Gesichter der Malerei

Die Schirn Kunsthalle Frankfurt zeigt anhand von über 80 Werken das künstlerische Konzept einer drastisch modernen Malerin aus Finnland.

Bettina Gockel
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Fremd und nahe zugleich – Helene Schjerfbeck: «Selbstbildnis», 1912. (Bild: Finnische Nationalgalerie, Helsinki / © Pro Litteris)

Fremd und nahe zugleich – Helene Schjerfbeck: «Selbstbildnis», 1912. (Bild: Finnische Nationalgalerie, Helsinki / © Pro Litteris)

Gleich nach Picasso wurde sie als ausländisches Mitglied der Königlichen Akademie der freien Künste, Stockholm, aufgenommen – Helene Schjerfbeck (1862–1946), die in Finnland zu Lebzeiten und bis heute hochberühmte Malerin. Ihr widmet die Schirn Kunsthalle Frankfurt jetzt eine kunsthistorisch ambitionierte Schau mit über achtzig Werken und bereichert damit ansehnlich die Feier des Gastlandes Finnland auf der Frankfurter Buchmesse.

Schon im ersten grossen Raum, wo die kleinformatigen Selbstbildnisse von Schjerfbeck einmal in loser Folge, dann wieder zu dichten Gruppen abwechslungsreich gehängt sind, werden die Betrachter mit einer sperrigen Frage konfrontiert: Sind das überhaupt Selbstporträts? Der naturalistisch in Weizenblond, Hellblau und Rosa glänzende Kopf von 1884/85 gehört sicher zu dieser von so vielen Künstlerinnen und Künstlern der Avantgarden bearbeiteten Gattung. Aber wie steht es um das zehn Jahre später gemalte, aus dem Provincial Museum of Western Nyland angereiste, wie durch Nebelschwaden blass aufscheinende Bildnis, das uns nur noch einen Seitenblick schenkt? Ganz zu schweigen von den späten totenmaskenartigen Abarten eines Antlitzes, das wie zum Beispiel in dem aus Privatbesitz stammenden «Selbstbildnis (Eine alte Malerin)» von 1945 aussieht, als habe man jemandem das eigene Fell über die Ohren gezogen? Um es vorwegzusagen: Nein, Porträts sind das nicht, jedenfalls nicht nur. Was aber dann? Müssen diese Bilder nicht zwingend als Selbstbespiegelungen einer hoch- und frühtalentierten, von Paris bis St. Petersburg weitgereisten, dann aber in einem Mini-Apartment mit ihrer Mutter im Dorf Hyvinkää hausenden, hochbetagten Frau gelesen werden?

Die Klischees zerfallen indes schnell. Das einsame Dorf entpuppt sich als nach Kiefernwäldern duftender Luftkurort mit Eisenbahnanschluss. Helsinki, die Kunstmetropole, bleibt auch in den Jahren nach 1902 für Schjerfbeck nahe. Und die schier nicht enden wollenden Serien der Kopfbilder machen klar: Wir sehen hier kein malerisches Selbstexperiment à la Maria Lassnig, auch nicht allein das Gesicht von Helene Schjerfbeck, sondern vor allem das Gesicht ihrer Malerei. Wir sehen die im Laufe der Jahre zunehmend matter, einmal pastos, dann wieder kreidig wirkenden Oberflächen, die an Puvis de Chavannes und Munch erinnern, deren Werke Schjerfbeck kannte. Wie Rasterpunkte blitzt dann die helle Leinwand durch trocken aufgeriebenes Schwarz und verweist auf Farben und Strukturen, die der Abstraktion stets nahe bleiben, ohne sie erreichen zu wollen.

Totenfratze als ästhetisches Vehikel

Es sind Bilder, aus denen es kein Entrinnen gibt, wie das erstaunliche Werk «Die Tür (Alte Klosterhalle)» von 1884 mit schwarz verschlossener Fläche und weiss aufblitzenden Lichträndern auf Grau. Bilder, die den Blick auf die Malerei selbst zwingen. Bilder, die uns ansehen mit den äusserst vitalen Gesten und Spuren einer ganz und gar nicht gebrechlich wirkenden Malerin, die ihre Totenfratze als ästhetisches Vehikel ihrer malerischen Präsenz bis zum äussersten Grauen zu steigern wusste. Das war ihre Antwort auf den Auftrag, den ihr Kunsthändler und Galerist Gösta Stenmann zu ihrer eigenen Verwunderung erteilt hatte. Male mir Selbstporträts, hatte er gefordert, und sie lieferte Selbstbilder ihrer Malerei, Gesichter ihrer Kunst, auf die man, das war ihr klar, Gefühle projizieren und Vorstellungsbilder über die vermeintlich einsame, kranke Künstlerin übertragen würde. Sie, die Thomas Manns «Zauberberg» bewunderte, hatte da schon lange begonnen, sich mit ihrem im Kindesalter zugefügten Hüftschaden in den gesellschaftlichen Rollen des Künstlerdaseins als gebrechliches Genie selbstbewusst zu gerieren und so auch von der Legendenbildung zu profitieren.

