Wer immer in Indien für etwas eintritt oder gegen etwas ankämpft, tut dies auf der Jantar Mantar Road. (Bild: Altaf Qadri / AP)

Wer immer in Indien für etwas eintritt oder gegen etwas ankämpft, tut dies auf der Jantar Mantar Road. (Bild: Altaf Qadri / AP)

Kuhschützer, Bauern, Vergewaltigungsopfer: An der Jantar Mantar Road in Delhi ebbt der Protest nie ab

Vor 70 Jahren wurde Indien von den Briten unabhängig. Wer wissen will, welche Themen die Inder heute bewegen, muss zur Proteststrasse Jantar Mantar in Delhi. Ein Porträt des Landes auf 500 Metern.

Fiona Weber-Steinhaus
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Wenn mittags die Sonne auf die Hauptstadt herunterbrennt, hört man schon von Weitem die Stimmen des Protests. Vor den Absperrgittern zur Jantar Mantar Road sitzen Polizisten, das Maschinengewehr auf dem Schoss. Dahinter spielt sich jeden Tag aufs Neue ein Jahrmarkt der Probleme ab: Aktivisten drücken einem Pamphlete in die Hand. Teeverkäufer laufen durch die Menge. Ein Fotograf verkauft Schnappschüsse, ein anderer Sonnenbrillen und Jeans.

Die Jantar Mantar Road, eine Seitenstrasse zwanzig Minuten zu Fuss vom indischen Parlament entfernt, ist so etwas wie die Speakers' Corner der grössten Demokratie der Welt. Doch es ist keine Touristenattraktion wie in London, die an die verklärten Erfolge des Protests erinnert. Auf diesen ungefähr 500 Metern Asphalt liegt die Hoffnung von Menschen aus ganz Indien. Auf den Trottoirs rechts und links haben Demonstranten Zelte aufgebaut, ihre Forderungen auf Plakate gemalt und gedruckt. Manche kommen für einen Tag, manche leben seit Jahren hier.

«Ich wünschte, ich könnte jeden Tag hier entlanglaufen, vom 1. Januar bis zum 31. Dezember, und all die Neuankömmlinge und die Verschwundenen notieren. Das wäre die Geschichte Indiens, erzählt anhand einer Strasse, in einem bestimmten Jahr», schreibt der Historiker Ramachandra Guha in seinem Bestseller «India after Gandhi». Wer die Strasse entlanggeht, von Zelt zu Zelt, sieht wie auf einem Seismografen, welche Themen das Land beschäftigen. An diesen Frühlingstagen Ende März sind es Landwirtschaft, Religion und Frauenrechte, alle nur ein paar Meter voneinander entfernt.

Die Bauern aus Tamil Nadu

In einem Pavillon 50 Meter hinter dem Absperrgitter bereiten sich die Bauern auf ihren Protestmarsch vor. Die Bäuerin Rajalakshmi wickelt ein grünes Tuch um den Körper und streicht sich die grauen Haare hinter die Ohren. Dann stellt sich die 60-Jährige in die zweite Reihe; hinter die Männer mit Totenschädeln um den Hals. Über achtzig Menschen, Männer in Lendenschurzen, drei Frauen in Tüchern, marschieren die Strasse hoch und runter. Das Grün ihrer Kleidung symbolisiert die Landwirtschaft. Die Schädel schaukeln wie schwere Klunker hin und her. Es sollen Überreste von Bauern sein, die sich wegen der Dürre umgebracht haben. «Rettet uns!», ruft die Gruppe, Rajalakshmi reckt ihre Hand in die Luft. Um sie herum Fotografen, Kamerateams, Unterstützer und Neugierige.

Ein Bauer bereitet sich auf einen Protestmarsch vor. Die Schädel schaukeln wie schwere Klunker hin und her. Es sollen Überreste von Bauern sein, die sich wegen der Dürre umgebracht haben. (Bild: Imago)

Ein Bauer bereitet sich auf einen Protestmarsch vor. Die Schädel schaukeln wie schwere Klunker hin und her. Es sollen Überreste von Bauern sein, die sich wegen der Dürre umgebracht haben. (Bild: Imago)

Als die Bäuerin Rajalakshmi beschloss, in Delhi zu protestieren, war sie bereits in ihrem Heimatstaat Tamil Nadu zusammen mit anderen Bauern vor dem Landesparlament in den Hungerstreik getreten. Weil das nichts brachte, hatte sie als Aktion in lebende Ratten gebissen. Sie hoffte, dass die Politiker schockiert wären und helfen würden. Doch es nützte nichts. «Es macht keinen Unterschied, ob wir hier sterben oder zu Hause verdursten», sagt sie.

