Männlich, weiblich, divers: Mit der freien Wahl wird die Erhebung des Geschlechts sinnlos. Warum verzichtet der Staat nicht ganz darauf?

In der Schweiz kann man sein Geschlecht frei wählen, in Deutschland bald auch. Das ist richtig, aber Gesetzesänderungen sind keine Volkserziehungsprojekte.

Thomas Ribi
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Mann- oder Frausein wird zu einer Frage der persönlichen Entscheidung: ein Teilnehmer eines Schönheitswettbewerbs für Transgender beim Schminken.

Mann- oder Frausein wird zu einer Frage der persönlichen Entscheidung: ein Teilnehmer eines Schönheitswettbewerbs für Transgender beim Schminken.

Soe Zeya Tun / Reuters

Politiker sind manchmal hilflos. Gerade dann sind sie besonders umtriebig. Man hat sie gewählt, damit sie etwas tun, und wenn sie nicht wissen, was sie tun sollen, tun sie es trotzdem. Ganz besonders wenn es um Themen geht, die Konjunktur haben. Genderfragen zum Beispiel. Seit Anfang Jahr kann man in der Schweiz sein Geschlecht frei wählen: Ob jemand offiziell als Mann oder Frau gelten will, ist ein persönlicher Entscheid. Ein Gang aufs Zivilstandsamt genügt, der Eintrag im Register wird geändert, und Mario ist Maria. Amtlich.

In Deutschland liegt seit ein paar Wochen der Entwurf eines Gesetzes auf dem Tisch, welches das gleiche Ziel verfolgt. Nur bietet Deutschland – dies bereits seit einigen Jahren – neben «männlich» und «weiblich» eine dritte Option: «divers», also keines von beidem. Aus Mario soll auch Ma werden können. Alle diese Angaben sind nicht bindend. Man kann sie so rasch wieder löschen, wie man sie geändert hat. Falls man möchte, jedes Jahr wieder.

Der Staat will es Betroffenen leichtmachen. «Menschen, deren biologisches Geschlecht von ihrer geschlechtlichen Identität abweicht, sind keine kranken Menschen», sagt der deutsche Justizminister Marco Buschmann. Aber das Gesetz behandle sie so. Ärztliche Abklärungen und intime Fragen will man ihnen deshalb künftig ersparen. Hohe Kosten auch.

Das andere, beide oder gar keines

Das ist vernünftig, und überhaupt: Warum sollen Gerichte über das Geschlecht eines Menschen befinden? Das ist eine höchstpersönliche Angelegenheit, der Staat jedenfalls hat dazu nichts zu sagen. Schliesslich betrifft die Gesetzesänderung nur den Namen und den Eintrag im Zivilstandsregister. Körperliche geschlechtsangleichende Massnahmen sind im geplanten Gesetz ausgeklammert. Über sie soll auch künftig aufgrund von Fachgutachten beschlossen werden.

Es geht also um das, was im Personalausweis steht. Nur um das, sagt der deutsche Justizminister abwiegelnd. Das stimmt. Und da liegt zweifellos der Pluspunkt des Gesetzes. Es koppelt die Zuordnung des Geschlechts von körperlichen Merkmalen ab. Der Entscheid, offiziell das Geschlecht anzunehmen, dem man sich zugehörig fühlt, ist nicht mehr zwingend damit verbunden, das biologische dem amtlichen Geschlecht anzugleichen – mit chirurgischen Massnahmen, die den Körper irreversibel verändern und später bereut werden könnten.

Aber es ist eine bahnbrechende Neuerung, auch wenn ein rundes Dutzend Länder bereits ähnliche Regelungen kennen. Ob jemand als Mann oder Frau gilt, ist nicht mehr von biologischen Fakten bestimmt, sondern vom individuellen Entscheid. Die neuen Regelungen zielen nicht in erster Linie auf Menschen ab, die genetisch weder eindeutig männlich noch eindeutig weiblich sind. Hauptadressaten sind Menschen mit klaren Geschlechtsmerkmalen, die sich aber nicht ihrem biologischen Geschlecht zugehörig fühlen, sondern dem anderen. Oder beiden. Bald diesem, bald jenem. Oder gar keinem.

Eine Kategorie, die keine ist

Menschen also, die zwischen Mannsein und Frausein schweben. In einem Bereich, der sich nicht exakt vermessen lässt. Aber gerade da, wo eine neue Lösung am wichtigsten wäre, versagt das Gesetz. Es eröffnet ungeheure Freiheiten, verlangt aber Entscheidungen. Man kann wählen, als was man gelten will. Aber wählen muss man. Die Schweizer Lösung lässt Menschen, die sich als binär oder «genderfluid» verstehen, die Wahl zwischen den Bezeichnungen «männlich» oder «weiblich», von denen für viele Betroffene keine infrage kommt. Und die deutsche Regelung schafft mit dem dritten Geschlecht eine Kategorie, die keine ist.

Das als grosser Fortschritt propagierte «dritte Geschlecht» ist ein Bürokratismus, mehr nicht. Auf dem Formular steht ein drittes Kästchen, das man ankreuzen kann. Nur, auch wenn das dritte Kästchen angekreuzt wird, ist es eigentlich leer. Sich als «divers» zu bezeichnen, mag persönlich ein wichtiges Statement sein. Aus verwaltungstechnischer Sicht ist es eine wenig hilfreiche Angabe.

