könnte man ihren Organismus geradezu als Krönung der Evolution betrachten.

Aus meiner pandemisch strapazierten Sicht möchte ich das allerdings bezweifeln. Fledermäuse, rufe ich höhnisch, die haben uns doch das ganze Schlamassel eingebrockt. Diese Tierchen sind des Teufels! Sie bringen Seuchen, Leid und Tod über die ganze Welt – von Mumps über Ebola bis hin zum verdammten Coronavirus.

Der Sohn beschwichtigt. Fledermäuse sind Wirte, nicht die Parasiten; so quasi die Überbringer schlechter Botschaften, aber gewiss nicht die Botschaft selbst. Sowieso würden sie den Menschen in Frieden lassen, käme er ihnen nicht überall ins Gehege, rückte er ihnen nicht auf den Leib. Aha! Zur Sicherheit mache ich das Küchenfenster dann aber ganz gut zu.

17.01 Uhr

Roman Bucheli · Es wird Zeit, dass Señor Bucheli den Baggerführer kennenlernt. Ich glaube, er weiss oder ahnt mittlerweile, dass ich ihn beobachte und belauere. So hat er sich mit seinem Bagger nämlich gerade ins Wochenende verabschiedet:

Ist das eigentlich eine Baustelle oder ein Sandkasten?

Ist das eigentlich eine Baustelle oder ein Sandkasten?

rbl.

Ich wette, er will mir ein Zeichen geben! Wieso sollte er mir sonst diesen Baggergugelhopf vor mein Fenster zaubern? Oder versucht er etwa Erich von Däniken mit einem falschen Inka-Tempel und dem goldenen Heiligtum obendrauf an der Nase herumzuführen? Ach was, wahrscheinlich wollte er mir nur eine Freude machen. Er hat gewiss meinen Eintrag von gestern Abend gelesen, als ich mich über die plötzliche Stille nach seinem frühen Feierabend entrüstete. Und weil es nun für das ganze Wochenende still sein wird und er mir eine Sinn- und Schreibkrise ersparen wollte, hat er mir wenigstens einen heiteren Anblick hinterlassen wollen. Nächste Woche werde ich mich bei ihm bedanken. Und Fahrstunden nehmen.

16.23 Uhr

Claudia Mäder · Die Krise verschärfe Probleme, die schon lange vor dem Auftreten des Virus schwelten – das ist jetzt oft zu hören, und ich kann diese Analyse nur bestätigen. Der Umgang mit dem Geschirrspüler war in unserem Haushalt immer schon ein Streitpunkt: Wie räumt man Gabeln, Löffel und vor allem Messer richtig in den Besteckkorb ein?

Falsch! So räumen nur lebensmüde Menschen die Messer in die Maschine.

Falsch! So räumen nur lebensmüde Menschen die Messer in die Maschine.

cmd.

Sicher nicht mit der Spitze nach oben, das ist doch viel zu gefährlich! Das sage ich, aber andere meinen, dass die Klingen der Messer von den Brausen der Maschine nur dann richtig gesäubert werden könnten, wenn sie, also die Klingen und insbesondere deren Spitzen, den Plastikboden des Besteckkorbes nicht berührten, und Sauberkeit komme nun einmal vor Sicherheit, denn ohne Sauberkeit gebe es schliesslich gar keine Sicherheit, das habe dank des Virus inzwischen doch wirklich jedes Kind begriffen.

Was für ein Mumpitz! Das Spitze-nach-oben-Denken stellt jede Logik auf den Kopf: Was bringt es mir, wenn ich beim Ausräumen des Geschirrspülers sauber verblute? Trotzdem habe ich nun entschieden, freitags, sonntags und dienstags jeweils am Mittag von meiner Technik abzurücken und die Messer falsch in die Maschine zu stecken. Man muss Kompromisse machen in diesen schwierigen Zeiten. Denn jetzt, wo unser kleiner Geschirrspüler mehrmals täglich läuft, könnte es sonst in der Küche tatsächlich zu einem Massaker kommen.

13.05 Uhr

Roman Bucheli · Unsere grosse Beethoven-Beilage zum bevorstehendem 250. Geburtstag hat mich dazu angeregt, die «Grosse Fuge» wieder einmal zu hören. Es war eines seiner letzten Werke, er muss es bei fast vollkommener Taubheit geschrieben haben und hörte darum nur, was er auf dem Notenpapier sah. Oder schrieb er aufs Papier, was er innerlich hörte? Für unmusikalische Menschen ist es von einer grotesken Unfassbarkeit, wie so etwas möglich ist. Während ich zuhöre, glaube ich zu ahnen, dass Beethoven taub war. Das Stück ist von einer seltsamen Transparenz, die zugleich ganz undurchschaubar ist.

11.35 Uhr

Claudia Mäder · Am Mittwoch habe ich eine sehr seltsame Meldung gelesen. Dann habe ich aufs Datum geguckt und sie wieder weggeklickt– für Aprilscherze hatte ich weder Zeit noch Nerven. Doch seither hat mir die Sache keine Ruhe gelassen, und so bin ich ihr heute früh noch einmal nachgegangen: Was, wenn die Panamaer (ja, das ist die richtige Bezeichnung für die Bewohner von Panama, ich habe das soeben in einem NZZ-Online-Quiz überprüft) tatsächlich eine innovative Lösung für die Corona-Krise gefunden haben?

Wirklich? Nach der Corona-Krise müssen möglicherweise bedeutende Titel der Weltliteratur umgeschrieben werden.

Wirklich? Nach der Corona-Krise müssen möglicherweise bedeutende Titel der Weltliteratur umgeschrieben werden.

cmd.

Und siehe da, es ist kein Witz: In dem mittelamerikanischen Land gilt seit Mittwoch ein geschlechtergetrenntes Ausgehregime! Immer am Montag, am Mittwoch und am Freitag dürfen die Frauen das Haus verlassen, an allen anderen Tagen die Männer – mit Ausnahme vom Sonntag, da müssen die Menschen jeden Geschlechts in den Stuben bleiben (jedoch dürfen dann sowohl Katzen als auch Kater draussen herumspazieren).

Dieser Ansatz hat unglaublich viel Potenzial: Falls der Staat die Massnahmen im Kampf gegen das Virus verschärfen müsste, könnte er am Montagmorgen nur noch blauäugige Frauen mit Locken auf den Strassen zulassen und den Donnerstagnachmittag den Männern ohne Brustbehaarung vorbehalten. Gewiss wäre die Bevölkerung so innert kürzester Zeit derart verwirrt, dass sie freiwillig gänzlich zu Hause bliebe.

10.52 Uhr

Roman Bucheli · Heute Morgen schickte mir Freund Daniel Schwartz (vgl. Eintrag vom 31. März, 14.35 Uhr) wieder eine seiner Fotografien. Ich kann Ihnen das Bild leider nicht zeigen, der Mann ist einfach zu teuer für uns! Aber Sie können das Bild selber herstellen. Gerade jetzt. Gehen Sie mit Ihrem Handy vors Haus (ausnahmsweise dürfen Sie, Bundesrat Berset hat viel Verständnis für die Kunst und wird nicht gleich die Polizei rufen). Richten Sie die Kamera Ihres Handys nach oben (nein, nicht in die Sonne, einfach schön zwischen den Häusern in den leeren Himmel). Dann drücken Sie ab. Sie können jetzt wieder ins Haus gehen.

