Pionierin im Herrenklub: Annemarie Hubacher-Constam gestaltete Wohnen, Leben und Gesellschaft

Die «Frauenlandi» war vergänglich, die Erinnerung an die Zürcher Architektin bleibt.

Anna Schindler
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Ein Architektenteam mit Wirkungskraft: Hans Hubacher, Annemarie Hubacher-Constam und Peter Issler, um 1950.

Ein Architektenteam mit Wirkungskraft: Hans Hubacher, Annemarie Hubacher-Constam und Peter Issler, um 1950.

Familienarchiv Hubacher

Hundert Jahre alt wäre Annemarie Hubacher-Constam (1921–2012), Chefarchitektin der zweiten Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit (Saffa), heute. Sie war eine der ersten Frauen im Herrenklub der Schweizer Architektur und hinterlässt uns nicht nur Bauten, die Zürichs Stadtbild prägen, wie das Strandbad Mythenquai, die Glaskuppeln der Gewächshäuser im Botanischen Garten oder das Hotel Atlantis am Fuss des Üetlibergs. Vor allem bleibt die Erinnerung an einen Pioniergeist, der auch heute dringend benötigt wird.

Nicht ganz hundert Jahre hatte es gedauert, bis an der 1855 eröffneten Eidgenössischen polytechnischen Schule in Zürich die erste Architektin diplomiert wurde: Flora Steiger-Crawford verliess die heute ETH genannte Hochschule 1923 und tat, was in dieser Zeit der einzige Weg in die selbständige Arbeitswelt für junge Frauen war: Sie eröffnete ein Architekturbüro gemeinsam mit ihrem Ehepartner.

Zelt- und Turmbauten

Zwei Jahrzehnte später tat Annemarie Hubacher dasselbe. Die Enkelin von Gustav Gull, dem Erbauer des Landesmuseums und des Zürcher Stadthauses, begründete nicht nur eine Lebens-, sondern auch eine Bürogemeinschaft mit ihrem Mann Hans Otto Hubacher. Das Paar baute erst Einfamilien- und Landhäuser und spielte dabei erfolgreich mit schlichten Materialien und einfachen Linien, die an skandinavische Vorbilder erinnern. Ihr Bad am Mythenquai ist bis heute ein beliebtes Ziel, für das eigene Wohnhaus von 1955 erhielten die Architekten von der Stadt Zürich die bis heute geführte «Auszeichnung für gute Bauten».

Die später oft als eines ihrer zentralen gemeinsamen Werke bezeichnete Wohnsiedlung Rietholz in Zollikon (1961) verfolgte eine andere Architektursprache: Komplett aus Beton-Fertigelementen erstellt, sollte die Siedlung zeigen, dass die industrielle Serienbauweise nicht im monotonen Plattenbau enden muss. Geprägt war dieser Gestaltungswille von der wohl wichtigsten Erfahrung nicht nur für Annemarie Hubacher selber, sondern für alle Architektinnen ihrer Zeit: der Saffa.

Annemarie Hubacher-Constam mit der Architektin Anna Cordes vor dem Modell des Saffa-Wohnturms.

Annemarie Hubacher-Constam mit der Architektin Anna Cordes vor dem Modell des Saffa-Wohnturms.

Familienarchiv Hubacher

Vergänglichkeit bestimmte das Programm der «Frauenlandi». Die ephemere Ausstellungsarchitektur, die vorfabrizierten zylindrischen Zeltbauten und der begehbare Wohnturm waren aus industriellen Bauteilen errichtet, zum Beispiel aus Stoffbahnen, die um Stahlstäbe geflochten wurden, um sie straff zu halten, oder ungehobelten Holzschalungen. So konnten sie nach der Ausstellung abgebaut und wiederverwendet werden. «Aus der Not der kurzen Ausstellungsdauer und der begrenzten finanziellen Mittel wurde eine Tugend gemacht», sagte Annemarie Hubacher – design to cost avant la lettre.

Fünf Dutzend Frauen gestalten mit

Der Chefarchitektin stand ein grosses Frauenteam zur Seite: 33 Architektinnen, eine Ingenieurin und 34 Grafikerinnen. Sie gestalteten auf der Landiwiese und der eigens aufgeschütteten Saffa-Insel eine Ausstellung, deren Masterplan einerseits State of the Art im zeitgenössischen Städtebau war, andererseits aber auch die Themen aufnahm, die den Frauen zugesprochen wurden, um sie in moderner weiblicher Perspektive umzusetzen.

