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Bis der Sand das Dorf begräbt – ein Foto-Tableau von Sergey Ponomarev

Es ist eine Umweltkatastrophe der stillen Art, die das russische Schoina bedroht. Die Küste auf, Küste ab wandernden Dünen sind die Folge einer unachtsamen Ausbeutung der Fischgründe und jahrzehntelanger Übernutzung des kargen Bodens. Aber noch harren Menschen im Dorf aus.

Angela Schader / Nicole Aeby
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Auf einen Spielplatz ist der vierjährige Maksim nicht angewiesen. In seinem hoch im Nordwesten Russlands gelegenen Heimatort Schoina kann er die weichen Dünenhänge hochklettern und wieder herunterrutschen, und den Ambitionen im Sandburgenbau sind hier keine Grenzen gesetzt. Denn der Küstenstreifen am Weissen Meer wird manchmal «die nördlichste Wüste der Welt» genannt. Den Erwachsenen bereiten die wandernden Dünen allerdings weniger Freude; in dramatischen Fällen können sie ein Haus binnen einer Nacht unter sich begraben, und auch sonst ist der Kampf gegen den Sand ein fester Teil des Alltags. Das war nicht immer so: Als die Gegend in den 1930er Jahren besiedelt wurde, gab es Bäume und Weideland, vor allem aber üppige Fischgründe; bald lebten um die 1500 Menschen hier, rund siebzig Trawler waren vor der Küste unterwegs, und die jährlichen Produktionsziele wurden bei weitem übertroffen. Aber die Ausbeutung der See war auch der Anfang vom Ende. Nicht allein die Fischbestände wurden gefährlich dezimiert; die Schleppnetze hatten zudem so viel Schlick und Seegras vom Meeresgrund weggerissen, dass Forscher darin eine Hauptursache für den Wandel der Küstenregion sehen. Die Wellen spülen den freigelegten Sand unermüdlich ans Ufer, wo sich der Wind seiner bemächtigt und ihn landeinwärts trägt.

Zweimal täglich lässt Aleksandr Isupov den grossen gelben Latexballon steigen, an dessen unterem Ende ein meteorologisches Messgerät hängt. Auch wenn die Wetterbedingungen in Schoina extrem sein können, ist das kleine Ritual längst Teil eines weitgehend ereignislosen Alltags geworden. «Zum Glück haben wir hier wenigstens Internet», seufzt die Praktikantin der meteorologischen Station, und die aus dem russischen Süden stammende Leiterin wird hier oben auch nicht recht froh. «Ich vermisse das frische Gemüse», gesteht sie dem Fotografen. «Was man hier im Laden bekommt, hat kaum Geschmack.» Immerhin wird sie eines Tages in ihre Heimatregion zurückkehren können. Aber wer hier geboren ist, verbringt sein Leben in weitgehender Isolation, weil der abgelegene Ort nur per Schiff oder auf dem Luftweg zu erreichen ist. Kein Wunder, dass viele fortgehen oder sich dies zumindest überlegen. Die Regierung hat sogar eigens ein Programm lanciert, in dessen Rahmen Menschen aus der Region bei der Umsiedlung unterstützt werden

In Schoina sind jugendliche Gesichter rar geworden, denn die Zukunft ist hier buchstäblich auf Sand gebaut. Die paar verbliebenen jungen Leute und die Soldaten von der nahen Militärbasis gehen am Samstagabend im Gemeindezentrum tanzen – eins der wenigen Vergnügen, die sich den Bewohnern bieten. Und doch: «Ich habe meinem Kommandanten noch immer nicht ganz verziehen, dass er mich vor dreiundzwanzig Jahren hierher in den Ausgang geschickt hat», verrät ein mittlerweile gestandener Einwohner von Schoina dem Fotografen Sergei Ponomarew. «Da lernte ich meine zukünftige Frau kennen und beschloss, hier zu bleiben.» Auch von denjenigen, die den Ort verlassen, um zu studieren oder eine Arbeit zu finden, kehren manche zurück. Der 21-jährige Pawel etwa ist nach dem Studium wieder ins Heimatdorf gezogen – auch ein bisschen wegen des Sandes: Vom Laufen auf dem Asphalt, erzählt er, hätten ihm die Füsse ständig weh getan.

Juri Konjukow, der hier die Axt schwingt, lebt längst nicht mehr in Schoina. Aber er besucht das kleine Küstendorf im Nordwesten Russlands regelmässig, nicht zuletzt seiner Mutter wegen; er ist gerade dabei, ihren Wintervorrat an Feuerholz zu äufnen. In Schoina muss man mit einem Minimum an Komfort auskommen: Fliessendes Wasser gibt es nicht, ebenso wenig ein Kanalisationssystem, das Wasser holt man vom Brunnen, die einfachen Häuser werden mit Holz oder Kohle beheizt. Wer Brot braucht, muss es rechtzeitig bestellen, die Bäckerei ist nur an vier Tagen offen. Auch der Besuch im Badehaus will geplant sein: Dienstags und mittwochs sind die Frauen dran, donnerstags und freitags die Männer. Für etwas Abwechslung auf dem Speiseplan sorgen die verbliebenen Fischbestände im nahen Weissen Meer, die Wildgänse, die im Herbst geschossen werden, oder ein Stück Rentierfleisch. Als Vitaminspender dienen Moltebeeren, die auch gegen gutes Geld an Zwischenhändler abgegeben werden: In den Städten sind die raren Wildfrüchte derart begehrt, dass man sie fast so teuer bezahlt wie roten Kaviar. Das karge Leben, berichten Besucher, hindere die Einheimischen nicht daran, allfällige Gäste bis zur Kapazitätsgrenze mit lokalen Spezialitäten zu verwöhnen.

Die Alten am Ort erinnern sich noch. «Das war einmal ein Dorf voller Leben, nicht voller Sand», erzählt die einundachtzigjährige Evdokija Sacharowa dem Fotografen Sergei Ponomarew. Seine besten Zeiten verdankte Schoina der Fischerei, aber auch als die Ausbeute der Trawler schrumpfte und schwand, als die Fischverarbeitungsfabriken schlossen und die übernutzten Weiden versandeten, gab die Bevölkerung nicht auf. «Wir haben Gemüse angepflanzt, den Boden gedüngt und den hergewehten Sand immer wieder weggefegt», fährt Sacharowa fort. «Bis es sinnlos wurde.» Nicht nur die Gemüsegärten, auch die Häuser werden allmählich verschüttet; mehr als zwanzig sind schon ganz verschwunden, in anderen hat der Sand sich derart breitgemacht, dass man nur noch das obere Stockwerk nutzen kann. Es gibt zwar einen Bulldozer am Ort, der die Dünen abtragen kann, aber das dauert rund zehn Stunden – zum Preis von rund siebzig Franken pro Stunde. So viel können eigentlich die wenigsten hier aufbringen, aber manchmal bleibt nur die Wahl zwischen Bezahlen und Wegziehen. «Es geht nicht ohne den Bulldozer», erklärt eine Frau, die bereits zum Rückzug auf den ersten Stock gezwungen wurde. «Sonst wird im Winter, wenn der Schnee auf den Sand fällt, das Haus bis zum Dach begraben.»

Bilder: Sergey Ponomarev / Redux / Laif