Was sehen Sie, wenn Sie nun das Bild anschauen? Hoffentlich haben Sie keine Vordächer erwischt. Flugzeuge fliegen jetzt auch keine vorüber. Wenn Sie es richtig gemacht haben, dann sehen Sie: einfach makelloses Blau. Bleiben Sie aber auf dem Boden. Das ist keine Kunst, denn da steht nur Ihr Name drunter. Wenn Daniel Schwartz’ Name drunter steht, ist es Kunst. Das ist der Unterschied. Aber darum geht es hier nicht. Also alles blau? Das ist sehr schön und genau, was wir brauchten.

Dies hier schreibt mir Daniel Schwartz zu seinem blauen Bild: «Ein Stück von Gerhard Meiers Himmel.» Ich hätte gleich in Tränen ausbrechen können (man ist ja in diesen Tag noch näher als sonst am Wasser gebaut). Der 2008 verstorbene Dichter Gerhard Meier wohnte sein Leben lang in Niederbipp. Er war der verborgenste und stillste Dichter hierzulande, Walser und Tolstoi waren seine Nachbarn, die russischen Birkenwälder begannen gleich hinter seinem Garten. Er sah sie, wenn er las und schrieb.

Jahrzehnte arbeitete er in einer Lampenfabrik, und Jahrzehnte verbat er sich das Schreiben, weil er fürchtete, dass ihn sonst die Sehnsucht aus dem Leben reissen würde. Als er seine Tuberkulose in einer Liegekur ausheilen musste, tastete er sich wieder an die Sprache und ans Schreiben heran. Später hörte er auf in der Lampenfabrik, stattdessen arbeitete seine Frau, Dorli nannte er sie immer, in einem Kiosk, um den Lebensunterhalt zu sichern. Und er schrieb zu Hause seine fabelhaft stillen Bücher über die beiden Freunde Baur und Bindschädler.

Meine liebste Stelle steht in dem Band «Die Ballade vom Schneien». Kaspar Baur liegt im Sterben, Freund Bindschädler neben sich am Krankenhausbett. Er soll ihm in seinen letzten Stunden vorlesen. Auf dem Nachttischchen liegen vier Bücher: sie haben Kaspar Baur durchs Leben begleitet, nun sollen sie ihn in den Tod geleiten: die Bibel zuunterst, darauf Robert Walsers «Jakob von Gunten», dann Claude Simons «Das Gras» und zuoberst Prousts «Im Schatten junger Mädchenblüte». Es waren auch Gerhard Meiers liebste Bücher. So, und nun kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich höre auf.

06.34 Uhr

Sabine von Fischer · Meine morgendlichen Gewohnheiten halten sich auch in der Quasi-Quarantäne. Wenn der Rest der Familie noch schläft, schreibe ich erste Zeilen. Wie immer fahren Autos vor dem Fenster durch, zurzeit fast lauter, weil sie nicht mehr im Stau stehen. Kein Mensch wartet an der Bushaltestelle. Haben diese Leute in ihrem Daheim nun alle viel Zeit?

Die paar, mit denen ich telefoniere, berichten von einem hektischeren Leben als je zuvor: gleichzeitig Arbeit, Familie, Sport, Einkaufen, Kochen. Wir wussten gar nicht, dass es möglich ist. Merkwürdigerweise funktioniert es gar nicht so schlecht, zwischendurch. Manchmal auch nicht, das will ich hier nun nicht genauer erklären, das kann man auf allen Kanälen nachlesen.

Etwas neidisch bin ich bei alledem auf die Leute, die nun neue Hobbys entdecken: Sie stricken Sommerkleider, bemalen Blumentöpfe oder komponieren für Orchester, obwohl sie kaum Noten lesen können. Andere stellen mit wenigen Dingen (so die Vorgabe) Kunstwerke nach:

Die Anregung kam vom renommierten Getty Museum. Der Müssiggang und die Wertschätzung der Kunst finden so auch nach der Schliessung der Institutionen zueinander. Noch vor dem Frühstück bei selbstgebackenem Brot (auch wir entdecken neue Hobbys!) blicke ich auf die skurrilen, liebevoll arrangierten Stillleben und Selbstporträts. Es gibt immer noch Dinge, die mich zum Schmunzeln und zum Lachen bringen.

Donnerstag, 2. April

17.10 Uhr

Claudia Mäder · Als ich gestern um 11:19 las, dass mein Kollege Ueli Bernays Verbotenes tue, fasste ich Mut und einen kühnen Plan: Auch ich würde jetzt mein Büro besuchen! Das Postfach hätte schon längst einmal geleert werden müssen, ein paar Bücher wollte ich holen, und auch einige Unterlagen brauchte ich dringend. Ach was, alles Ausreden! In Wahrheit war es die Sehnsucht nach meinem Hasen, die mich heute aus dem Home-Office trieb.

Auch der Büro-Osterhase hat seit heute ein neues Zuhause.

Auch der Büro-Osterhase hat seit heute ein neues Zuhause.

cmd.

Genau in diesen Tagen feiert er seinen fünften Geburtstag, am Dienstag nach Ostern im Jahr 2015 ist der Hase zu mir gekommen. Ein damaliger Arbeitskollege hatte ihn in seinem Nest gefunden und sogleich abgestossen: Er wollte Gewicht verlieren und hielt das 1000 Gramm schwere Tier in dieser Lage für eine Belastung. So habe ich den Hasen in Pflege genommen und mich seither gut um ihn gekümmert.

Anstatt ihm die Alufolie über die Ohren zu ziehen, habe ich ihn von Büro zu Büro gezügelt, und seine letzte Reise ist noch längst nicht gekommen: Sobald wir das Home-Office verlassen, werde ich auch den heute heimgeführten Osterhasen wieder aus dem Büchergestell holen. Bleibt zu hoffen, dass ihn bis dahin nicht die Würmer auffressen – weitere fünf Jahre dürfte er jedenfalls kaum überleben.

16.33 Uhr

Roman Bucheli (schon wieder) · Soll ich Ihnen etwas verraten? Baustellen sind langweilig. Gerade haben die Leute da draussen Feierabend gemacht. Der Baggerführer hat sein Dingsda abgestellt, seine beiden Assistenten haben den Pickel hingeworfen, alles still da draussen, total tote Hose. Und ich? Sitze da oben, gebe dem Bagger meine Steuerbefehle, der dreht mir aber nur eine lange Nase (du kannst mich mal, will er wohl sagen). Kann ich denn etwa arbeiten, wenn es da draussen so gespenstisch still ist? Wie soll ich denn denken, wenn da keiner mehr mit seinem Baggerbohrer Beton zerkleinert, und wie noch schreiben? Wenn mir nun nichts mehr einfällt, bin jedenfalls nicht ich daran schuld. Beschweren Sie sich bei der Baufirma! Die sollen gefälligst etwas länger durchhalten hier auf meiner (!) Baustelle.

