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Schwerst Machtsüchtige sollten unter Zwangskontrolle gestellt statt zum Präsidenten auf Lebenszeit ernannt werden

Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

Sergei Gerasimow 4 min
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Sowjetmacht in Gestalt von Architektur – das Lenin-Mausoleum in Moskau, Juli 2022.

Sowjetmacht in Gestalt von Architektur – das Lenin-Mausoleum in Moskau, Juli 2022.

Maxim Shemetov / Reuters

26. Juni

Ich streichle meine Katze, und in diesem Moment kommt die Nachricht, dass Prigoschins Truppen sich in Richtung Moskau aufgemacht haben und noch zweihundert Kilometer von der Hauptstadt entfernt sind. Steht eine Einnahme des Kremls bevor?

Ich habe noch nicht aufgehört, meine Katze zu streicheln, da trifft schon die nächste Nachricht ein: Prigoschin hat seine Meinung über den Marsch auf Moskau geändert (nachdem er sechs Helikopter und ein Flugzeug der Armee samt Besatzung hatte abschiessen lassen), so dass der Bürgerkrieg in Russland abgeblasen ist. Das ist natürlich schade, aber andererseits würde eine Ablösung Putins durch Prigoschin ein noch grösseres Übel darstellen.

Es scheint, dass die Welt verrückt geworden ist. Alle kämpfen um die Macht, und alle wollen immer mehr, mehr und mehr Macht. Ich kann gar nicht verstehen, warum sie so viel Macht brauchen.

Plato sagte einmal: «Nur wer nicht nach Macht strebt, ist qualifiziert, sie zu besitzen», was meiner bescheidenen Meinung nach eine falsche Vorstellung ist. Das ist ungefähr dasselbe, als würde man sagen: «Nur Vegetarier sollten mit Fleisch gefüttert werden» oder «Nur Abstinenzler sollten Alkohol trinken».

Ein anderes Zitat über Macht, und zwar ein falsches, das George Orwell zugeschrieben wird, kursiert im russischsprachigen Internet (ich jedenfalls kann mich nicht erinnern, dass Orwell irgendwo so etwas gesagt hat): «Ein geistig gesunder Mensch strebt nicht nach Macht, und deshalb gehört die Macht immer den Verrückten.»

An diesem Satz ist zwar etwas Wahres dran, aber er ist dennoch eine masslose Übertreibung. Die Macht ist nicht immer in den Händen von Verrückten, sondern nur manchmal. Wie jetzt gerade, in Russland.

Es hängt alles davon ab, wie viel Macht wir haben. Macht ist wie Alkohol. Wir können ihn in vernünftigen Mengen trinken, aber wenn wir zu viel davon trinken, macht er uns wahnsinnig.

«Russland wehrt die Aggression der Neonazis ab», sagte Putin gestern über die Kämpfe, was der beste Beweis für meine Worte ist.

Kleine Mengen von Alkohol oder Macht haben auf uns eine entspannende Wirkung, sie machen uns selbstbewusst und angenehm kommunikativ, aber sie beginnen bereits, unsere Fähigkeit zum klaren Denken zu verringern.

Zu viel Alkohol oder Macht beeinträchtigt unser Urteilsvermögen, macht uns aggressiv gegenüber anderen, wir werden reizbar, überempfindlich, impulsiv oder sind voll Ärger und Wut. Wir können Situationen nicht mehr logisch interpretieren und die Konsequenzen unseres Handelns nicht mehr erkennen. Wir sind nicht mehr imstande, gesunde Beziehungen zu unseren Mitmenschen zu pflegen. Wir interpretieren das Verhalten der anderen falsch und schreiben ihnen aggressive Motive zu, die in Wirklichkeit nicht vorhanden sind.

Wenn wir uns zu sehr an der Macht berauschen, werden wir zu Machtsüchtigen. Wir sollten unter Zwangskontrolle gestellt werden, statt dass wir zum Präsidenten auf Lebenszeit ernannt werden.

In der Hauptstadt Nordkoreas liess der gottgleiche Führer Kim Jong Un, der die Kugelgestalt seines Kopfes auf geniale Weise mit einer quadratischen Frisur verbirgt, 120 000 junge Arbeiter und Studenten aufmarschieren. Unisono baten sie ihn, «die gesamten USA zu bombardieren», denn das sei die heilige Pflicht ihrer ganzen Generation. Dies ist ein weiterer Beweis für die These, dass übermässige Macht uns wahnsinnig macht.

Alle Führer der Sowjetunion, mit Ausnahme derer, die richtig Pech hatten, waren machtbesessen und regierten bis zu ihrem Tod. Sie erfreuten sich an Liedern, Märchen und Gedichten, die über sie geschrieben wurden, und sie schrieben auch Bücher über das geliebte eigene Ego. In den meisten ehemaligen Sowjetrepubliken waltete die gleiche Sorte von Machtmensch in gleichem Stil weiter. Der Turkmenbaschi war wohl das prächtigste Beispiel. Und in der Geschichte der Menschheit hat es mehr verhaltensauffällige Machtmenschen gegeben als Flöhe im Schwanz eines streunenden Hundes.

Für einen fortgeschrittenen Alkoholiker ist das Ziel des Trinkens das Trinken. In ähnlicher Weise ist für einen Machtbesessenen, der zur Macht aufgestiegen ist, «das Ziel der Macht die Macht», wie Orwell sagte.

Ich mache mir ein Rührei, und in ebendiesem Moment schiesst ein Machtmensch Raketen ab, die mich töten sollen. Ich küsse meine Frau, und derweil lässt ein Machtbesessener neue, mit Sprengstoff beladene Lastwagen vor vier Blöcke des Kernkraftwerks Saporischja platzieren. Ich streichle meine Katze, und in diesem Augenblick führt ein russischer Machtmensch Truppen an, welche die Hauptstadt Moskau einzunehmen sollen, aus der gerade ein anderer russischer Machtmensch mit dem Flugzeug flieht. Und ein Panzer blieb in den Toren des Zirkus in Rostow stecken.

Ja, in der Tat, es scheint so, dass die Welt verrückt geworden ist. Das Geschehen hat so wenig Logik wie das Geschwätz eines Alkoholikers im Delirium, der ein Messer ergriffen hat und Dämonen jagt. Wir aber haben das Pech, uns in seiner Nähe zu befinden.

Zur Person

Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
PD

Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?

Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehört jenes von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 276. Beitrag des vierten Teils.

Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.