Wie man gegen sich selbst antritt

Simon Strauss ist der umstrittenste Autor seiner Generation. Einen Literaturskandal hat er schon hinter sich. Wird sein neues Buch einen neuen provozieren?

Daniel Haas 5 min
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«Ich bin interessiert an Gegnern»: Autor Simon Strauss. (Café Kant, Berlin, 6. Januar 2023)

«Ich bin interessiert an Gegnern»: Autor Simon Strauss. (Café Kant, Berlin, 6. Januar 2023)

Tobias Kruse

Ein neues Buch von Simon Strauss. Sohn von Botho Strauss, dem hassgeliebten Grossautor, der 1993 seinen «Anschwellenden Bocksgesang» veröffentlichte, einen Text, der heute noch einen Shitstorm auslösen würde. Stichwort: Beschwörung einer vermeintlich besseren Vergangenheit, in der das Lesen und die Kultur noch geholfen haben.

Simon Strauss, 34, gab 2017 sein literarisches Debüt ausgerechnet mit einem Buch, das einen Helden durch «Sieben Nächte» (so der Buchtitel) der vollmundigen Selbsterprobung schickte. Gefährlich leben, riskant denken, ein paar gewagte Bonmots absondern im Stil von Ernst Jünger und Gottfried Benn. «Wie der Vater, so der Sohn», unkte die linke Kulturkritik und schrieb einen Skandal herbei, der keiner war: «Ist Simon Strauss ein Wegbereiter der Rechten?», fragte entsetzt die «TAZ».

Im «Spiegel» machte Georg Dietz, der schon Christian Kracht angeblicher rechter Tendenzen überführt hatte, mobil. Maxim Biller, immer zur Stelle, wenn es gilt, einem nicht konformen, das heisst nicht dezidiert Biller liebenden Autor eins auf die Mütze zu geben, Biller schrieb sich ein Feindbild zusammen, das sehr viel über Biller aussagte und sehr wenig über den zu kritisierenden Autor.

Gewährsleute aus dem Giftschrank der Moderne

In der «Zeit» dann schwang sich die feministische Stimme Antonia Baums, Kolumnistin und Buchautorin, zur ideologiekritischen Zurechtweisung auf. Der Protagonist von «Sieben Nächte» esse Fleisch und fahre Auto. Tja, so viel zum Rechtsdrall eines Autors, der es gewagt hatte, als Gewährsleute nicht Adorno und Brecht, sondern Autoren aus dem Giftschrank der Moderne anzugeben: besagten Jünger und Benn sowie den konservativen Historiker Ernst Kantorowicz.

Strauss’ neues Buch wird die Aufspürer falscher Gesinnungen enttäuschen. Es ist ein stiller, kontemplativer Text, mehr Reflexion über eine zerfallende Welt als energische Inspektion kulturferner Zeiten. In einem postapokalyptischen Deutschland, geflutet von Wassermassen, macht sich ein einsamer Mann auf die Reise. Unterwegs lernt er eine ebenso einsame Frau kennen. Man treibt durch marode Zivilisationskulissen, bestaunt und betrauert den Untergang des Bewährten. Und entdeckt gerade im Verfall eine auratische Qualität der Dinge, die in der täglichen Geschäftigkeit abhandengekommen war.

Ist Simon Strauss also zahm geworden, eingeschüchtert vom damaligen Literaturskandälchen, das ihn – Logik der Aufmerksamkeitsökonomie – vom Jungredakteur der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» zum umstrittenen Aufsteiger des Literaturbetriebs machte?

Ist er nicht. Ein Winterabend im Berliner Stadtteil Charlottenburg. Peter Raue, der Staranwalt und Kunstsammler, hat eingeladen. Rund fünfzig Gäste, Kulturbürger der Premiumliga, Filmproduzenten, Schauspieler, Lektoren, die eine oder andere Kritikerin mit Buchvertrag und Outfit aus New York. Simon Strauss, die perfekte Entsprechung seiner Autorenfotos ­– Hollywood-Beau-haftes Gesicht, athletische Figur, blauer Anzug, tieflässig aufgeknöpftes weisses Hemd – hält ein Referat über seinen Lieblingsregisseur Pier Paolo Pasolini.

Pasolini, der katholische Sozialist, ein Masochist und sexueller Hasardeur, der sich nachts von Strichjungen verprügeln liess, um am nächsten Morgen in der Presse gegen Abtreibung zu wettern. Ein seine Selbstwidersprüche grell bewirtschaftender und gerade deshalb eminente Filme drehender Künstler.

Strauss ist enthusiastisch, schwärmt von einer Zeit, in der «Irren noch Leben hiess». «Es geht darum, den Konformismus zu bekämpfen, auch den eigenen.» Pasolini, das begreift die andächtig lauschende Gesellschaft ziemlich schnell, ist ein Gewährsmann dieses Strauss, weil er wie er «Vitalität darstellen und symbolisieren» kann.

Wir verkämpfen uns, werden mental und kulturell immer kleiner.

Im persönlichen Gespräch, ein paar Tage später in einem Café am Pariser Platz in Berlin, wird Simon Strauss «Vitalität» durch «Energie» ersetzen. Er sitzt da, stopft einen Burger in sich hinein und spricht über sein «Energie-Interesse». Dass er Gleichgesinnte suche, die wie er eine «Sehnsucht nach tatsächlicher Erfahrung» hätten. Was das für ein Erfahrungsmodus sei, möchte man wissen.

