Der Mensch führte Krieg gegen die wilde Natur. So lernte er zu überleben

Der Fortschritt in der Welt hat seinen schrecklichen Preis. Mit diesem Sündenfall müssen wir leben. Davon handelt die Erzählung «Der Bär» des grossen amerikanischen Autors William Faulkner.

Mario Vargas Llosa 5 min
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Der Mensch hat der Natur das Land abgerungen. Doch die Natur holt sich zurück, was nicht dauerhaft kultiviert wird. Szene am Ufer des Mississippi.

Der Mensch hat der Natur das Land abgerungen. Doch die Natur holt sich zurück, was nicht dauerhaft kultiviert wird. Szene am Ufer des Mississippi.

Alec Soth / Magnum

Jüngst zog ich mich zurück, um erneut William Faulkners Erzählung «Der Bär» zu lesen. Ich habe sie bestimmt schon zehn Mal oder öfter gelesen. Von Zeit zu Zeit muss ich sie einfach wiederlesen, denn sie gehört zu den schönsten, die Faulkner verfasst hat. Ich weiss nicht, ob es ihm bewusst war, doch alle Wälder, Sümpfe und Wüsten der Welt sind in dieser Ecke Mississippis vereint: die Wüsten Arabiens, die üppigen Regenwälder des Amazonasbeckens, sämtliche Ebenen, die der Mensch mit aller Gewalt durchquerte, um seine Städte zu errichten.

Die Wüsten und Wälder verschwinden, damit der Mensch dort seine Schienen, Fabriken und Städte baut. Der einsame Verteidiger dieser Ecke Mississippis ist Old Ben, ein prachtvoller Bär, der bereits eine stattliche Anzahl von Menschen auf dem Gewissen hat und der hinkt, was ihn am Rennen, nicht jedoch am Kämpfen und Verteidigen des Stücks Wald hindert, das ihm eine Bande armer Teufel, unter ihnen noch einige Sklaven, streitig macht.

Der Bär stirbt im Kampf, wie die Schlangen bei der Verteidigung des Waldes, in einem furiosen Finale, in dem er wie im Wahn den Wald um sich herum zerstört. Bis er schliesslich von Jägern erlegt wird, die bereits Whisky trinken, aber noch nicht einmal zur Schule gehen und sich ihre Jagdgewehre leihen müssen.

Die zivilisatorische Kraft

Die Figuren dieser Geschichte sind vor allem Jugendliche, und der Leser ahnt, dass es sich bei einigen der Namen um Spitznamen handelt: Major de Spain, Tennie’s Jim, General Compson und natürlich Colonel Sartoris. Die Hauptfigur ist ein zu Beginn der Geschichte gerade einmal dreizehnjähriger Jugendlicher und nur ein paar Jahre älter, als er würdevoll das Erbe ausschlägt, das seinen Unterhalt sichern würde. Es sind zweifellos arme Teufel, vielleicht Analphabeten, doch eine zivilisatorische Kraft treibt sie an wie jene, die Menschen wie sie dazu brachte, die Welt mit Städten zu überziehen, bis kaum noch Raum für die Natur blieb.

Alle Wälder und Wüsten sind in dieser Ecke Mississippis vereint. Alle sollten sie im Laufe der Zeit verschwinden, damit der Mensch sich dort ansiedelt und Städte mit mächtigen Maschinen wie Zügen und Autos errichtet und grosse Fabriken, in denen die Leute wie Ameisen schuften. Was hätte Old Ben dazu gesagt, wenn er reden könnte? Vielleicht hätte er sich übergeben, wenn er erlebt hätte, dass die Menschen die Wälder und Strände, die Sümpfe und Flüsse vernichten, um dort ihre Krankenhäuser zu bauen, und die grossen Sandflächen in Strassen verwandeln.

Die Erzählung, die den schlichten Titel «Der Bär» trägt, zwingt uns zum Nachdenken, sie zwingt uns, in den jugendlichen Jägern Zerstörer zu sehen, die, angetrieben von einem unauslöschlichen Feuer, die natürliche Welt verdrängen, bis kein Raum mehr bleibt für Wildtiere. Bevor er stirbt, verliert Old Ben den Verstand: Im Wahn greift er Hütten und Bäume und die ihn jagenden Hunde an, und mit doppelter Kraft richtet er ein unglaubliches Gemetzel an. Am Ende stirbt er, und sein Abschied aus diesem Leben symbolisiert auch das Verschwinden der Haine und Seen, wo vor der Ankunft des Menschen die Tiere lebten.

