Die technisch hochgerüstete Gesellschaft ist verletzlicher denn je

Solange Brücken halten, redet niemand von ihnen. Stürzen sie ein, werden sie augenblicklich zu Krisensymptomen. Eine enorme Sorglosigkeit prägt unser Verhältnis zur Infrastruktur.

Steffen Richter
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Infrastrukturen bändigen die Natur und verheissen Sicherheit wie Verlässlichkeit, aber um den Preis individueller Freiheit. (Bild: Luke Sharrett / Bloomberg)

Infrastrukturen bändigen die Natur und verheissen Sicherheit wie Verlässlichkeit, aber um den Preis individueller Freiheit. (Bild: Luke Sharrett / Bloomberg)

Noch ehe nach dem Brückeneinsturz in Genua die Schockstarre angesichts des Todes von 43 Menschen nachgelassen hat, liegen Politiker und Ingenieure, die Betreiberfirma und die Regierungskoalition miteinander im Streit: Sind Konstruktionsfehler oder Wartungsmängel schuld an der Katastrophe, geht es um ingenieurstechnisches Versagen oder finanzielles Kalkül? Wucht und Breite der Auseinandersetzungen sind nicht verwunderlich. Was Genua gerade erlebt, ist ein Moment der Krise, in dem sichtbar wird, was üblicherweise unter den Routinen eines funktionierenden Alltags verborgen bleibt: die Verletzlichkeit unserer infrastrukturell hochgerüsteten westlichen Gesellschaften.

Die Behauptung ist kaum übertrieben, dass Infrastrukturen der unsichtbare Schlüssel zu unserem Lebensstil sind. Seit im späten 19. Jahrhundert Eisenbahnschienen samt Tunnels, Brücken und Telegrafendrähten wie Netze über die Landschaft geworfen und Wasser-, Gas- und Stromleitungen in den Städten verlegt wurden, kann man mit einigem Recht davon sprechen, in einer modernen Welt zu leben. Diese Welt wird permanent mit wichtigen Ressourcen versorgt, sie ist schnell und eng geworden, und sie funktioniert – dank diversen Infrastrukturen.

Damit sind nicht nur die grosstechnischen Anlagen gemeint, die untergründig unseren Alltag prägen. Ganz ähnlich reguliert das Banken- und Börsensystem die Finanzströme, die unsere «technomorphe» Kultur (Hartmut Böhme) erst ermöglichen. Oder es sind bürokratische Verwaltungsapparate und soziale Sicherungssysteme, welche die Risiken unseres Daseins minimieren und unser Leben zumindest begrenzt planbar machen. Der Staatsrechtler und Carl-Schmitt-Schüler Ernst Forsthoff hatte in den 1930er Jahren von «Institutionen der Daseinsvorsorge» gesprochen. Sie waren die Vorgänger unserer ins Technisch-Moderne gewandelten Infrastrukturen.

Alles muss fliessen

Zur Infrastruktur haben sich fast habituell vorwurfsvolle Epitheta wie «marode», «veraltet» oder «unterfinanziert» gesellt: Infrastrukturen sind so «marode» wie Odysseus «listenreich» ist. Das betrifft die New Yorker Subway ebenso wie die Abfallentsorgung in Neu-Delhi oder das Autobahnnetz Rumäniens. Hinter dem Vorwurf verbirgt sich die Erwartung, die öffentliche Hand möge für ein reibungsfrei und effizient ablaufendes Leben sorgen.

Tatsächlich aber ist heute bei Telekommunikation und Post, bei Bahn und Strasse das Modell der Public-private-Partnership dominant. Friktionen bleiben nicht aus – siehe Genua. Angezweifelt wird dieses Modell aber nur im Krisenfall: bei Stau auf der Autobahn, bei mangelnder Netzabdeckung, bei einer defekten Weiche – immer, wenn etwas stockt.

«Alles im Fluss» lautet denn auch der Titel des Buches, mit dem der Leipziger Historiker Dirk van Laak die «Lebensadern unserer Gesellschaft» ins Bild fasst. Van Laaks Studie (S.-Fischer-Verlag, 2018) ist eine höchst lesenswerte Summa aus zwei Jahrzehnten intensiver Beschäftigung. Sie beginnt bei den Kanalbauten und optischen Telegrafen des 18. Jahrhunderts und führt über Autobahnen und Kraftwerke zu heutigen Serveranlagen. Sie verzeichnet koloniale Gross- und Prestigeobjekte, aber auch recht aparte «Infrastrukturen des Glücks», wie sie die Tourismusindustrie in Gestalt von Luxushotels kennt. Nicht zuletzt diskutiert van Laak die vertrackten Ambivalenzen, denen wir ausgesetzt sind.

Denn Infrastrukturen entlasten zwar, führen aber auch in Abhängigkeit. Sie versprechen Sicherheiten in Gemeinschaft – gegen Preisgabe individueller Freiheit. Sie rationalisieren und standardisieren unsere Umwelt und unser Verhalten, normieren und kontrollieren uns aber zugleich. Sie unterstützen die Selbstermächtigung des modernen Menschen via Technik – und führen zu seiner Unterwerfung unter die Apparate. Infrastrukturen lösen Begehrlichkeiten aus, weil sie Wohlstand und Frieden verheissen – doch erhöhen sie unsere Verwundbarkeit im selben Masse, in dem sie einen vermeintlichen Fortschritt befeuern.