Im Vorfeld der Abstimmung zum Frauenstimmrecht wurde in Zürich vor 60 Jahren, am 17. Juli 1958, die zweite Ausstellung für Frauenarbeit (Saffa) eröffnet. – Architektin Annemarie Hubacher-Constam (rechts) mit drei Frauen beim Spatenstich der Saffa 58 im Jahre 1957. (Bild: Keystone)
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Die Ausstellung unter dem Motto «Die Schweizerfrau, ihr Leben, ihre Arbeit» fand auf der Landiwiese in Zürich statt. Für den Anlass schütteten die Organisatorinnen die kleine, noch heute existierende Saffa-Insel auf. – Aussicht vom Wohnturm auf die Saffa-Insel, Juli 1958. (Bild: Keystone)
Bundespräsident Thomas Holenstein trifft mit seiner Ehefrau (links) und der Präsidentin des Organisationskomitee, Erika Rikli (Mitte), zur Eröffnung am 17. Juli 1958 auf der Landiwiese in Zürich ein. Im Hintergrund folgen weitere Bundesräte mit ihren Frauen. (Bild: Walter Studer / Keystone)
Am Eröffnungstag der Saffa 58 begrüssen sich die OK-Präsidentin Erika Rikli (links) und die Architektin der Ausstellung, Annemarie Hubacher-Constam (rechts), und stellen sich den Fragen der Presse. – Die erste Saffa fand 1928 in Bern statt – Chefarchitektin war Lux Guyer (Bild: Hans-Ueli Bloechliger / Keystone)
Zum «Thurgauertag» der Saffa brachte ein Extrazug gegen tausend Festteilnehmer aus dem Kanton Thurgau nach Zürich. Der sehr heisse Tag lockt eine Gruppe von Thurgauern zum ausgelassenen Fussbad im Zürichsee (Bild: Jules Vogt / Keystone)
Ein achtstöckiger «Wohnturm», in dem verschiedenste Aspekte rund ums eigene Heim thematisiert wurden, war das Wahrzeichen der Saffa. Annemarie Hubacher-Constam gehörte zu den ersten Schweizer Architektinnen, die Ende der 1950er Jahre in den Bund Schweizer Architekten aufgenommen und damit überhaupt in ihrem Beruf ernst genommen wurden. (Bild: Jules Vogt / Photopress-Archiv / Keystone)
Drei Frauen geniessen am Pressetag die Aussicht vom Wohnturm auf den See und das Ausstellungsgelände. (Bild: Hermann Schmidli / Keystone)
Die Ausstellung, die auch «Frauenlandi» genannt wurde, war ein Grosserfolg. Zwei Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer strömten in die Schau, fast täglich gab es spezielle Attraktionen wie Konzerte, Kongresse und Kantonaltage. Zwei Besucher geniessen die Aussicht vom Turm-Café aus. (Bild: Keystone)
Besucherinnen bei der Eröffnung der Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit (Saffa 58) im Juli 1958 auf der Landiwiese in Zürich. (Bild: Hans-Ueli Blöchliger / Keystone)
Die Ausstellung wurde vom Bund Schweizerischer Frauenorganisationen (BSF) unter dem Motto «Lebenskreis der Frau in Familie, Beruf und Staat» organisiert. Im Bild: Besucher der Saffa 58 schauen einer Frau bei der Arbeit zu. (Bild: Jules Vogt / Photopress-Archiv / Keystone)
Innenaufnahme aus dem Pavillon «Ernährung». Es gab Dutzende von Ausstellungspavillons zu Themen wie «Lob der Arbeit», «Die Frau im Dienste des Volkes» oder «Eltern und Kinder». (Bild: Jules Vogt / Photopress-Archiv / Keystone)
Besucherinnen der Ausstellung. (Bild: Hans-Ueli Blöchliger / Keystone)
Zum Bau der Ausstellung hatte Annemarie Hubacher-Constam allerdings bereits ein ganzes Frauenteam um sich geschart: Insgesamt 33 Architektinnen, 1 Ingenieurin und 34 Grafikerinnen arbeiteten für die Pionierin (Bild: Hans-Ueli Blöchliger / Keystone)
Drei Frauen grillieren Cervelats am «Meitli-Tag». – Die Ausstellung wies auf die Stellung der Frau im öffentlichen Leben, im Beruf und in der Familie hin und förderte die Diskussion der Geschlechter. (Bild: Hermann Schmidli / Photopress-Archiv)
Emil Landolt, der Zürcher Stadtpräsident, versucht im «Männerparadies», zur Erheiterung anderer Besucher, dem «Watschenmann» eine möglichst kräftige Ohrfeige zu erteilen. (Bild: Keystone)
Im «Männerparadies» gab es unter anderem auch eine «Witztankstelle», «mann» konnte nach Herzenslust mit dem Luftgewehr schiessen und Bier trinken. Im Bild: Hier versuchen sich eine Handvoll Männer unter weiblicher Anleitung im Stricken (Bild: Hans-Ueli Blöchliger / Keystone)
Bundesrat Thomas Holenstein an der «Witztankstelle» im «Männerparadies». (Bild: Hans-Ueli Blöchliger / Keystone)
Unter dem Motto «Die Schweizerfrau, ihr Leben, ihre Arbeit» liessen Architektinnen, Ingenieurinnen und Gestalterinnen sogar die legendäre Gondelbahn der Landi neu aufleben. (Bild: Hans-Ueli Blöchliger / Keystone)
Die Gondelbahn führte allerdings nicht über den See, sondern dem linken Seeufer entlang, vom Bürkliplatz zum Mythenquai. (Bild: Hermann Schmidli / Keystone)
Die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit wird dank dem unermüdlichen Einsatz vieler Frauen zu einem grossen Erfolg. Mit dem Erlös der ersten Ausstellung gründen die damaligen Frauenorganisationen 1931 die Bürgschaftsgenossenschaft Saffa, die seither selbständige Unternehmerinnen fördert. Im Bild: Luftaufnahme vom Ausstellungsgelände der Saffa auf der Landiwiese beim linken Zürichseeufer. (Bild: SDLI / Photopress-Archiv / Keystone)