In Tamil Nadu herrscht die grösste Dürre seit 140 Jahren. Zwei Jahre hintereinander blieb der Monsunregen aus. Die zwei Hektaren Land der Bäuerin trockneten aus. Sie konnte kaum Reis ernten, kaum Erdnüsse und keinen Mais. Also stieg sie in den Zug. «Challo Dilli» – auf geht's nach Delhi! – ist die Kampfparole. Rajalakshmi fuhr mit 84 Bauern, darunter langjährige Aktivisten, nach Delhi, eine Strecke von der Länge Zürich–Ankara, 2500 Kilometer, drei Tage in überfüllten Waggons. Als Rajalakshmi zum ersten Mal in ihrem Leben Indiens Hauptstadt erreichte, hatte sie nur ein Ziel: die Jantar Mantar Road. Die Forderung der Gruppe: Sie wollen einen Hilfsfonds für alle von der Dürre betroffenen Bauern. Einen langfristigen Plan zur Bewässerung. Und da die meisten Bauern ihr Land gepachtet haben, wollen sie einen Schuldenerlass der Banken. «Wir Bauern sind das Rückgrat Indiens», sagt Rajalakshmi.


Die Bauern wissen, was ein Protest braucht: Aufmerksamkeit.

Etwa 60 Prozent aller Inder arbeiten in der Landwirtschaft. Viele sind mit ähnlichen Problemen wie Rajalakshmi konfrontiert: sinkender Grundwasserspiegel, hohe Zinsen für Kredite, schlechte Preise für den Ertrag. Doch Demonstrationen sind nicht allein erfolgreich, nur weil viele betroffen sind. Es kommt auf die Inszenierung an. Deshalb haben die Bauern aufgerüstet. Sie bringen die Totenschädel mit, lebende Mäuse, die grünen Tücher. Sie wissen, was ein Protest dringend braucht: Aufmerksamkeit. An einem Ort, an dem alle darum buhlen, muss man sich etwas einfallen lassen.

Protest ist in Indien tief verankert: Widerstandskämpfer hatten jahrzehntelang gegen die britische Kolonialherrschaft aufbegehrt. Der Aktivist Mahatma Gandhi etwa prägte mit seinem Salzmarsch 1930 den gewaltlosen Widerstand. Bürger schlossen sich ihm auf seinem Fussweg zum Arabischen Meer an, um gegen die Salzsteuer der Briten zu demonstrieren. Vor siebzig Jahren dann, am 15. August 1947, wurde Indien unabhängig. Hungerstreik etablierte sich als Teil der nationalen Protestkultur, wie der Journalist Kuldip Nayar sagt. Die meisten Protestierer haben auch Nahrung verweigert. Auch die Bauern.

Der Erfolg der Kuhschützer

Schräg gegenüber dem Bauernpavillon sitzen vier Kuhschützer im Schatten der Mittagshitze. «Wir lassen uns nicht unterkriegen!», rufen die Bauern. Ram Shankar Ojha, 60, ein Mann mit wirren grauen Haaren und gelbem Hemd, schaut nicht von seiner Zeitung auf, als die Bauern ein paar Meter vor ihm skandieren.

Hinter den Kuhschützern hängen Plakate, die über die Bedeutung der Kuh in Indien informieren. Seit drei Jahren demonstriert Shankar in Vollzeit. Das heisst: Er sitzt auf seiner Matte im Schatten, trinkt Tee und trifft sich mit anderen Kuhschützern. Das Zelt funktioniert eher wie ein Treffpunkt für Gleichgesinnte, eine Aussenstelle zur Koordination von Demonstrationen. Seinen Job bei einer staatlichen Ölfirma hat er aufgegeben.

Er fordert, die Rinderschlachtung in ganz Indien zu verbieten. Von den Journalisten werden die Kuhschützer ignoriert – vom eigenen Protest ist Ojha dennoch überzeugt: «Seitdem ich hier bin, hat sich viel verändert», sagt er. Tatsächlich haben die Kuhschützer ein Thema auf der politischen Tagesordnung: Seitdem Narendra Modi 2014 mit seiner Hindu-nationalistischen Partei BJP die Wahl zum Premierminister gewann, ist die Kuh wieder zum politischen Symbol geworden. Einzelne Gliedstaaten haben Schlachtgesetze verschärft. Im benachbarten Gliedstaat Haryana bedeutet das etwa: Wer Rindfleisch verkauft, dem drohen bis zu fünf Jahre Gefängnis. Demjenigen, der Kühe schlachtet, bis zu zehn Jahre. Gerade wird diskutiert, ob die Kuh zum Nationaltier Indiens werden sollte.