Es geht um das Aussterben, und das heisst hier: Es geht um das Verschwinden einer ursprünglichen Welt, die durch die Zivilisation, durch Städte, Schulen, Kinos oder Universitäten, wo die Menschen sich bilden und gute Manieren lernen, ersetzt wird. Diese Menschen würden jene nicht wiedererkennen, deren Zeit mit Old Ben zu Ende ging und die ihr Leben riskierten, indem sie den Bären herausforderten, diesen Einzelgänger, der den Wald, die natürliche Welt, bis zum eigenen Tod verteidigte.

Im weiteren Verlauf der Erzählung zerstört ein Holzunternehmen die mächtigen Bäume und fröhlichen Bäche und die Tausende von Vögeln und Insekten, die zwischen diesen Bäumen wimmeln. So gelesen wirkt «Der Bär» wie ein Protest gegen die Errungenschaften der Zivilisation, eine Verteidigung des zutiefst Ursprünglichen, und dennoch: Wie ungerecht sind wir, wenn wir eine so schöne Erzählung auf diese Weise lesen.

Die Zivilisation ist eine unumkehrbare Tatsache. Belesene Jugendliche sind diesen Analphabeten vorzuziehen, die mit einem Gewehr schiessen können, aber nie ein Buch gelesen haben, und die sich im Zug in der Toilette einschliessen, um heimlich Whisky zu trinken. Trotz allen schönen und rückwärtsgewandten literarischen Anstrengungen ist die Zivilisation eine Realität, die im Mittelpunkt der Erzählung aufscheint.

Die gebildeten jungen Leute, die kulturell interessierten Frauen und Männer, die Museen besuchen, Filme schauen und Bücher lesen, entfernen sich immer weiter von der ursprünglichen Welt, in der sich das Leben ihrer Vorfahren abspielte. Was ist besser? Die Mücken dieser Wälder, die die Menschen dazu zwingen, sich Tag und Nacht zu kratzen, und das Warten auf den tödlichen Biss einer Giftschlange oder Städte mit Spitälern und Ärzten, wo Krankheiten behandelt werden und man gut versorgt wird?

Eine Erinnerung an die Herkunft

Die Literatur ist trügerisch. Auf ihren Seiten tauchen nicht die Schlangen und Plagen auf, die ganze Regionen verheeren, in denen später unser zivilisiertes Leben einziehen wird. Damit wir Geschichten wie «Der Bär» lesen können, ohne der Wildheit dieser ursprünglichen Welt zu verfallen, in der der Mensch rücksichtslos triumphierte und die Tiere zurückwichen und, ohne nachzudenken, starben.

All diese Gedanken sind mir gekommen, während ich Faulkners Erzählung und seine vielen Nachahmer las. Er ist einer der grossen Romanciers des 20. Jahrhunderts und wahrscheinlich derjenige, der die englische Sprache am besten beherrschte. Sogar beherrschte er sie in einem Mass, dass er sie infantilisierte und in diesen grausamen Zustand zurückversetzte, von dem diese Geschichte erzählt.

Als die Menschen den grossen Sprung machten, der, ohne dass sie es wissen oder ahnen konnten, zu den Wolkenkratzern führen würde, die die Sonne verdecken. Was in uns das Bedürfnis weckt, uns an die Zeiten zu erinnern, als unsere Vorfahren Wälder, Flüsse und Berge eroberten, angetrieben von etwas, von dem sie noch nicht einmal eine Vorstellung hatten: der Zivilisation.

Das ist das Aussergewöhnliche der Literatur: Sie ermöglicht es uns, in der Vergangenheit zu leben, in der primitivsten Welt, und sie erinnert uns daran, woher wir kommen, denn wir waren alle einmal Analphabeten, so grausam wie die Schlangen, die wir immer wieder vernichten, um unsere Städte zu erbauen. Um dank den Krankenhäusern und Ärzten und allen Sicherheitsvorkehrungen des modernen Lebens geschützt zu sein – so gut es geht.

Der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa wurde 1936 in Peru geboren und lebt seit bald drei Jahrzehnten in Madrid. © Mario Vargas Llosa, 2023. – Aus dem Spanischen übersetzt von Carsten Regling.