14.35 Uhr

Roman Bucheli · Wollen Sie einmal etwas sehen, was Sie immer schon gehört haben? Etwas, was Sie bis zum Abwinken kennen? Und eigentlich gar nicht mehr hören können? Sie ahnen, was ich meine? Genau das! «Ta-ta-ta-taam, ta-ta-ta-taam.» Sie wollen es nicht mehr hören? Dann schauen Sie es sich an. Es wird Ihnen vorkommen, Ehrenwort!, als hätten Sie Beethovens Fünfte noch nie gehört. Ach, Sie werden staunen, falls Sie es nicht schon kennen, dieses Video – eine Art Klassiker unter den Klassik-Clips.

11.14 Uhr

Ueli Bernays · Ich bin geistig gerade voll verbarrikadiert! Hinter mir liegen hundertfünfzig anstrengende Seiten, vor mir gleich nochmals so viele. Und von einem spannenden Twist oder gar einem Showdown ist weit und breit nichts zu ahnen. Sollte sich aus der Einöde dieses Romans doch irgendwann ein dramatischer Gipfel erheben, so wird er wohl in jenem Nebel verborgen bleiben, der seit Seite 50 bereits die Sicht auf den roten Faden raubt.

Immer verzagter stecke ich den Kopf zwischen die Buchdeckel, die sich bald wie Scheuklappen, bald wie die unüberwindlichen Mauern dieser literarischen Provinz ausnehmen. Weshalb wirfst du den Quatsch nicht einfach weg, du Trottel?, fragt meine Urteilskraft. Und zu Recht macht sie geltend, dass nun eigentlich Zeit wäre für die zeitlosen Klassiker, die man stets vor sich hinschob, weil sie den Rahmen des durchgetakteten Alltags gesprengt hätten.

Lesen kann auch zum Überlebenstraining werden.

Lesen kann auch zum Überlebenstraining werden.

ubs.

Schuld an der misslichen Situation ist ausgerechnet das moralische Bewusstsein. Es hält mich stur zur Lektüre der mediokren Mache an – mit schlagenden Argumenten, immerhin: Die Person, die mir das Buch ans Herz gelegt habe, sei überaus sympathisch. Ausserdem handle es sich beim Roman ja um die Hausaufgabe unserer Lesegruppe. Vor allem aber sei es schlicht unfair, einen Autor auf halbem Weg im Stich zu lassen – und die Welt dann womöglich bereits vor seiner künstlerischen Unzulänglichkeit zu warnen.

Also kämpfe ich mich weiter, immer weiter, immer langsamer durch diese artige Geschichte, in der es keinen doppelten Boden gibt, in dem ich mich verstecken könnte. Die Ironie findet hier keine rettende Ambivalenz, in der sie sich ausdehnen könnte. Und es mangelt auch an Metaphern, die der Phantasie einen Ausweg ins Reich der Analogien böte.

So besehen, passt der Roman, passt die klaustrophobische Lektüre allerdings nicht schlecht in die Gegenwart von Shutdown und Quarantäne. Sie strapaziert die Geduld, trainiert gleichzeitig aber auch die Nerven.

10.05 Uhr

Claudia Mäder · Eigentlich habe ich jetzt keine Zeit mehr, Tagebuch zu schreiben. Seit gestern Abend lese ich nämlich selber eines und werde damit wohl erst 2023 fertig, wobei das eine optimistische Schätzung ist, denn das «Journal intime» von Henri-Frédéric Amiel umfasst über 16 000 Seiten. 1839 hat der Genfer Philosophieprofessor mit seinen Aufzeichnungen begonnen, der Welt blieb sein Schreiben verborgen, nur mit kleinen Balladen und Gedichten trat Amiel zu Lebzeiten in Erscheinung. Erst nach seinem Tod wurde das monströse Tagebuch entdeckt: Amiels ganzes Leben fand hinter dem Papierberg statt.

Henri-Frédéric Amiel, Bleistiftzeichnung von Joseph Hornung, 1852.

Henri-Frédéric Amiel, Bleistiftzeichnung von Joseph Hornung, 1852.

PD

Von Nietzsche bis Hofmannsthal haben diverse Denker der Jahrhundertwende das «Journal» bewundert, richtig bekannt ist Amiel aber trotzdem nie geworden. Doch vielleicht ändert sich das jetzt endlich. Wie der Philosoph Pascal Bruckner heute in unserer Zeitung schreibt, ist das Tagebuch nämlich das Genre der Stunde, und es ist durchaus denkbar, dass die vielen Neuautoren beim Schreiben ihre Verwandtschaft mit Amiel entdecken.

Bleibt nur zu hoffen, dass sich die Leute nicht allzu sehr von dem Genfer inspirieren lassen: Sollten nach der Krise alle Tagebuchschreiber mit 16 000-seitigen Werken aus ihren Wohnungen kommen, müsste man um den Bestand unserer Wälder fürchten. Für unser Online-Journal dagegen muss zum Glück kein einziger Baum gefällt werden, und wir stehen momentan auch erst bei 30 000 Zeichen. Also weiter!

(Wenn Sie übrigens auch einmal in Amiels Texten schmökern möchten: Die französische Nationalbibliothek bietet gute Digitalisate seines Tagebuchs: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k373113w.image.)

09.09 Uhr

Roman Bucheli · Sind Dichter Propheten? War Camus hellsichtig, als er «Die Pest» schrieb und damit das Drehbuch für unsere Gegenwart? Die Dichter sind prophetisch – und sie sind es nicht. Oder anders gesagt: Sie sind genauso sehr und zugleich ebenso wenig hellsichtig und feinnervig wie jeder von uns. Nur in ihren Werken liegt eben noch anderes, Verborgeneres und Unbekanntes geborgen. Darum altern die besten unter ihren Werken nicht. Weil auch fünfzig, hundert, tausend Jahre später die Menschen noch immer sich selber darin erkennen können.

1940 hat Paul Celan ein Gedicht mit dem Titel «Corona» geschrieben. Natürlich dachte er nicht an die Nachkommen, die im Jahr, da sich sein Todestag zum fünfzigsten Mal und sein Geburtstag zum hundertsten Mal jährt, in dem Gedicht ihre eigene Gegenwart entdecken werden.

Paul Celan: «Corona».

Paul Celan: «Corona».

Suhrkamp

Wir wissen nicht, ob Celan an die Sonnenkorona dachte oder an das lateinische Corona/Krone. Aber nun lesen wir Verse wie «die Zeit kehrt zurück in die Schale», als beträfen sie uns ganz direkt. Und erkennen wir uns nicht auch darin: «Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Strasse»? Stehen nicht auch wir nun am Fenster und schauen zu, wie die Zeit innehält, wie sie zurückkehrt in ihre Schale?

Mittwoch, 1. April

17.43 Uhr

Roman Bucheli · Gestern Morgen hatte ich mir geschworen, nicht mehr über den Baggerführer zu schreiben. Ich will mich ja nicht zum Gespött machen. Aber es ist immer dasselbe mit den Gewohnheitstätern. Sie können es nicht lassen. Von Peter Bichsel gibt es ein legendäres Büchlein, das ungefähr so hiess: «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» (natürlich hiess es genau so). Vielleicht schreibe ich auch einmal ein Buch: «Eigentlich möchte Señor Bucheli den Baggerführer kennenlernen» (Señor Bucheli heisst übrigens tatsächlich eine Romanfigur in dem Buch eines Liechtensteiner Debütanten!). Ich werde also zur Romanfigur, noch ehe ich selber einen schreibe.