Strauss wird aufbrausend: «Wir leben in einer Zeit, in der wir alle Möglichkeiten haben, und was machen wir damit? Wir verkämpfen uns, werden mental und kulturell immer kleiner.» Deshalb das «Sieben Nächte»-Buch mit seinem abenteuersüchtigen Helden, der vor nichts mehr Angst hat als vor dem Nine-to-five-Job mit Feriengeld und Rentenabsicherung.

Ist ihm bewusst, dass er solch eine satt alimentierte Kulturträgerexistenz qua «FAZ»-Zugehörigkeit bereits führt? «Vielleicht», sagt Strauss. «Allerdings gehen unabhängige Zeitungen das Risiko der freien Marktwirtschaft ein. Aber Pasolini würde mich als durchkapitalisierten Empfänger von Kunsthäppchen dennoch verachten.»

Bloss kein Häppchenlieferant sein

Ein Häppchenlieferant für den soignierten Kunstgenuss zu sein, diese Rolle ist das Schreckbild, mit dem sich Strauss auf Trab hält. Deshalb muss er sich immer wieder selbst in die Parade der institutionellen Festlegung fahren. Nicht nur der von Regisseuren und Dramaturgen hofierte Cheftheaterkritiker der «FAZ» sein oder der von Konservativen gefeierte Ernst Jünger für die Generation Z. «Ich muss die Energie behalten, sie umsetzen in Buchideen, in weitere, überraschende Projekte. In Gruppenbildung.»

Gruppenbildung? Reflexhaft denkt man: George-Kreis, klandestine Zirkel von schicken Kulturrevolutionären. Elitäre Debattierklubs früh gealterter Preussen-Fans. Oder was ist damit gemeint?

Ein Abend in der Buchhandlung Knesebeck Elf. Wieder Charlottenburg. Der Berliner Westen mit seinen grossbürgerlichen Kulissen passt besser zu einem Autor, den die Linke konsequent angegriffen, ausgegrenzt und diffamiert hat. Pointe: Die konservative Klasse kann auf ihn als intellektuelles Aushängeschild ebenso wenig zählen.

Vom Katheder des Feuilletons herab der Republik mit den Mitteln der Theaterkritik die Leviten zu lesen, wird ihn schneller anöden als eine schlecht gemachte Netflix-Serie. Lieber debattiert Strauss im eigens dafür gegründeten Europa-Klub mit Muslimen über kulturelle Aneignung oder schwärmt von der kulturellen Bereicherung durch Migration.

In der Buchhandlung hat Strauss eine Gruppe von zehn Autoren und Autorinnen versammelt. Manche sind per Videoscreen zugeschaltet. Man liest sich gegenseitig Texte vor, Prosa und Lyrik. Am Ende gibt es eine exklusive Buchversion des Abends. Das Publikum ist kaum über dreissig, kreative Millennials aller Couleur, Schriftstellerinnen, Fotografen, Kritiker.

Es geht um das Staunen und Wundern

Strauss und der befreundete Buchhändler führen nach der Lesung ein Gespräch. «Bist du ein Träumer alter Schule, Simon?» Strauss, wie aus der Pistole geschossen: «Alte Schule? Nein. Es geht ums Heute. Aber alles ist so hyperfunktional geworden. Alles ist aufs Aussprechen ausgerichtet, nicht mehr auf das Staunen und Wundern. Unsere Generation wundert sich doch über gar nichts mehr. Alles ist verfügbar und schnell abrufbar.»

Und dann spricht er vom Gestus des Kritikers, wie er einmal war und wie er ihn sich zurückwünscht: «Das Flanierende, Leichte, das fehlt. Ich möchte geistig beweglich und unvorsichtig bleiben. Nicht alles abgezirkelt haben. Ich will nicht morgens aufstehen und schon wissen, wo ich abends geistig angekommen sein werde.»

Spätestens jetzt merkt man: Simon Strauss tritt gegen sich selbst an. Er will der vom Vater (Dichter) und von der Mutter (Literaturredakteurin) wenn nicht verordneten, so doch nahegelegten Gelehrtenexistenz entgehen – mit den Mitteln einer revoltierenden Gelehrsamkeit. Dafür provoziert er an allen Fronten, nennt sein eigenes Milieu «wohlstandsverwöhnt» und dessen Gegner Vertreter einer «wohlfeilen Cancel-Wokeness».

Deshalb reist er auf den Spuren Pasolinis nach Rom (und schreibt ein kleines, melancholisches Reisebuch darüber) oder vergräbt sich in die historischen Schriften von Kantorowicz. Deshalb veröffentlicht er jetzt mit «Zu zweit» eine Novelle. Nach Streitschrift, Kritik und Roman wieder ein neues Genre. Wieder volles Risiko.

Wie hatte Strauss im Café gesagt? «Es geht nicht darum, alles abzufedern. Ich bin interessiert an der Gegenwart. Und an Gegnern.» Auf einen Gegner kann er immer zählen: sich selbst.

Simon Strauss: «Zu zweit», Tropen-Verlag, 160 Seiten, um 25 Franken, erscheint am 14. Januar.
NZZ am Sonntag, Kultur

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