Im Vorfeld der Abstimmung zum Frauenstimmrecht wurde in Zürich vor 60 Jahren, am 17. Juli 1958, die zweite Ausstellung für Frauenarbeit (Saffa) eröffnet. – Architektin Annemarie Hubacher-Constam (rechts) mit drei Frauen beim Spatenstich der Saffa 58 im Jahre 1957. (Bild: Keystone)

«Die Frau als Gestalterin des Wohnens» war eines dieser Kapitel, und die Chefin der Saffa schuf dafür höchstpersönlich ein Gefäss: einen 30 Meter hohen Turm, eine zweiseitig mit Wellaluminium verkleidete Stahlkonstruktion mit transparenten Brüstungen aus Armierungsnetzen. Mit dem Lift ging es in die achte Etage – schliesslich war Annemarie Hubacher die Tochter eines Ingenieurs und vertraut mit den technischen Entwicklungen –, ins Café mit Aussichtsbalkon und zum Stadtmodell, und zu Fuss wieder hinunter über eine Rampe, die sich um die Fassade wand.

Zwei Geschosse gehörten allein dem neuzeitlichen Wohnen «für untere und mittlere Einkommensschichten» für die verschiedenen Lebensalter mitsamt einer Wohnberatung. Auch das «Saffa-Kirchlein» – ein kleiner Sakralbau, der von den Frauenbünden verschiedener Konfessionen gemeinsam betrieben wurde – hatte Annemarie Hubacher selber entworfen und als Zeichen für die ökumenische Frauenbewegung neben den Haupteingang gestellt.

Die Architektin unterstützte damit die Diskussion um die Sichtbarkeit von Frauen nicht nur in künstlerischen und gestaltenden Berufen, sondern überhaupt in der Gesellschaft – auch wenn die wenige Monate später stattfindende Abstimmung über das Frauenstimmrecht vorerst nochmals scheitern sollte.

Annemarie Hubacher wollte ernst genommen werden als Gestalterin in der von Männern dominierten Architekturwelt, und sie erreichte dieses Ziel ein Jahr nach der Saffa, als sie in den Bund der Schweizer Architekten (BSA) aufgenommen wurde. Seit zwei Jahren liegt ihr Nachlass nun auch im Archiv der ETH Zürich, einsehbar für die Nachwelt, damit nie vergessen gehen wird, wie sie mit ihrem Werk und ihrer Überzeugung vielen nach ihr den Weg gebahnt hat.