Grosses Ehrenwort: Dies wird mein letzter Text sein über den Baggerführer. Danach schreibe ich das Buch über – Sie wissen schon. Also: Der Mann fährt ohne Schuhe. Wer? Der Baggerführer natürlich. Stellen Sie sich vor, er zieht die Schuhe aus, wenn er die Kabine betritt. Ich kann das von hier aus sehen. Er trägt dann nicht etwa Pantoffeln, nein, der Kerl steuert den Bagger in seinen Socken! Als sässe er zu Hause auf dem Sofa vor dem Fernseher. Auch so eine Art Home-Office wahrscheinlich. Vermutlich liegt da ein Perserteppich in der Baggerkabine.

14.15 Uhr

Claudia Mäder · Was macht eigentlich ein Schuppentier? In der Hauptsache ist es damit beschäftigt, nicht zu sterben. Ja, das gilt für alle Lebewesen, aber für einige ist die Todesgefahr doch akuter als für andere, und das Schuppentier zählt laut Weltnaturschutzunion zu den stark bedrohten Arten: Zwar ist der Handel mit ihm verboten, doch seine angeblich heilsamen Schuppen werden tonnenweise geschmuggelt und sein Fleisch als Delikatesse verkauft.

Für einmal kein Bild aus dem Home-Office: Schuppentier in Indonesien.

Für einmal kein Bild aus dem Home-Office: Schuppentier in Indonesien.

Binsar Bakkara / AP

Dass die Lage dramatisch ist, ist auch daraus zu schliessen, dass das Schuppentier einen eigenen Welttag hat, immer am 16. Februar sollte man an es denken, so wie am 10. Dezember an die Menschenrechte oder am 23. April an die Bücher. Anstatt das Schuppentier zu feiern, hackt man jetzt aber lieber auf ihm herum, denn das Säugetier steht im Verdacht, bei der Corona-Übertragung als Zwischenwirt fungiert zu haben. Ausgerechnet ein illegal gehandeltes Tier hätte demnach unser Leben lahmgelegt – über diese bittere Ironie habe ich vorher einen Text von Judith Schalansky gelesen. Er ist gestern erschienen, ich glaube, das war der Welttag der klugen kleinen Essays.

13.37 Uhr

Christian Wildhagen · Soeben bin ich auf charmante Art in den April geschickt worden. Ja, das gibt es noch, auch wenn viele das Verbreiten von Fake-News unter den gegenwärtigen Umständen verständlicherweise unpassend finden. Aber so ganz will man den Humor ja auch nicht verlieren, und hier erweist sich die Sache obendrein so eindeutig als «Fake», dass man zumindest ein bisschen schmunzeln darf. Natürlich steckt ein Brite dahinter – dort oben, auf dieser lustigen kleinen Insel in der Nordsee, hat man ja seit Jahren Übung mit grossen Versprechungen, die sich dann als heisse Luft entpuppen.

So auch hier: Mit angemessenem Pathos verkündet Sebastian Comberti, der Solocellist der London Mozart Players, er habe in einem alten Konvolut von Manuskripten Edward Elgars, des zweiten Orpheus Britannicus nach Henry Purcell, die Abschrift einer Sarabande in e-Moll gefunden. Die Handschrift stamme von Anna Magdalena Bach, der zweiten Ehefrau des göttlichen Johann Sebastian. Angeblich soll es sich dabei um das letzte Überbleibsel einer verschollenen 7. Solosuite für Cello handeln. Was wäre das für ein Fund, denke ich – immerhin gelten die sechs wohlerhaltenen Suiten als das Allerheiligste aller Cellisten.

Schon will ich alle Hebel in Bewegung setzen, grüble aufgeregt nach Telefonnummern massgeblicher Bach-Forscher, die ich im Home-Office aufschrecken könnte, verfalle dann aber vorsichtshalber doch auf das Naheliegendste: einfach einmal das Video anzuklicken, in dem Comberti die notgedrungen ins heimische Musikzimmer verlegte Uraufführung der Trouvaille zum Besten gibt. Merkwürdig, denke ich, irgendwie hat dieser angeblich göttliche Bach kräftig bei einem viel jüngeren Komponisten geklaut. Oder sollte etwa der Jüngere sein weltberühmtes Cellokonzert beim Gottvater der Musik persönlich abgekupfert haben? Kein Wunder jedenfalls, dass der gewiefte Elgar das Manuskript vorsichtshalber in einem ranzigen Notenbuch verschwinden liess. Hören Sie selbst:

13.15 Uhr

Sabine von Fischer · Meinen schönsten Mantel habe ich heute Morgen angezogen, um die wenigen hundert Meter zum Lebensmittelladen hinunterzugehen, dazu den hübschesten Hut aufgesetzt und sogar etwas Lippenstift aufgetragen: Einfach, um wieder einmal das Gefühl zu haben, dass es noch ein Draussen gibt. Den zwei Leuten, die mir entgegenkamen, scheint es aufgefallen zu sein. Mit grossen Augen haben sie mich angeschaut, wie: Wo will die denn hin?

Im Laden habe ich dann die Schutzmaske vors Gesicht geklemmt, dann waren wir wieder alle gleich. Schutzmasken hatten wir noch in der Spielkiste der Kinder, seit zehn Jahren lagen sie drin, und nun sind sie eine Rarität. Genauso wie Menschen, die sich für den kleinen Einkaufsgang schön machen.

Heute keine Jogginghose: festliches Tenue für den Einkaufsgang.

Heute keine Jogginghose: festliches Tenue für den Einkaufsgang.

svf.

Ich glaube, meine festliche Aufmachung erschien den anderen suspekt. Hometrainer, zerknitterte Hemden, bald begegnen wir uns wohl auch beim Lebensmitteleinkauf nur noch im Pyjama. Mir jedenfalls haben der Mantel und die Schminke ein Gefühl von Normalität gegeben.

11.19 Uhr

Ueli Bernays · Heute aber habe ich etwas Verbotenes getan. Ich habe meinem Büro einen Besuch abgestattet. Zuerst bin ich unauffällig um die Redaktion geschlichen, um dann rasch und verstohlen im Eingang zu verschwinden. Den Weg durch das Treppenhaus und den langen Korridor habe ich noch immer fast blindlings gefunden.

Hallo, Büro, wie geht’s?, fragte ich zum Gruss. Ein trauriger Anblick! Der verwaiste Bürostuhl lehnte sich so müde zurück, als würde er heute schon ausrangiert. Auf dem Pult harrte, von jeder Aufgabe entbunden, der Bildschirm in dunkler Sehnsucht. Daneben aber öffnete sich ein Panorama der Zerstreuung: Das wilde Durcheinander von allerlei Papieren, CD, Prospekten und Büroutensilien erweckte den Eindruck, als sei diese funktionale Scholle von ihrem Bauern fluchtartig verlassen worden.

Der Bürostuhl fühlt sich derzeit etwas vernachlässigt.

Der Bürostuhl fühlt sich derzeit etwas vernachlässigt.

ubs.

