Er ist einer der letzten Altliberalen und moderner als jeder Progressive: Zum Denken des britischen Provokateurs Roger Scruton

Alles Extreme war ihm suspekt, Utopien nicht minder als Dystopien. Der britische Intellektuelle Roger Scruton plädiert für ein Leben im grossen Überlieferungszusammenhang, das sich an Mass und Mitte orientiert. Damit war er seiner Zeit voraus.

Sebastian Kleinschmidt
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Roger Scruton beim Internationalen Buchfestival in Edinburgh im August 2016.

Roger Scruton beim Internationalen Buchfestival in Edinburgh im August 2016.


Gary Doak / Alamy

Der englische Dichter Matthew Arnold schrieb einmal, «dass Freiheit ein sehr gutes Pferd ist, aber nur, um darauf irgendwohin zu reiten». Dieser Ansicht war auch Roger Scruton. Zum einen weil er selbst gern ritt, zum andern weil er wusste, «Freiheit» ist keine ausreichende Antwort auf die Frage, woran Konservative glauben.

Freiheit braucht Ziele, am besten sinnvolle. Konservatismus, sagt der eben verstorbene Philosoph Scruton, beginne mit einem Gefühl, das alle reifen Menschen bereitwillig teilen, dem Gefühl nämlich, dass das, was gut ist, leicht zu zerstören, jedoch nur schwer aufzubauen sei. Die Revolutionen des 20. Jahrhunderts, sowohl die von links wie die von rechts, sind geschichtliche Lehrstücke dieser Erfahrung.

Als in der Wolle gefärbter Konservativer war Scruton eine Ausnahmeerscheinung unter den öffentlichen Intellektuellen im Westeuropa von heute. Altliberale – in Grossbritannien hiessen sie einst Whigs – wie er sind hier selten geworden und bestimmen nicht die kommunikativen Terms of Trade. Er galt aber auch unter seinesgleichen als apart, denn alles Rückwärtsgewandte war ihm suspekt.

Tote, Lebende, Ungeborene

Wer sich fragt, ob es einen Sinn hat, konservative Autoren zu lesen, sollte also zuerst erkunden, was mit «konservativ» gemeint ist. Scrutons konservative Disposition hat einen zeitlichen und einen räumlichen Akzent. Unter Gesellschaft verstand er in Anlehnung an Edmund Burke eine Verbundenheit der Toten, der Lebenden und der noch Ungeborenen. Sie gründet nicht in einen Vertrag, sondern entsteht durch etwas, das der Liebe nahekommt. Wir Lebenden sollten uns als Glieder einer langen Kette von Gebenden und Nehmenden verstehen und auf diese Weise begreifen, dass es uns nicht zusteht, etwas Gutes, was unsere Vorfahren geschaffen haben, zu vernichten. Die Gesellschaft ist ein gemeinsames Erbe, aus dem wir lernen müssen, unsere Forderungen einzuschränken.

Falls es im Konservatismus einen Platz für Gleichheit gibt, dann für die Gleichheit zwischen den Generationen. Sie allein belehrt über ungerechtfertigte Ansprüche einer selbstherrlichen Gegenwart und erschwert das kurzsichtige, gedächtnislose Einvernehmen der agilen Zeitgenossen. Dass die Zukunftsbilder inzwischen kaum noch Paradiese und fast ausschliesslich die Hölle prophezeien, ändert daran nichts, signalisiert aber das Näherkommen von Gefahr. Und hier scheiden sich die Geister. Die einen schüren das Feuer der Apokalypse, die anderen ermahnen den nüchternen Hausverstand, der Evidenz des sozial wie ökologisch Fälligen politisch Genüge zu tun.

Der generationenübergreifende Begriff von Zeit findet bei Scruton seine Ergänzung in einem auf Eingrenzung von Territorien zugeschnittenen Begriff des Raums. Der 2016 von der Queen in den Adelsstand erhobene Sir Roger ist ein Landedelmann und als solcher ein Verteidiger gemeinschaftlicher Sesshaftigkeit. Er gehört zu den Somewheres, nicht zu den Anywheres. Seine Idee von Nation und Staat basiert auf dem Territorialprinzip. Die Ortsbindung von Recht und Freiheit ist ein entscheidendes Moment der Loyalität der Bürger und ein Garant ihrer Souveränität. Sie ist zugleich eine Quelle der Tradition. Zugehörigkeit und Wir-Gefühl haben hier ihren Grund. Liebe zur Heimat nicht minder.

Wer auf einem Pferd hinaus in die Landschaft seiner Kindheit reitet, weiss, was gemeint ist. Scruton lebte auf einem eignen Bauernhof in Südwestengland. Seine Philosophie ist auch eine Philosophie der Ländlichkeit, des naturnahen Lebens in kleinen Ordnungen und des nachbarlich gestützten Selbsthelfertums der Einzelnen. Regionale Verwurzelung statt globale Entwurzelung. Wo das Wir des grossen Zirkels Tragkraft nicht gewinnt, springt das Wir der kleinen Kreise freudig in die Bresche. Wie heisst es so schön bei Leopold Kohr, dem klugen Gegner alles Kolossalen? «Small is beautiful.» Und weiter: «Whenever something is wrong, something is too big.»

