Sieg über den Angstkomplex – Oksana Sabuschko erklärt, wie die Ukrainer wurden, was sie sind

Gerne wird der Ukraine derzeit die historische Identität und damit die staatliche Existenzberechtigung abgesprochen. Dass sie ihren eigenen Weg finden wird, davon ist Oksana Sabuschko überzeugt.

Gerhard Gnauck
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Erst die Atomkatastrophe von Tschernobyl habe richtig klargemacht, wie sehr die Ukraine von Moskau kolonialisiert worden sei, sagt Sabuschko. (Bild: Sven Döring / Focus)

Erst die Atomkatastrophe von Tschernobyl habe richtig klargemacht, wie sehr die Ukraine von Moskau kolonialisiert worden sei, sagt Sabuschko. (Bild: Sven Döring / Focus)

Facebook sollte gewiss nicht die wichtigste Referenz sein, wenn es darum geht, die Bedeutung oder Bekanntheit einer Schriftstellerin zu bemessen. Aber ein Indiz kann Facebook liefern; auch in der Ukraine. Das soziale Netzwerk hat dem abgesetzten Machthaber Viktor Janukowitsch viel zu verdanken: Erst unter seiner autoritären Herrschaft, also von 2010 bis Februar 2014, kam es dort im Zuge verschiedener Protestaktionen richtig in Fahrt. Wer in den letzten Jahren die ukrainische Version des Netzwerks beobachtete, konnte feststellen, dass die Schriftstellerin Oksana Sabuschko mit ihrer Facebook-Seite die gesamte Kollegenschaft im Land weit hinter sich liess. Gut 13 000 «Likes» zählt ihre Seite inzwischen.

Das liegt wohl auch an Oksana Sabuschkos Auftreten als öffentlich engagierte (und oft genug empörte oder zornige) Intellektuelle. Auch an ihren Kommentaren, Beobachtungen, an den – oft sehr anspruchsvollen – Texten, die sie verlinkt. Darunter war jüngst eine lange, ins Theologische ausgreifende Reflexion des Moskauer orthodoxen Priesters Jakow Krotow. Dieser bezeichnet darin den unerklärten Krieg Russlands gegen die Ukraine als «Krieg eines unnormalen Landes gegen ein normales Land» unter «Verletzung aller geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze von Krieg und Frieden».

Temperamentvoll und scharfzüngig

Sabuschko kann es freilich nicht lassen, hier einen Kommentar anzuhängen: «Die Ukraine ist ein normales VOLK», schreibt sie, «das in einem unnormalen Staat lebt und gezwungen ist, einen normalen Unabhängigkeitskrieg zu führen – an zwei Fronten, gegen den auswärtigen Aggressor und gegen die inländische Verbrecherwelt, darunter auch jene im Staat selbst.» Gemeint sind unter anderem korrumpierbare und illoyale Sicherheitskräfte. Sabuschko hat nur einen Trost: «Gott ist auf unserer Seite. Er wird uns nicht verlassen, solange wir uns wie seine Kinder verhalten. Weltlich gesprochen: wie NORMALE MENSCHEN.»

Eindringliche Worte einer temperamentvollen, scharfzüngigen Frau. Ungewöhnliche Worte? Nicht für den Osten Europas, wo die Intellektuellen, oder die «Intelligenzia», sich weit mehr als im Westen an den öffentlichen Angelegenheiten abarbeiten. Da ist es hilfreich, wenn eine Frau mit Mikrofon aus dem Ausland zu der Kiewer Autorin kommt und sie zu tagelangen Gesprächen und Rückblicken an einem stillen Ort festnagelt. Die polnische Journalistin Iza Chruslinska hat dies getan und daraus ein Buch in Gesprächsform gemacht, einen «Interview-Fluss» – ein Genre, das in Polen, anders als im deutschen Sprachraum, sehr beliebt ist. «Das ukrainische Palimpsest» lautet der Titel übersetzt; das Buch beschreibt zugleich die Lehr- und Wanderjahre der heute weltweit bekanntesten ukrainischen Autorin.

Absage an das KGB

Sabuschko drängt es zurück zu den Wurzeln: Als «zentralen Ort» ihrer mündlich überlieferten Familiengeschichte beschreibt die 1960 geborene Autorin die Ereignisse des Jahreswechsels 1918/19, als vor der Sophienkathedrale in Kiew eine grosse Menschenmenge die Ausrufung eines (sehr kurzlebigen) gesamtukrainischen Staates feierte. Ihr Grossvater war mit dabei. Ebenso der gebürtige Kiewer Michail Bulgakow, der dieser Zeit der Wirren in der Stadt mit seiner «Weissen Garde» ein Denkmal gesetzt hat – allerdings ein Denkmal im Sinne des russischen Imperiums, für das er Partei ergriff, nicht der sich emanzipierenden ukrainischen Nation. Man müsse Bulgakow neu lesen, fordert Sabuschko deshalb. An diesem wie an vielen anderen Beispielen führt sie vor Augen, dass in Geschichte und Kultur Osteuropas auch heute noch viel zu entdecken ist, auch bei den «Klassikern». – Wichtige Stationen im Leben der Bürgerin und Autorin waren die Berufsverbote und ein politischer Prozess gegen ihren Vater, einen Hochschullehrer. Später versuchte das KGB, die Tochter anzuwerben. Sabuschko erteilte dem Vertreter des Geheimdiensts im Gespräch auf einer Parkbank im Herzen Kiews eine Absage. Auf diese Parkbank, am Goldenen Tor gelegen, das Mussorgsky in seinen «Bildern einer Ausstellung» furios gewürdigt hat, schaut Sabuschko heute wie «auf den Ort meines ersten Sieges, eines Sieges über den Angstkomplex und die Mystik der Macht». Die Angst vor den Machthabern sei in der Ukraine sehr stark gewesen, sagt die Autorin, und im heutigen, oft genug «verständnisvollen» Verhalten des Westens gegenüber Russland will sie Ausläufer derselben Angst erkennen. Die Szene auf der Parkbank hat sie übrigens in ihrem grossen Roman «Museum der vergessenen Geheimnisse» verarbeitet (deutsch bei Droschl). Darin schildert sie das Schicksal dreier Frauen aus drei Generationen in der Ukraine des 20. Jahrhunderts.