Und wie geht’s dir?, fragte ich schliesslich den Korpus, während ich mich verzagt an das Büchergestell lehnte und dem leeren Papierkorb einen freundlichen Tritt versetzte, so dass er rülpste.

Auf dem Rückweg ins Home-Office wurde ich nachdenklich. Das Büro tat mir leid in seiner Ruhe und Leere. Es fehlt ihm derzeit eine gute Seele, die die Gegenstände zum Leben erweckt. Es fehlt ihm ein Meister, der all die dienstfertigen Möbel und Geräte zu einer fruchtbaren Funktion zusammenführt. Kurzum: Das Büro vermisst mich.

11.05 Uhr
Kopflos, aber absolut zielgerichtet: Schwan auf Tauchgang.

Kopflos, aber absolut zielgerichtet: Schwan auf Tauchgang.

cmd.

Claudia Mäder · Heute Morgen habe ich über das Wort «kopflos» nachgedacht. Zwei Dinge haben mich dabei beschäftigt: Erstens verstehe ich nicht, wieso «kopflos» nur negativ gebraucht wird, und zweitens stört es mich, dass es kein Gegenstück gibt zu diesem Wort. «Kopfvoll» zum Beispiel wäre doch ein Ausdruck, den man in unsere Sprache einführen könnte. Ich jedenfalls hätte für ihn fast täglich Verwendung, denn regelmässig hadere ich momentan mit einer gespenstischen Fülle an Köpfen: Seit letztem Freitag habe ich viermal versucht, mich über Videotelefonie mit Freunden und Familienmitgliedern zu unterhalten – jedes Mal habe ich den «Call» frühzeitig entnervt verlassen.

Die anderen plaudern vielleicht jetzt noch. Aber ich halte das kopfvolle Reden einfach nicht aus! Es ist doch unerträglich, beim Telefonieren in eine Galerie von seltsam verzerrten Köpfen zu blicken, die in Übergrösse den ganzen Bildschirm ausfüllen, sich alle paar Sekunden in komischen Rucken bewegen und den Mund erst dann öffnen, wenn sie längst schon sprechen. Sicher wird die Technik noch Fortschritte machen. In der nächsten Pandemie schalte ich die Kamera vielleicht auch wieder ein, vorderhand aber werde ich nur noch kopflos kommunizieren.

10.42 Uhr

Roman Bucheli · Gestern schrieb mir der in München lebende Schriftsteller Albert Ostermaier eine berührende Mail. «Mir hilft in diesen Tagen sehr das Schreiben», sagt er darin. Er habe mit Friedrich Ani eine Art Tagebuch begonnen, das sie «Splitter» nennen. «Und ich dichte natürlich weiter», schreibt er und schickt mir gleich ein neues Gedicht. Ich antworte sofort und sage ihm, dass ich die Verse gerne handschriftlich hätte, denn so ein Word-Dokument gibt doch nichts her, bildmässig. Und zack, hier kommt es, ganz gut lesbar, «Interpunktion» heisst es:

Albert Ostermaier: «Interpunktion».

Albert Ostermaier: «Interpunktion».

Albert Ostermaier

Dann schreibt er auch noch in seiner Mail: «Ich vermisse das Torwartsein sehr.» Dazu muss man wissen, dass Albert Ostermaier nicht nur Romane und Gedichte schreibt, er ist und war auch ein passionierter Torhüter, vermutlich auch ein talentierter. In München sah ich einmal in einer Literaturausstellung seine Torhüter-Handschuhe. Mir kamen sie wie eine Reliquie vor. Andächtig stand ich davor.

Später schrieb er für unser Feuilleton einen phantastischen Text über die Einsamkeit, das Glück und das Elend des Torhüters. Und jetzt, in der Corona-Quarantäne, fehlt ihm der Fussball. In seiner Mail heisst es dann noch: «Wenn ich im Park ein Kind mit Ball sehe, möchte ich ihm am liebsten zurufen ‹schiess› und mich auf den Boden werfen und nach dem Ball strecken . . .»

Dienstag, 31. März

17.40 Uhr

Christian Wildhagen · Immer noch gehen im Minutentakt neue Mails im Postfach ein, allesamt in tieftraurigem Tonfall gehalten. Darin sagen die Veranstalter blutenden Herzens weitere Konzerte, Premieren, ja ganze Festivals ab (unterdessen sogar die Bayreuther Wagner-Festspiele). Inzwischen reicht der Zeitraum schon bis in den August hinein, und wer wollte, könnte sich damit den letzten Rest an positiver Stimmung verderben. Wollen wir aber nicht, zumindest heute Abend nicht.

Stattdessen schauen wir einfach mal, wie es um die in Krisen gern beschworene Kreativität der besonders gebeutelten Künstlerinnen und Künstler steht. Das Streaming, das vielen in dieser notgedrungen veranstaltungsfreien Zeit als Rettungsanker gilt, kann ja nur dann zu einer eigenen Kunstform werden, wenn es neue und eigene Wege des Ausdrucks eröffnet.

Und tatsächlich: Seit einigen Tagen geht im Internet ein Video «viral» (so heisst das leider wirklich), in dem sich die Mitglieder des Rotterdam Philharmonic Orchestra virtuell zusammengefunden haben. Ein jeder spielt im eigenen Wohnzimmer vor Kamera und Mikrofon, dennoch bringen sie alle gemeinsam eine geraffte Version des Schlusssatzes aus Beethovens Neunter zur Aufführung.

Kundige Techniker haben die einzelnen Streams nämlich zu einem durchaus passablen Gesamtklang zusammengefügt. Was unter normalen Umständen eine schöne Spielerei wäre, kann einem jetzt nachgerade die Schuhe ausziehen (wenn man im Home-Office welche trüge): So stark und berührend ist der künstlerische Selbstbehauptungswille, der aus dem Video spricht.

Wie elektrisiert suche ich anschliessend im Netz sogleich nach weiteren Beispielen – und siehe da: Diese raffiniert «zusammenkomponierten» Streamings sind bei Orchestern, Chören und Ensembles offenbar das Format der Stunde. Besonders bewegend mutet ein Streaming an, in dem die Musikschüler der Thelma Yellin High School aus der Nähe von Tel Aviv zusammen Mendelssohns herrliche Kantate über den 42. Psalm intonieren. Dessen Bibelworte «Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir» haben mich noch nie so wahrhaftig berührt.

16.16 Uhr
Vincent van Gogh: «Frühlingsgarten. Der Pfarrgarten von Nuenen» (1884)

Vincent van Gogh: «Frühlingsgarten. Der Pfarrgarten von Nuenen» (1884)

PD

Claudia Mäder · Man würde in diesen Tagen gerne glauben, dass das Virus das Böse ist und wir Menschen es geeint bekämpfen. Mit der Kriegsrhetorik, die Politiker und Epidemiologen verwenden, kann ich zwar nicht viel anfangen, aber doch gefällt mir der Gedanke, dass sich die Leute jetzt zusammenraufen, sich gegenseitig beim Einkaufen unterstützen oder die Nachbarn gar mit nicht lebenswichtigen Gütern wie Muffins versorgen (darüber habe ich weiter unten schon berichtet). Aber man muss realistisch bleiben: Nicht nur Helfer sind jetzt draussen unterwegs, auch Diebe erleben gerade eine gute Zeit.