Die Geschlechtsformen, die darunter subsumiert werden, entziehen sich ja ganz bewusst jeder Kategorisierung. Ob zwei oder drei mögliche Geschlechtsangaben zur Auswahl stehen, spielt deshalb keine Rolle: Die Kategorien sind ausgehöhlt. In der Rubrik «männlich» finden sich Personen, die aufgrund ihrer Geschlechtsmerkmale als weiblich gelten können, in der Kategorie «weiblich» solche mit biologisch männlichen Merkmalen, in der Kategorie «divers» genauso. Was bleibt, ist eine unverbindliche Selbstdeklaration. Auf sie kann der Staat verzichten.

Wer gilt wann als Mann oder Frau?

Wenn die Politik die freie Geschlechtswahl erlaubt, warum hat sie dann nicht den Mut, den Geschlechtsstatus gleich ganz abzuschaffen, jedenfalls als staatlich erfasstes Kennzeichen? Der Staatsbürger kommt zur Welt, wird eingeschult, zahlt Steuern, wird vielleicht wehrpflichtig, bezieht AHV: Ob als Mann, als Frau oder keines von beidem, ist nicht von Bedeutung. Und wenn die Gesellschaft in bestimmten Bereichen Geschlechter unterscheiden will: bei der Vergabe von Kaderstellen vielleicht, im Sport, bei der Einrichtung von Garderoben und Toiletten, in Spitälern oder Frauenhäusern, dann kann sie das weiterhin tun. Sie muss nur Kriterien entwickeln, die hinlänglich klarmachen, wann, wo und warum wer als Frau oder als Mann gilt.

So weit hat die Politik allerdings kaum gedacht. Ihr ging es darum, der Forderung der kleinen, aber lauten und leicht kränkbaren LGBTQ+-Minderheit nachzukommen. Politiker wollen ja nicht als hoffnungslos rückständig gelten. Aber sie wissen auch, von wem sie gewählt werden, und versuchen die Forderung so zu erfüllen, dass das Empfinden der Mehrheit, die die Menschen in Männlein und Weiblein einteilen will, nicht allzu stark strapaziert wird. Das ist nicht einfach. Aber vor allem nicht nötig, denn im Grunde versteht es sich von selbst.

Dass man sich bei der Konstruktion seiner Person von den Fesseln biologischer Umstände frei machen darf, ist ein Akt persönlicher Freiheit. Dass ich die Möglichkeit habe, mich als Frau zu entwerfen, wenn ich mich als Frau fühle, auch wenn ich für meine Umgebung als Mann gelte, kann man als Vollendung des Projekts Aufklärung verstehen. Als letzten Schritt aus einer nicht selbstverschuldeten Unmündigkeit. Die freie Geschlechtswahl erlaubt es allen, sich zu dem Menschen zu machen, der sie sein wollen und sein können.

Der Staat ist weder queer noch bi

Ob man diese Option wahrnehmen will, ist das eine. Dass der Staat einem keine Steine in den Weg legt, wenn man es tun will, das andere. Und es ist das Entscheidendere. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat der Politik in den vergangenen Jahren mehrmals vorgerechnet, dass der Staat die freie Entfaltung der Persönlichkeit nur einschränken darf, wenn er einen triftigen Grund dafür vorbringen kann. Und es gibt nur einen: wenn die Rechte anderer Bürgerinnen und Bürger gefährdet werden.

Dass jeder und jede entscheiden kann, ob sie als Mann oder er als Frau, als beides, nonbinär oder fluid gelten will, gefährdet nichts und niemanden. Es ist ein Recht, von dem die Mehrheit keinen Gebrauch machen wird. Doch darin liegt das Wesen des liberalen Staats. Er ist weder hetero noch schwul, weder queer noch bi. Er verpflichtet Bürgerinnen und Bürger nicht auf bestimmte Werte, aber sorgt dafür, dass alle in der Wahl ihrer Lebensform so frei sind, wie dies möglich und für die Gesellschaft verträglich ist.

Mit der freien Geschlechtswahl verleiht der Staat kein Recht, sondern schützt eines. Aber er verhindert keine Konflikte. Ob und wie die neue Geschlechterordnung im Alltag gelebt wird, ist nicht Sache des Gesetzes, sondern der Gesellschaft. Es ist die Sache der Menschen, keine Aufgabe für Politiker und Ämter. Die Änderung des Schweizer Zivilgesetzbuchs und das in Deutschland geplante Selbstbestimmungsgesetz sind Verwaltungsakte, und sie dürfen nicht als Volkserziehungsprojekte verstanden werden.

Der Staat muss liberaler sein als die Gesellschaft, damit die Gesellschaft offen ist für individuelle Lebensentwürfe. Nicht nur für solche, die von bürgerlichen Normen abweichen, sondern auch für die, die sich an ihnen orientieren. Auch wenn der Staat die Bürger nicht mehr auf ihr biologisches Geschlecht behaftet, besteht die Menschheit für die weitaus meisten Leute weiterhin aus Männern und Frauen. Und das ist kein Skandal, auf den man mit Empörung und staatlich verordneten Sensibilisierungskampagnen reagieren muss. Die Freiheit einer Minderheit ist nicht für alle verpflichtend, genauso wenig wie die Freiheit aller anderen für sie. Solange sie nur respektiert wird.

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