1986 trat die Apokalypse auf den Plan: Tschernobyl. Endzeitstimmung, Weltuntergang. Aber wenig später «das Gefühl, dass die Uhr der Geschichte, die in der Ukraine viel früher stehengeblieben war, wieder zu schlagen begonnen hatte». Die Reaktorkatastrophe als Generationserfahrung und als Zäsur in der kulturellen Entwicklung eines Landes, das als Sowjetrepublik noch in der Ära Gorbatschew zu den verschlafenen Regionen des Imperiums gehörte, zu den Nachzüglern. Doch die Unabhängigkeit der Ukraine, die Befreiung in den Köpfen, beginnt für Oksana Sabuschko – darin folgt sie der Kiewer Philologin Tamara Hundorowa – mit Tschernobyl.

Mit dem Unglück und der (zunächst ausbleibenden) Reaktion der Behörden beginnt das Gefühl um sich zu greifen, nicht Teil zu sein eines grossen gemeinsamen Gemeinwesens, sondern vielmehr von Moskau rücksichtslos kolonialisiert worden zu sein. Etwa als Standort zahlreicher, in der Moskauer Zentrale geplanter Kernkraftwerke, aber beileibe nicht nur. Seitdem ist in der Ukraine der Kolonialismus-Diskurs wichtig geworden. Ausserdem brachte Tschernobyl «das Ende der Epoche des Schweigens» im Land, die Oksana Sabuschko für die Zeit von 1933 (Hungersnot, sich verschärfender Terror) bis eben 1986 ansetzt. Viele Tabus seien damals aufgeweicht worden, vom Umgang mit der Geschichte bis zu jenem mit Körperlichkeit und Sexualität.

Volk ohne Wertehierarchie

Das alles kommt im «Palimpsest» zur Sprache. Oksana Sabuschko, die seit ihrem ersten Roman «Feldstudien über ukrainischen Sex» das Etikett «Feministin» trägt, schöpft zwar oft aus der ukrainischen Literatur, aber auch aus den Traditionen des Westens; ein Forschungsaufenthalt in den USA in den neunziger Jahren half ihr, den eigenen Horizont zu erweitern. In diesen globalen und vor allem europäischen Kontext will sie ihr Land zurückführen. Mindestens ebenso wichtig ist ihr freilich, Erinnerung und Identität im eigenen Land ordnen zu helfen. Die Identität der Ukraine sei wie eine Bibliothek, deren Bücher nicht nach einer Ordnung aufgestellt seien, sondern wild durcheinander auf einem Haufen lägen, an dem sich jeder nach dem Zufallsprinzip bediene, sagt sie. Die Ukrainer seien ein Volk ohne Wertehierarchie. – Andererseits – der Geist von Rebellion, Freiheitsliebe und Selbstorganisation unterscheiden die Ukrainer stark von den mit ihnen eng verwandten Russen, das hebt auch Sabuschko hervor. Dem Westen wirft sie vor, in den letzten zwanzig Jahren nicht den notwendigen Schlüssel entwickelt zu haben, um das «totalitäre Imperium, das Russland weiterhin darstellt», wenn auch vor allem als Energie-Grossmacht, rechtzeitig zu dechiffrieren. Der grosse Nachbar ist immer wieder Bezugspunkt in diesem Buch, etwa wenn Sabuschko anhand der seit Sowjetzeiten stets zu Silvester gezeigten Fernsehkomödie «Ironie des Schicksals» die Unterschiede zwischen russischem und ukrainischem Humor herausstellt. Aber auch dem Nachbar im Westen ist ein Kapitel gewidmet – mit gutem Grund . Polen war für die Ukrainer oft das, was die deutschen Staaten für Polen waren: «Lokomotive» auf dem Weg nach Westen, zivilisatorisches Vorbild, aber oft genug, womöglich noch gleichzeitig, Hegemon und Unterdrücker und dann wiederum Zielscheibe blutiger Racheakte.

So erscheint Oksana Sabuschko in diesem polnischen Buch, das inzwischen ins Ukrainische (rück)übersetzt wurde, als Cicerone vor allem durch die letzten hundert Jahre ukrainischer Geschichte und Kultur. Hier lässt sich erfahren, wie die Ukrainer wurden, was sie sind, welches Erbe ihnen die grossen Bürgerrechtler und Emigranten hinterliessen und warum sie den Dichter Taras Schewtschenko zum Schutzpatron der Maidan-Bewegung erhoben haben. Ein zeitlos aktuelles Buch: Wladimir Putin wird von seinem Versuch der Vereinnahmung des Nachbarlandes ebenso wenig ablassen, wie die Ukrainer ihren Selbstbehauptungswillen verlieren werden. So steht Europa im Osten auf Jahre ein neuer «gefrorener Konflikt» bevor – sofern es nicht noch schlimmer kommt.