Paketklau ist verbreitet, die Cyber-Kriminalität nimmt zu, und gerade lese ich von dieser Barbarei: Aus einem Museum in der Nähe von Amsterdam wurde ein Van-Gogh-Bild gestohlen. Das Museum ist natürlich wegen des Virus geschlossen, die Täter drangen frühmorgens durchs Hauptportal ein und verschwanden mit dem «Pfarrgarten von Nuenen» unter dem Arm. In normalen Zeiten lese ich über solche Meldungen eher schnell hinweg, heute jedoch war ich richtig empört. Inzwischen hat mir aber just der «Pfarrgarten» den Puls wieder gesenkt: Selbst von der schlechten digitalen Kopie des Gemäldes geht eine tiefe Ruhe aus. Möge es die Menschen bald wieder in echt erfreuen.

14.35
Daniel Schwartz: «Virusman», 2020.

Daniel Schwartz: «Virusman», 2020.

Daniel Schwartz / VII / © 2020 Pro Litteris, Zürich

Roman Bucheli · Der Fotograf Daniel Schwartz überrascht mich gelegentlich, indem er mir Schnappschüsse schickt. Ich stelle mir vor, dass er dann in Solothurn an der Aare sitzt, einen Kaffee trinkt und über die Zeitung hinweg, die er immer mit sich herumträgt, ein Motiv fotografiert. Manchmal wählt er den Ausschnitt so, dass ich gerade noch sehe, was er eben in der Zeitung gelesen hat. Es ist jedes Mal so, als würde er mir ganz kurz zuwinken, schelmisch zuzwinkern vielleicht sogar.

Als er in diesen Tagen durch seine Stadt ging, fiel ihm dieses Bild ins Auge. Und wieder gab er mir damit einen Wink. Dieses Mal ist es mehr als ein Wink. Es ist auch der Versuch, in Zeiten der Isolation den Kontakt zu halten. Ich musste übrigens ein bisschen lachen, als ich das Bild erhielt. Denn für einen Fotografen ist es ziemlich dilettantisch gemacht. So schräg angeschnitten. Jeder Bildredaktor bei uns im Haus würde sich gleich die Haare raufen.

Und doch, sehen Sie die Dynamik und wie sie das Bild sprengt? Indem der Plakatmensch nach links aus dem Bild rennt und der Vater von seinem Kind nach rechts daraus herausgezerrt wird? Und wie der Vater da hinguckt? Vermutlich etwas neidisch auf den Läufer da oben. Oder ist es Angst? Das hat doch Klasse.

13.51 Uhr

Sabine von Fischer · Brüllen muss ich nun nicht mehr, sogar wenn jemand klingeln würde. Doch seit Tagen hat keiner mehr geläutet. Nur noch ein Bruchteil der sonst täglichen Anzahl Autos fährt durch unsere Strasse, die jahraus, jahrein mit einem Dauerrauschen hinterlegt war.

Jetzt könnte ich dem Postboten unten, ohne die Stimme zu heben, durch das geöffnete Fenster aus dem zweiten Obergeschoss ganz ruhig sagen: Stellen Sie es hin. Oder dem Kind: Ich werfe dir den Schlüssel runter. Ohne zu schreien, ohne Gebrüll.

Da klingelt jetzt keiner mehr, nun, da man jedes ruhig gesprochene Wort unten hören würde.

Da klingelt jetzt keiner mehr, nun, da man jedes ruhig gesprochene Wort unten hören würde.

svf.

Wie oft habe ich mir einen automatischen Türöffner gewünscht, damit ich den angefangenen Satz noch fertig schreiben oder zumindest im Kopf behalten könnte. Keine Schuhe überstülpen und keine paar Dutzend Stufen hinuntergehen, sondern barfuss in der Wohnung bleiben: Das kann ich jetzt alles, weil nämlich keiner mehr klingelt. Wir haben sogar ein Kinderpult vor das Fenster gestellt und öffnen dieses nur noch zum Lüften.

11.24 Uhr
Weg mit dem alten Kram!

Weg mit dem alten Kram!

ubs.

Ueli Bernays · Wir verbringen zu Hause so viel Zeit, dass der Raum zu knapp bemessen scheint. Es wird immer enger. Die Mauern rücken näher, und bald fällt uns die Decke auf den Kopf. Im Reigen neuer Rituale wie Konferenzschaltung, Hausaufgaben-Effizienzkontrolle, Gamezeit-Reduktions-Versuchen staut sich dicke Luft – bis man mal richtig die Sau rauslassen möchte oder den inneren Schweinehund. Aber auch für diese Biester fehlt freilich der Auslauf.

Es gibt vielleicht eine Lösung: Platz schaffen, wo immer möglich. Was nicht an einen Zweck genagelt, an einen Sinn genietet ist, soll auf den Müll. Wir steigen in den Keller, wir klettern in den Estrich. Wir durchforsten jede Nische, jede Ecke. Und steigern uns in einen Furor. Weg mit dem Plunder! Weg mit dem alten Pult und der kaputten Autorennbahn! Weg mit den Kunstreproduktionen! Weg mit dem Wintermantel und den Jeans von Vorletztjahr!

Und weg auch mit all den Gestellen. Die Regale sind voll. Viel zu viele Platten, zu viele Bücher. Was ist mit Bach, Coltrane und den Beatles – die sind bei Spotify doch eigentlich gut aufgehoben? Und muss man wirklich jeden Krimi, jedes Reclam-Heftchen aufbewahren? Weg damit! Weg auch mit den einstigen Bestsellern, die sich längst unter Staub verstecken.

Aber auch die Klassik gerät allmählich in den Strudel unseres Bildersturms. Schon fielen ihm ein kommentiertes «Kapital» und eine ausgefranste KrV zum Opfer. Auch die zehnbändigen Propyläen mussten daran glauben. Und werde ich «Ulysses» jemals wieder lesen? Und Dostojewski – ist der nicht etwas überschätzt? Aber der Russe hat nochmals Glück. Die Säcke sind übervoll, und das Auto ist beladen und bereit für die Fahrt zum Krematorium der Dinge. Nachher atmen wir wieder freier.

11.06 Uhr
Da hängt der Anzug, ganz unbenutzt.

Da hängt der Anzug, ganz unbenutzt.

rbl.

Roman Bucheli · Mein Kollege Ueli Bernays hat gestern Nachmittag (siehe unten, 16.51 Uhr) sehr schön über das Windowshopping geschrieben. Das nötigt mir ein kleines Geständnis ab: Ich hatte es nicht beim Windowshopping belassen. Gerade noch rechtzeitig bevor die Geschäfte geschlossen wurden, hamsterte ich. Nein, nicht Klopapier, auch keine Lebensmittel, aber einen Anzug fürs Frühjahr. Kein Frustkauf. Ich hatte ihn mir seit langem versprochen.

Und nun, in fröhlichster Zuversicht, als wäre nichts, obwohl schon in allen Geschäften Desinfektionsmittel herumstanden, kaufte ich ihn. Es war Liebe auf den ersten Blick. Die Hose sass perfekt. Der Rest sowieso. Und nun hängt er im Schrank. Manchmal denke ich, auch im Home-Office könnte ich ihn tragen, sogar mit Krawatte und den besten Schuhen. Heute Morgen versuchte ich es. Ich kam mir lächerlich vor dabei und zog ihn wieder aus. Nun ruht er sich von dem kleinen Abenteuer aus. Immerhin kann er mir so beim Arbeiten zuschauen. Und sich innerlich auf kommende Arbeitstage vorbereiten.