Diese Janusgesichtigkeit dürfte für die Attraktivität mitverantwortlich sein, die Infrastrukturen seit je für die Literatur besitzen. Erstaunlicherweise verteufeln Romane keineswegs einhellig jene Rationalität, Kälte und Härte, die Infrastrukturen eigen sind. Vielmehr erliegen Kolonialromane mit ihren Schifffahrts- und Eisenbahnrouten, Kaufmanns- und Börsenromane mit Geldströmen oder Science-Fiction mit verblüffenden Energieressourcen und perfektionierten Verwaltungen oft der Faszination für Funktionalität, Effizienz und Optimierung – dem Rausch dynamischer Fliessgleichgewichte.

Stabilisierende Infrastrukturen, die angesichts forcierter globaler Verunsicherungen immer wichtiger werden, sind zugleich immer anfälliger für Verletzungen.

Das gilt zumindest für das 19. Jahrhundert, ein Säkulum, dem es offenbar schwer möglich war, die Geschichte des Fortschritts als eine Geschichte seiner Dialektik zu erzählen. Im 20. und 21. Jahrhundert freilich ändert sich das grundlegend. Man lese dazu bloss Georg Kleins Romane. Seine technikmusealen Rohrposten und Faxgeräte, seine heruntergekommenen Verkehrseinrichtungen und dysfunktionalen Verwaltungen sprechen eine deutliche Sprache. Sie machen die Historisierung des Fortschritts und seiner Infrastrukturen regelrecht zum Programm.

Dabei wird überdeutlich, dass Infrastrukturen, wie wir sie heute kennen, eine Inkarnation der Modernität sind. Das heisst auch, dass sie als Werkzeuge der Emanzipation von natürlichen Gegebenheiten konzipiert sind. Die Beherrschung von Natur als einem zuzurichtenden Objekt aber ist spätestens mit den geologischen und kulturwissenschaftlichen Debatten um das Anthropozän problematisch geworden.

Beispielhaft kann man ingenieurstechnische Allmachtsphantasien anhand des Atlantropa-Projekts wüten sehen, mit dem Herman Sörgel in den 1920er und 1930er Jahren das Mittelmeer zwecks Energie- und Landgewinnung um 200 Meter absenken wollte – flankiert vom Romanbestseller «Amadeus» des Schweizers John Knittel. Hat man die Zusammenhänge von Flussbegradigungen und Überschwemmungen oder Flug- und Autoverkehr und Erderwärmung vor Augen, ist ein Umdenken und Umbauen unserer Infrastrukturen unerlässlich.

Zunehmende Anfälligkeit

Sind aber Infrastrukturen ohne Naturbeherrschung überhaupt möglich – was taugt das Modell vormoderner Inka-Strassen? Und ist Technik nur als Kulturleistung denkbar? Schon Immanuel Kant, darauf hat Hartmut Böhme hingewiesen, spricht von einer «Technik der Natur». Ob und wie man Ökologie gegen Modernität in Stellung bringen kann und soll, wie es etwa Bruno Latour seit langem fordert, gehört jedenfalls zu den dringendsten und schwierigsten Fragen der Gegenwart.

Die klassische, die schwerindustrielle Ära der Infrastruktur ist sicherlich vorüber. Doch dass Digitalisierung von Materialität entbindet, ist eine längst historisch gewordene Verblendung. Unsere virtuellen Netze brauchen Sendemasten oder Satelliten, Online-Konsum setzt gewaltige Lagerhallen, Fahrzeuge oder Strassen voraus. Einzelne infrastrukturelle Einrichtungen mögen Konjunkturtiefs erleben oder verschwinden, infrastrukturelle Funktionen aber müssen um den Preis einer stabilen Gesellschaft weiterhin erfüllt werden.

Darin liegt die Crux: Stabilisierende Infrastrukturen, die angesichts forcierter globaler Verunsicherungen immer wichtiger werden, sind zugleich immer anfälliger für Verletzungen – sei es durch ökologische Katastrophen oder Terrorismus. Van Laak beobachtet bereits, dass die Selbstverständlichkeit der Infrastrukturnutzung in dem Masse abnimmt, in dem uns unsere Abhängigkeit und Verwundbarkeit vor Augen tritt. Je unsichtbarer Infrastrukturen in ihrem routinemässigen Funktionieren werden, desto höher ist die Gefahr von Unfällen und Katastrophen.

Genua hat das schmerzlich erfahren. Mehr noch: Eine bedingungslos auf Wachstum geeichte Moderne produziert zwangsläufig eine quantitative Ausweitung und qualitative Verdichtung unserer Netze. Routine aber produziert systematisch Krise. Auch das ist eine beunruhigende infrastrukturelle Ambivalenz.

Steffen Richter ist Autor des Buches «Infrastruktur. Ein Schlüsselkonzept der Moderne und die deutsche Literatur 1848–1914», Matthes & Seitz, Berlin 2018, sowie Herausgeber der Zeitschrift «Dritte Natur. Technik – Kapital – Umwelt», ebenfalls bei Matthes & Seitz.