Sterbende Helden im Historienbild

Fast mit Erleichterung betritt man dann die Seitenkabinette in Erwartung der frühen patriotischen Historienbilder und Genreszenen, die Schjerfbeck später in reduktionistischer Manier wiederholte. Doch auch hier herrschen vergehendes Leben, Krankheit, Tod vor. Der sterbende Soldat in einsam weiter Winterlandschaft in «Verwundeter Krieger im Schnee» von 1880, der Leichnam Wilhelms von Schwerin, dessen Post-mortem-Kopf in der Adaption von 1927 aus der Kunststiftung Gösta Serlachius, Mänttä, nahsichtig inszeniert wird, die fiebrige kleine Rekonvaleszente – eines der berühmtesten Werke der Künstlerin von 1888, mit dem sie die Bronzemedaille an der Pariser Weltausstellung gewann – oder das dünne «Schulmädchen II» in übergrossem schwarzem Gewand; sie alle zeigen schon die Masken der Vergänglichkeit mit vergrauendem Inkarnat, verrutschten Pupillen, tiefen Augenhöhlen, hohlen Wangen, die in den Selbstbildnissen omnipräsent sind. Fast ist es, als bewege, ja taste man sich verstört wie Nicole Kidman in «The Others» durch eine lichtarme Zwischenwelt, in der Übergänge von Leben und Tod beängstigend verhandelt werden. So zeigt Schjerfbeck immer wieder, dass Malerei eine andere Welt und eine Welt des Anderen erschafft, die in Distanz zur Wirklichkeit deren Basis und Grenzen auslotet. Ist das anstrengend? Durchaus. Aber auch erfrischend neu, denn so werden die Klischees vermeintlicher Frauenkunst beiseitegeräumt, energisch und unterhaltsam. – Nicht nur Freunde des gehobenen «Grunge» werden sich an dieser Ausstellung erfreuen, durch die ein ästhetisierender Todeshauch weht, der aufweckt – für die Kunst Finnlands, für die Kunst von Frauen und für die Ressource Talent, die sich Staat und Gesellschaft damals unter russischer Herrschaft und auf der Suche nach nationaler Identität nicht entgehen lassen wollten.

Gegenwärtig kann Finnland in Frankfurt nicht nur neu gesehen werden. Vielmehr lässt sich von dem kleinen Land im hohen Norden einiges lernen, das bis heute auf die Förderung junger Talente setzt. Das ist zum Beispiel auf der anderen Seite des Mains an der Museumsmeile auf Augenhöhe mit der funkelnden Skyscraper-Skyline im dritten Stock des legendären Architekturmuseums zu entdecken, wo finnische Architektinnen und Architekten der Jahrgänge 1970 bis 1980 ihre fulminant innovativen Bauten – Opernhäuser, Schulen und Privathäuser – für die landschaftlichen Weiten und klimatischen Herausforderungen dieses dünnbesiedelten Landes vorstellen. So entstehen derzeit in Frankfurt Brücken zwischen Geschichte und Gegenwart Finnlands, die als einzigartige Zeitreise in ein Land zu erleben sind, mit dem die meisten Menschen spontan allenfalls die Symphonien Sibelius', Architektur und Design von Aino und Alvar Aalto, die Filme Aki Kaurismäkis und Nokia verbinden werden. Zumindest Helene Schjerfbeck dürfte in Zukunft dank der innovativen Schau in Frankfurt dazugehören, die den Auftakt für weitere Schjerfbeck-Ausstellungen rund um den Erdball bis nach Asien bildet. So will es die brandneue Direktorin des Nationalmuseums Finnlands, Susanna Pettersson, die im astreinen Deutsch die Schau in Frankfurt eröffnete. Man folgt ihr gern.

Helene Schjerfbeck. Schirn Kunsthalle Frankfurt. Bis 11. Januar 2015. Katalog (Kerber-Verlag) € 39.95.