09.35 Uhr
Auch ästhetisch unzulänglich: Blendschutz aus Kissenbezug.

Auch ästhetisch unzulänglich: Blendschutz aus Kissenbezug.

cmd.

Claudia Mäder · Die Zeitverschiebung macht mich weiterhin unzufrieden. Neuerdings scheint die Sonne zwischen 08.55 und 09.10 Uhr in einem so unglücklichen Winkel durch mein Home-Office-Fenster, dass ich auf dem Bildschirm nichts erkenne. Dabei habe ich doch zu Beginn der Krise extra noch einen schön grossen Monitor erstanden, um meine Augen zu entlasten! Doch in der heutigen Zeit muss man nach kreativeren Lösungen suchen. Gleich um 9 Uhr habe ich erste Recherchen unternommen, sie verliefen enttäuschend: Die Anfertigung einer Store dauert mehrere Wochen (und kostet eine beträchtliche Summe).

Auch mit Basteln bin ich nicht weitergekommen, ein zum Vorhang umfunktionierter Kissenbezug erweist sich als unzulänglich und ist zudem fürs Auge noch schwerer zu ertragen als die Sonne. Um halb zehn hatte ich dann plötzlich eine zündende Idee: Anstatt mich weiter mit zugekniffenen Augen zu ärgern, werde ich den Blick während der schwierigen Phase künftig senken und eine Viertelstunde lang in Elias Canettis «Blendung» lesen. Wie weit wir in dieser Krise damit kommen, werden wir sehen – meine Taschenbuchausgabe hat 510 Seiten.

Montag, 30. März

21.50 Uhr

Roman Bucheli · Die Bagger werden mich nun nicht mehr so schnell loslassen (siehe meine Einträge von heute Morgen und Mittag). Ein Leser macht mich eben auf dieses grandios poetische Musikvideo des Zürcher Musikers Rio Wolta aufmerksam, das ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.

17.09 Uhr

Roman Bucheli · Zu meinen treusten Lesern gehört der pensionierte Aargauer Arzt und Künstler Ueli Sager. Er ist ein leidenschaftlicher Zeitungsleser. Aber seine Leidenschaft des Lesens wird noch übertroffen von jener des Zerreissens. Täglich macht er sich über Zeitungen her. Und zerreisst, was ihn so oder anders anspricht. Dann klebt er in sein Arbeitsheft, was nach diesem Vandalismus noch zurückbleibt von einem Artikel.

Das sind ein paar Wortfetzen, ein paar fette Lettern, vielleicht noch das Fragment eines Bildes, aber alles schiesst kreuz und quer über das Blatt. Die reinste Anarchie, zur Unkenntlichkeit entstellte Gedankenarbeit. Und zugleich die schönste Poesie. In solcher Verwandlung schickt mir Ueli Sager gelegentlich per Mail meine Artikel zurück.

Könnte ich mir Besseres wünschen? Könnte meinen Texten Schöneres passieren, als so den Tag ihres Erscheinens zu überleben? Aber es kommt noch besser: Genauer habe ich meine Texte nie verstanden als in dieser zerstückelten, zur Kunst entfremdeten Form. Ueli Sager ist nicht nur mein treuster, er ist vermutlich auch mein bester Leser. Dies hier machte er letzte Woche aus meinem Leitartikel, in dem ich die Ehre der Hysterie zu retten versucht hatte.

Viel bleibt nicht vom Leitartikel. Aber braucht es mehr?

Viel bleibt nicht vom Leitartikel. Aber braucht es mehr?

Ueli Sager
16.51 Uhr

Ueli Bernays · Waren das noch Zeiten, als Müssiggänger scharenweise durch die Geschäftsstrassen flanierten. Selbst an den Sonn- und Feiertagen führten ihre Wege durch urbane Boulevards, vorbei an Sportläden, Boutiquen und eleganten Kaufhäusern. Vor den Schaufenstern hielt man zuweilen inne, der Blick wanderte scheinbar interesselos über die Auslagen, wo gewiefte Dekorateure makellose Objekte und appretierte Textilien zu kunstvollen Assemblagen zusammengestellt hatten.

Man machte sich gegenseitig Vorschläge: Gefällt dir dieser Anzug, suchst du nicht schon lange eine solche Uhr? Und plötzlich fand man selber die modische Jacke, den trendigen Turnschuh oder die Halskette, die einem gerade noch gefehlt hatte. Dann mochte man erschreckt auf das Preisschild zeigen und kopfschüttelnd weiterziehen. Das schöne Produkt aber blieb im Bewusstsein lebendig, es sank ein ins Gedächtnis wie ein Traumbild, um beim nächsten Schaufenster Vergleiche zu ermöglichen, um beim nächsten Bummel eine Richtung vorzugeben.

Windowshopping – dafür ist jetzt nicht die Zeit. Wer einsam durch die Strassen eilt, würdigt die verdunkelten Ladenlokale keines Blicks. Nur ich bleibe zuweilen stehen und suche in den menschenleeren Puppenhäusern das entschwundene Leben. Windowshopping – das Schaufenster ist jetzt zumeist ein Bildschirm. Die Einkäufe werden nach Hause geliefert. Welche Läden aber werden wieder öffnen?

15.20 Uhr
Ein köstliches Lebenszeichen aus der Nachbarschaft.

Ein köstliches Lebenszeichen aus der Nachbarschaft.

cmd.

Claudia Mäder · Schon der Gang zum Briefkasten ist in diesen Tagen ein kleines Erlebnis. Die Post bringt zwar weiterhin wenig Interessantes (abgesehen von der Zeitung, natürlich), aber selbst eine Rechnung ist ja gewissermassen als Lebenszeichen der Aussenwelt zu verstehen. Ich prüfe darum gerne und unnötigerweise auch zweimal am Tag, ob der Pöstler etwas in unser Fach gelegt hat. Vom heutigen Nachmittagsgang komme ich jetzt sehr beglückt zurück. Kein Amt, keine Bank und keine Versicherung, sondern die Nachbarschaft hat diesmal an uns gedacht: Die Sporttherapeutin aus dem ersten Stock hat vor jeder Wohnungstür zwei selbstgebackene Muffins mit halbflüssiger Schokofüllung deponiert. Zusammenhalt ist mehr als eine hohle Floskel, das merke ich spätestens jetzt, da ich dies mit leicht klebrigen Fingern schreibe.

13.22 Uhr

Roman Bucheli · Ein kurzes Update von der Baustelle vor meinem Fenster. Ich hatte heute Morgen geschrieben, dass ich im nächsten Leben Baggerführer werde. Ich muss mich korrigieren: Der Bagger ist mein Plan B. Ich habe mich in der Zwischenzeit schlaugemacht bei der Herstellerfirma. Man erhält auf deren Website eine 360-Grad-Innenansicht des Führerstands. Das ist so lebensecht, dass man im Grunde gleich loslegen könnte. Sooft ich hier also eine kleine Pause machen muss, übe ich fleissig und traktiere Pedale sowie Joystick links und rechts. Es gehört natürlich etwas Geschicklichkeit dazu. Aber mittlerweile befolgt der Bagger schon ziemlich genau meine Steuerbefehle, die ich ihm von hier aus erteile. (Kleine Eigenwilligkeiten lasse ich ihm durchgehen.)