Die Landlosen verschaffen sich Gehör in der Jantar Mantar Road, der Proteststrasse nahe dem indischen Parlament in Delhi. (Bild: Altaf Qadri / AP)

Die Landlosen verschaffen sich Gehör in der Jantar Mantar Road, der Proteststrasse nahe dem indischen Parlament in Delhi. (Bild: Altaf Qadri / AP)

Die Gesetzesänderung hat natürlich mehr mit dem Aufstieg der Hindu-nationalen Partei BJP zu tun als mit dem Sitzprotest von Ojha. Dafür fährt er jeden Morgen 30 Kilometer zur Jantar Mantar Road. Manchmal bringt er Kühe mit. Immer wieder wurde er deshalb kurzzeitig festgenommen. «Es wäre effektiver, direkt vor dem Parlament zu protestieren», sagt Ram Shankar Ojha.

Die Regeln des Protests sind klar – eigentlich. Demonstrationen müssen angemeldet werden. Wollen mehr als 5000 Menschen teilnehmen, müssen sie an einen andern Versammlungsort. Man darf nur einen Tag lang demonstrieren, zwischen 9 und 16 Uhr. Die Polizei weiss aber, dass manche trotzdem seit Wochen, Monaten oder seit Jahren auf der Strasse sitzen. Ab und zu werden Leute aufgefordert, den Platz zu räumen. Früher demonstrierten sie direkt vor dem Parlament. Sie schlugen auf den grünen Wiesen, dem sogenannten Boat Club, nahe des Parlaments ihre Zelte auf. Erst vor knapp dreissig Jahren wurde Jantar Mantar Road zur offiziellen Proteststrasse.

1988 besetzten etwa fünftausend Bauern aus den umliegenden Gliedstaaten die Strasse vor dem Parlament. Sie forderten unter anderem höhere Preise für Zuckerrohr. Ihre Rinder grasten auf den getrimmten Rasenflächen. Es roch nach Dung. Traktoren blockierten die Strasse, die Politiker kamen nicht mehr ins Büro. Ihr Protest liess das politische Getriebe knirschen. Nach einer Woche veranlasste die Regierung des Premierministers Rajiv Gandhi, dass die Forderungen der Bauern erfüllt wurden. Die Minister hatten ihre Ruhe. Aber die Demonstranten mussten von den grünen Wiesen umziehen. Die Jantar Mantar Road war zu der Zeit ein Busbahnhof – nah genug am Parlament und mit zwanzig Minuten Fussweg weit genug entfernt, um den politischen Betrieb nicht zu stören.

Bis 3000 Beschwerden täglich

«Viele Protestierer waren sauer, dass sie verdrängt wurden», erinnert sich der Journalist Kuldip Nayar, der immer wieder über die Proteste schrieb. «Aber zumindest können sie auch auf Jantar Mantar ihr Recht auf Meinungsäusserung ausüben.» Der 93-jährige Journalist Nayar ist ein Chronist der indischen Geschichte: Nayar floh als 23-jähriger Anwalt aus dem neu gegründeten Pakistan nach Delhi. Während der Notstandsgesetze unter Premierministerin Indira Gandhi sass er vier Monate lang im Gefängnis. Er erlebte die Liberalisierung der Wirtschaft in den Neunzigern, den Aufstieg des Hindu-Nationalismus in den letzten drei Jahren. Über die Notstandsgesetze zwischen 1975 und 1977 schrieb er: «Indira Gandhi hat das Licht der Demokratie gelöscht . . . und die Nation, die sich gegen die mächtigen Briten auflehnte, zog den Kopf ein ohne jeglichen Protest.» In seinen Kolumnen hat er die Bürger immer wieder anzustacheln versucht, damit sie für ihre Rechte kämpfen. Es läge nicht in der Kultur Indiens, zu streiken, wie das etwa bei den Franzosen der Fall sei, sagt Nayar. «Doch seit der Unabhängigkeit ist das indische Selbstbewusstsein gewachsen.»