Vom Wert echter Urbanität

Scruton ist auch ein Denker für Urbanisten. Die Stadt, wie wir sie von den alten Griechen ererbt haben, sah er als Institution, die in engem Zusammenhang mit der Gesittung Europas steht. Dass Fremde sich an einem Ort zusammenfinden und sich derselben Rechtsordnung unterstellen, um miteinander in friedlicher Nachbarschaft zu leben, stellt eine der grössten Errungenschaften unserer Spezies dar. Die urbanen Gesellschaften seien verantwortlich gewesen für all die bedeutsamen kulturellen, politischen und religiösen Neuerungen der Zivilisation. Entsprechend gebe es im westlichen Kulturerbe nichts Kostbareres als die europäischen Städte. Doch dieses Erbe sei auch missachtet worden.

In seinem Essay «Bauen, was bleibt» erzählt Scruton von dem luxemburgischen Architekten Léon Krier und dessen Kampf gegen die modernistischen Irrtümer in Baukunst und Stadtplanung. Krier wurde Ende der achtziger Jahre vom britischen Thronfolger Prinz Charles gebeten, auf dessen Pachtland in der Grafschaft Dorset die Modellstadt Poundbury zu entwerfen, deren Gestaltungsprinzipien sich an traditionellen Formen des englischen Landhausstils orientieren sollten.

Die erstaunlich abwechslungsreiche und als Ensemble doch kohärente Siedlung im Südwesten England, deren zwei-, drei-, höchstens vierstöckige Häuser ausnahmslos mit langlebigen natürlichen Baustoffen aus der Region errichtet wurden und deren kurze, schmale, zentripetal anmutende Strassen alle dreissig Meter eine Biegung machen, zieht mittlerweile Besucher aus der ganzen Welt an. Die Kommentare sind uneinheitlich, sie reichen von Spott und Häme wegen Kitsch bis hin zu Applaus und Bewunderung wegen Schönheit. Scruton zählt zu den Bewunderern.

Poundbury liegt ein Masterplan mit Wohnhäusern, Fabriken, Lagerhallen, Geschäften, Verwaltungsgebäuden, Innenhöfen, Parkanlagen, Strassen und Plätzen zugrunde. Deren Schauseite führt die Leute auf eine Weise zusammen, dass sie Freude an dem Ort haben, an dem sie sich als Mitglieder eines Gemeinwesens aufhalten und überallhin zu Fuss gelangen können. «Ein Raum, der nicht bloss deiner oder meiner ist, sondern unserer», wie Scruton sagt.

Sollten wir, die wir die Unwirtlichkeit moderner Städte kennen, hier nicht hellhörig werden? Ist die Forderung, in Belangen der Urbanität zum menschlichen Mass zurückzufinden, nicht für alle, konservativ hin, konservativ her, entschieden vernünftig?

Vom Verlust der Mitheit

War es Rilke oder Valéry, der sagte, Tanzen sei die weibliche Form des Rühmens? Egal, der Satz könnte auch von Scruton sein. Falls er stimmt, täte uns allen eine Prise Feminismus gut, denn wo wir rühmen, steigern wir das Einverständnis und heben unser Selbstgefühl. Tanz ist eine Metapher für schönes Selbstgefühl, elegantes Sichbewegen und frohen Umgang miteinander. Im Gegensatz zum Reiten, das ein Wohin braucht, liegt das Ziel beim Tanzen in ihm selbst. Was die beiden verbindet, ist der Sinn für Rhythmus bei den Akteuren. Scruton gibt in seinem Essay «Richtig tanzen» wertvolle Fingerzeige.

Von der Klubszene sagt er, dass die jungen Leute, die, dem DJ am Mischpult gehorchend, auf die Tanzfläche drängen, sich nicht miteinander bewegen. «Wenn sie tanzen, tanzen sie aneinander hin.» Der Unterschied zwischen miteinander und aneinander hin sei einer der folgenreichsten, die wir kennen. Er zeige sich bei all unsern menschlichen Begegnungen, von dem Versuch, Gespräche zu führen, bis hin zum Anbahnen erotischer Kontakte.

Scruton nennt das den Verlust der Mitheit. Mitheit sei das sichtbare gesellschaftliche Zeichen freier und vernünftiger Wesen. Sie müsse erlernt werden, und am besten lerne man sie beim Tanzen, beim wahren Tanzen. Aber nur zu einer Musik, wo nicht ein maschinell erzeugter Takt die monotone Bewegung eines Kollektivs elektrisierter Narzissten steuert, sondern ein von melodischer Fügung getragener Rhythmus das distinguierte Miteinander lebendiger Körper anfacht.

Scrutons Mitheit – wäre das nicht auch ein Sinnbild wünschenswerten gesellschaftlichen Umgangs überhaupt? Und das umso mehr, als eine um sich greifende politische Polarisierung die Menschen nicht länger bloss aneinander hin, sondern auch aneinander vorbei und zuletzt nur noch gegeneinander agieren lässt.

Roger Scruton, dieser Konservative, der eigentlich ein Altliberaler ist, er war seiner Zeit voraus.

Der Philosoph, Professor und Publizist Roger Scruton galt als einer der einflussreichsten englischen Konservativen in der Tradition von Edmund Burke. Am 12. Januar 2020 ist er an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben. Auf Deutsch von ihm erschienen sind die Bücher «Von der Idee, konservativ zu sein: Eine Anleitung für Gegenwart und Zukunft» (Finanzbuch-Verlag, 2019) und «Bekenntnisse eines Häretikers: Zwölf konservative Streifzüge» (Manuscriptum, 2019).