Manchmal sieht mein Bagger aus wie ein Dinosaurier.

Manchmal sieht mein Bagger aus wie ein Dinosaurier.

rbl.

99 Dezibel Aussenschallleistung verspricht die Herstellerfirma. Und sie übertreibt kein bisschen! Jedoch ist das tägliche Baggerballett vor meinem Fenster jedes einzelne Dezibel wert. Ich möchte keines hergeben.

10.58 Uhr


ubs.

Ueli Bernays · Ich habe befürchtet, beim Schlangestehen vor den Lebensmittelläden, Apotheken und Banken die Geduld und die Nerven zu verlieren. Ich zähle tatsächlich zu jenen verhärmten Stadtneurotikern, die vom Verdacht der Benachteiligung, vom Gefühl der Diskriminierung geplagt werden, sooft sie sich irgendwo anstellen müssen, um ein Bedürfnis zu befriedigen oder ein Konsumgut zu erhaschen.

Wenn mehrere Schlangen parallel verlaufen, lande ich regelmässig in der stockenden. Und wenn ich mich für einmal in der schnelleren wiederfinde, dann ist das Fass just in dem Moment leer, dann sind die Mohnbrezeln oder die Bratwürste genau in dem Moment ausverkauft, in dem ich hoffnungsfroh das Ziel erreiche.

Ich weiss, es gibt Kulturen, in denen Queueing friedlich und diszipliniert vonstattengeht. Die Briten etwa zelebrieren wartend ihre Coolness. Und der Sowjetmensch hat einst das Schlangestehen als Schicksal akzeptiert und im Witz überhöht. Bei uns aber herrscht immer ein Stossen, Klagen und Reklamieren – sei’s am Skilift, sei’s in der Migros.

Damit ist jetzt Schluss. Das Virus nötigt zu einer Gelassenheit, ja Courtoisie, die ich den Landsleuten nicht zugetraut hätte – am wenigsten allerdings mir selber. Dank klaren Markierungen und freundlichen Aufsichtspersonen, die mit entschleunigten Gesten über den Eingang und Ausgang herrschen, finde ich in den Windungen der Schlange jetzt zu einer eigentümlichen Ruhe und Reife. Zwei Meter Abstand – das schafft Raum zum Verschnaufen. Und wenn ich endlich an der Reihe bin, schreite ich gemessenen Schrittes in die Migros hinein, als ginge es zur Landsgemeinde oder zur Bischofsweihe.

09.26 Uhr

Roman Bucheli · Gestern rief mich mein Nachbar an. Er ist so etwas wie Konzeptkünstler. Er macht poetische Interventionen mit Texten, Papier, mit allem Möglichen. Nun sagt er, er habe mit Mitstreitern einen Schlachtruf entwickelt. Er möchte wissen, was ich davon halte.

Die Corona-Krise lasse ihm keine Ruhe, sagt er, er wolle etwas unternehmen. Jede Fussball-WM habe ihre Hymne, aber wenn wir einmal etwas dringend nötig hätten in schwierigen Zeiten, um das Gemeinschaftsgefühl herzustellen, falle uns nichts ein. Hier ist, was er mir schickte. Das ist eine zauberhafte Mischung aus Eugen Gomringer und Dada. Man muss sich vorstellen, die Verse werden rhythmisiert vorgelesen.

Der Schlachtruf der Nachbarn.

Der Schlachtruf der Nachbarn.

Reto Kaufmann
09.20 Uhr
Mit etwas Glück trifft man beim Joggen auf massenhaft Menschen.

Mit etwas Glück trifft man beim Joggen auf massenhaft Menschen.

cmd.

Claudia Mäder · Der heutige Tag bringt bloss vier Grad, aber wie viel Gutes hat er mir bereits beschert: 27 Menschen habe ich heute Morgen gesehen! Das sind 26 mehr als gestern. Stellt man in Rechnung, dass sich all die Begegnungen in einem Zeitraum von lediglich 35 Minuten zugetragen haben, kommt man auf einen phänomenalen Schnitt von 0,77 Menschen pro Minute – wiederum ein grosser Fortschritt im Vergleich zu gestern, wo die Menschen-pro-Minute-Quote bei 0,0007 lag. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich dereinst derart nach den Menschen sehnen würde, dass ich jeden einzelnen von ihnen zähle. Aber die Dinge ändern sich, und künftig werde ich jeden zweiten Morgen joggen gehen, um unterwegs ein paar Gesichter für den Tag einzusammeln.

09.07 Uhr
Was für eine Trostlosigkeit, wenn die Arbeit ruht!

Was für eine Trostlosigkeit, wenn die Arbeit ruht!

rbl.

Roman Bucheli · Ich gehöre entschieden nicht zu denen, die gerne zu Hause arbeiten. Ich liebe den täglichen Gang in die Redaktion. Und nun sitze ich an meinem kleinen Biedermeiertischchen auf meinem Biedermeierstuhl, starre in einen kleinen Bildschirm, schreibe Biedermeiergedanken auf und fühle mich wie unter einer Glasglocke. Wo sind meine Kolleginnen und Kollegen, und was tun sie gerade? Versäume ich gerade etwas?

Quälende Gedanken – während ich umgekehrt noch nie so ungestört gearbeitet habe! Noch nicht einmal die Baustelle vor meinem Fenster stört mich: Denn ich gehöre auch zu den bekennenden Baustellen-Spotter. Und wenn sie Pause machen, merke ich erst, wie furchtbar still es ohne sie ist. Im nächsten Leben werde ich Baggerführer.

06.38 Uhr
Der Wecker trotzt den neuen Zeiten.

Der Wecker trotzt den neuen Zeiten.

cmd.

Claudia Mäder · Wir leben jetzt in einer neuen Zeit. Ich habe es erst gar nicht gemerkt und bin noch immer ein wenig konfus. Überhaupt könnte man meinetwegen auf diese ganze Übung verzichten. Ja, ich bin gegen diese neue Zeit: Was bringt es denn, die Uhren eine Stunde vorzustellen? Am Morgen ist es länger dunkel, also ist der Weg vom Bett ins Home-Office schlechter zu finden; leicht kann man jetzt über allerlei Möbel stolpern. Am Abend ist es länger hell, also fällt das Daheimbleiben schwerer; gross wird jetzt die Versuchung, sich unter Leute und Viren zu begeben.

In ausserordentlichen Lagen hat daher zum Schutz der Menschen anhaltend Winterzeit zu herrschen: Diesen Vorschlag werde ich den seit ewigen Zeiten über die Zeitumstellung beratenden Gremien in Brüssel schicken. Oder wenn die Uhren in solchen Situationen wirklich vorwärtsgedreht werden müssen, dann wenigstens richtig: ein halbes Jahr statt eine läppische Stunde. Das würde mir gefallen – dann wäre ja bald schon wieder Zeit für die Winterzeit.

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