Es gibt auch ruhige Szenen entlang der Jantar Mantar Road: Leute, die lesen, schwatzen, Kräfte sammeln. (Bild: Altaf Qadri / AP)

Es gibt auch ruhige Szenen entlang der Jantar Mantar Road: Leute, die lesen, schwatzen, Kräfte sammeln. (Bild: Altaf Qadri / AP)

2000 bis 3000 Bürgerbeschwerden erreichten inzwischen pro Tag den Sitz des Premierministers, sagt ein Mitarbeiter. Die meisten von der Jantar Mantar Road kämen persönlich vorbei. In diesem Moment sind die Protestler nur ein paar Stockwerke von der Macht entfernt. Im selben Flügel des Gebäudes soll Modis Büro sein. Modi ist der Premierminister von mehr als 1,2 Milliarden Menschen. In einem kleinen Zimmer reichen die Bürger ihre Anfragen durch ein vergittertes Fenster.

Von einem Imbiss weht der Geruch nach frischem Chapati-Brot über die Strasse. Der Imbisskoch, seit mehr als 27 Jahren im Geschäft, wirft die Brote aufs Feuer und rührt im Joghurt. Vor dem Stand essen Geschäftsleute aus den umliegenden Büros. Mittagessen. Die normalen Bürger Delhis nutzen die Strasse als Abkürzung zur Metro, trinken hier Tee. Der Koch schimpft über die Demonstranten: «Nie kaufen sie bei mir, sie fressen immer nur das kostenlose Essen beim Sikhtempel um die Ecke.» Sie würden seinen Umsatz verderben. Die Geschäftsleute aus den umliegenden Büros hätten keine Lust auf den Lärm. Die Protestierer? «Alles nur Spinner», sagt der Koch. «Der einzige Erfolgreiche war Anna Hazare!»

Der Aktivist Anna Hazare führte eine landesweite Anti-Korruptions-Bewegung an, mit dem Ziel, dass Steuerhinterziehung von Politikern strenger geahndet werde. 2011 trat er auf der Jantar Mantar Road in den Hungerstreik. Auch Delhis Chief Minister Arvind Kejriwal wurde als Aktivist auf Jantar Mantar Road berühmt.


Früher demonstrierten die Leute in Delhi direkt vor dem Parlament.

Doch ab wann genau sind die Aktivisten erfolgreich? Wenn die Gesetze geändert werden wie beim Kuhschutz? Wenn die Demonstranten von Politikern besucht werden und im Fernsehen sind wie die Kuhschützer? 2012 war die Jantar Mantar Road auf der ganzen Welt zu sehen. Eine junge Frau wurde am 16. Dezember 2012 in einem Bus so brutal von sechs Männern vergewaltigt, dass sie an ihren Verletzungen starb. Das Land war geschockt. Tausende Inder gingen gegen patriarchale Strukturen, gegen Unterdrückung, für härtere Strafen für Vergewaltiger auf die Strasse.

Es sei ein neues Kapitel in der Geschichte des indischen Protests gewesen, meint der Soziologieprofessor Sanjay Srivastava von der Jawaharlal-Nehru-Universität in Delhi. Die klassisch homogene Protestgruppe der Männer breche auf, sie habe sich diversifiziert. Der Polizist, zuständig für die Genehmigungen auf der Jantar Mantar Road, sagt es so: «Man erkennt an den Demos, wie Indien sich weiterentwickelt hat.» Durch Smartphones und verbesserten Transport sei es viel einfacher, die Leute zu mobilisieren.

Die Vergewaltigungsaktivistin

Ein paar Stände von den Kuhschützern entfernt beobachtet Jagjit Kaur von ihrem Plasticstuhl aus die Menge, die gegen Nachmittag kleiner wird. Auf dem Boden sammeln sich Kartonbecher und Essensschälchen. Ein Strassenreiniger, angestellt von der Stadt, fegt dagegen an. Die 38-jährige Kaur, die einen orangefarbenen Turban und Flipflops trägt, kennt alle auf der Strasse. Seit fünf Jahren lebt sie hier. Stand 7, Jantar Mantar Road, ist ihre offizielle Adresse. Sie ist so etwas wie eine Concierge der Strasse. «Die Veteranen da vorne tun so, als kämpften sie für ihr Vaterland. Eigentlich kämpfen sie nur für mehr Geld», sagt sie mit ihrer rauen Stimme und zeigt auf ein Zelt schräg gegenüber. «Die religiösen Spinner versuchen alle Leute zu missionieren.» Sie nickt nach links: Religiöse versuchen dort, ihre Pamphlete über die Ewigkeit zu verteilen. Oder letztens, erzählt Kaur, da habe ein betrunkener Strassenfeger ein junges Mädchen angegrapscht. