Zufällig ist die Passantin bei den Grünen: Fernsehsender befragen immer wieder Leute, die politisch aktiv sind – und untergraben mit ihrer Intransparenz das Vertrauen in ARD und ZDF

Dass die Zuschauer davon oft nichts erfahren, ist ein Problem. Aber ist es auch ein Beweis für den vielbeschworenen Linksdrall öffentlichrechtlicher Medien?

Ferdinand Knapp, Berlin 5 min
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Wiederholt tauchen vor Kameras von öffentlichrechtlichen Sendern Demonstranten auf, die sich später als Kommunalpolitiker entpuppen.

Wiederholt tauchen vor Kameras von öffentlichrechtlichen Sendern Demonstranten auf, die sich später als Kommunalpolitiker entpuppen.

Imago

Interviews an Demonstrationen oder Strassenumfragen sind ein gängiges Mittel im Journalismus, um die Stimmung der Bevölkerung einzufangen. Dem Zuschauer wird suggeriert, dass der Durchschnittsbürger vor der Kamera spricht – die von Grünen bis CDU beschworene «Mitte der Gesellschaft».

Jüngst tauchten im Netz jedoch immer wieder Fälle von interviewten Passanten im deutschen öffentlichrechtlichen Rundfunk auf, die parteipolitisch aktiv sind – ohne dass das Publikum mit entsprechenden Einblendungen darüber informiert worden wäre. Der X- und Instagram-Account «ÖRR Blog», der ARD und ZDF kritisch beäugt, hat seit Jahresbeginn nach eigener Aussage über 100 solcher Fälle dokumentiert.

Einige der Fälle hat die NZZ stichprobenartig nachgeprüft und die öffentlichrechtlichen Anstalten konfrontiert.

Zwei von fünf Befragten sind Juso-Mitglieder

Brisant ist etwa ein Bericht des vom Norddeutschen Rundfunk produzierten «Hamburg-Journals» vom 19. Januar: Am Nachmittag versammeln sich in der Hansestadt 180 000 Menschen als Reaktion auf die Recherche von Correctiv über ein angebliches Geheimtreffen von Rechten und Rechtsextremen zu einer Demo gegen «rechts». Der NDR strahlt die Interviews von fünf ausgewählten Demonstrationsteilnehmern aus.

Mit den Worten «Vielen Hamburgern ging es auch darum, die Lehren des ‹Dritten Reiches› nicht zu vergessen» kündigt der Redaktor des Beitrags die erste Stimme an. «Die Zustände von 1933, alle, die in Geschichte aufgepasst haben, wissen, warum das wichtig ist, die dürfen sich nicht wiederholen», sagt eine junge Frau, während sie ein Plakat in die Kamera hält, auf dem steht: «AfD wählen ist so 1933». Auch ein junger Mann spricht. Man müsse ein Zeichen gegen die in Teilen rechtsextreme AfD setzen, sagt er. Die Namen der Befragten werden nicht eingeblendet.

Bei den beiden Demonstranten handelt es sich um Yasmin Hohberg und Christian Pereira Mayemba. Die beiden sind die stellvertretenden Landesvorsitzenden der Jungsozialisten (Juso) Hamburg, der Jugendorganisation der SPD. Davon erfährt der Zuschauer nichts.

Nur Zufall? Möglicherweise haben die beiden Jungsozialisten versäumt, dem Redaktor ihr Parteiamt mitzuteilen. Der NDR reagierte auf die Kritik: «Yasmin Hohberg und Christian Pereira Mayemba wurden als zwei von insgesamt vier Passanten befragt. Eine Parteimitgliedschaft ist hierbei kein Ausschlusskriterium, da die Demokratie von Engagement in Parteien lebt.»

Über 100 000 Menschen demonstrierten am 19. Januar gegen «rechts» am Jungfernstieg in Hamburg.

Über 100 000 Menschen demonstrierten am 19. Januar gegen «rechts» am Jungfernstieg in Hamburg.

Stephan Wallocha / Imago

Eigene Kollegin interviewt

Bereits im vergangenen Jahr sorgten zwei Fälle für Aufregung. Im Februar 2023 befragte eine ZDF-Reporterin eine Fahrradfahrerin, die sich begeistert über die Sperrung der Berliner Friedrichstrasse für Autofahrer zeigte. Mehrere Medien deckten auf, dass die Passantin 2021 in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern gewählt werden wollte – für die Grünen. Dem Medienmagazin «Übermedien» teilte das ZDF damals mit, die zuständige Reporterin habe alle Interviewpartner nur zufällig angetroffen.

Im August des vergangenen Jahres berichtete ein Reporter der deutschen «Tagesschau» über eine PR-Aktion des Discounters Penny, die das Umweltbewusstsein der Kunden stärken sollte. Eine Kundin erklärte der «Tagesschau», wie toll sie diese Aktion finde. Später stellte sich jedoch heraus, dass die Frau selber Mitarbeiterin des öffentlichrechtlichen Rundfunks ist. Die «Tagesschau» bat für den Fehler um Entschuldigung und erklärte, der Reporter habe seine Kollegin nicht gekannt.

Wenn man dem eingangs erwähnten «ÖRR Blog» Glauben schenken mag, handelt es sich häufig um Lokalpolitiker von Grünen, SPD oder der Linkspartei, die bei solchen Kurzinterviews auftauchen. Die Betreiber des Accounts werfen dem öffentlichrechtlichen Rundfunk daher einen Linksdrall vor.

Nicht alle der Fälle sind aber von Relevanz: Manchmal hat der Interviewte zwar ein Parteibuch, führt aber kein Amt aus. In mindestens einem anderen Fall recherchierten die Betreiber des Blogs schlecht. Sie übersahen, dass im Beitrag die Parteimitgliedschaft der Person sehr wohl erwähnt wurde.

Zudem kritisiert ein weiterer X-Account, der «ÖRR Blog Watch», dass der «ÖRR Blog» einseitig Beispiele skandalisiere, in denen es um Anhänger von linken Parteien gehe. So präsentiert der «ÖRR Watch Blog» Dutzende Fälle, in denen Lokalpolitiker von CDU, CSU und Freien Wählern interviewt wurden, ohne dass die Parteizugehörigkeit deklariert wurde – etwa während der Bauernproteste.

Person mit Parteiamt interviewt? Kein Problem

Fragt man bei den Rundfunkanstalten nach, entsteht der Eindruck, dass einige gar kein Problem darin sehen, wenn Parteiaktivisten wie «normale» Zeugen befragt werden. Das ZDF schreibt auf Anfrage der NZZ: «In der Regel nennen die Redaktionen in der Bauchbinde die Eigenschaft, in der die Menschen O-Töne geben. Eine etwaige Parteizugehörigkeit oder Funktion in der Lokalpolitik ist dabei nicht immer das wesentliche Merkmal.»

Anders sieht es die ARD: Ein Sprecher sagt, man kläre Fragen zum politischen Engagement vor Interviews ab. Personen, die ein aktives Parteiamt hätten, würden nicht befragt. Eine blosse Mitgliedschaft in einer Partei sei jedoch kein Ausschlusskriterium, und man frage auch nicht danach.

Nicht alle wollen vor die Kamera

Aber warum scheinen die öffentlichrechtlichen Kameras Lokalpolitiker magisch anzuziehen? Die nächstliegende Erklärung wäre, dass weder die Befragten sich als Lokalpolitiker zu erkennen geben, noch der Redaktor nachfragt. Der Mitteldeutsche Rundfunk etwa räumt dies auf NZZ-Anfrage ein. Auf einen Fall angesprochen, schreibt ein Sprecher des MDR: «Die kommunale parteipolitische Tätigkeit des Befragten war den Autoren in dieser Situation nicht bekannt, weshalb diese im tagesaktuellen TV-Beitrag auch nicht benannt worden ist.» Man habe jedoch den Beitrag auf der Website des Senders angepasst.

Möglicherweise handelt es sich um ein grundlegendes Problem: Viele Menschen meiden den Kontakt zur Presse, vor der Kamera wollen sie erst recht nicht sprechen. Nicht jeder ist bereit, an Kundgebungen seinen Namen preiszugeben, manch ein Teilnehmer will zwar reden, aber nur anonym. Lokalpolitiker dagegen haben meist weniger Berührungsängste, da sie wegen ihres Parteiamts Öffentlichkeitsarbeit gewohnt sind.

Zudem ist es wenig überraschend, dass bei einer Demonstration gegen «rechts» Anhänger und Funktionäre von Parteien links der Mitte teilnehmen, während bei den Bauernprotesten eher Teilnehmer aus dem rechten politischen Spektrum anzutreffen sind.

Maximale Transparenz könnte gegen Vertrauensverlust helfen

Dass viele Fernsehzuschauer jedoch erst über Blogs, Beiträge auf X oder Berichte in anderen Medien von dem Parteiamt der Befragten erfahren, dürfte das Vertrauen in die öffentlichrechtlichen Sender kaum stärken.

Immerhin: Beinahe alle angefragten öffentlichrechtlichen Sender haben jeden Fall akribisch nachgeprüft und darüber Auskunft gegeben. Bleibt die Frage, warum das nicht schon vor der Ausstrahlung eines Beitrags getan wurde. Mehrere Sender teilen mit, man «sensibilisiere alle Autoren dahingehend, im Anschluss an Befragungen Crosschecks über die Gesprächspartner durchzuführen».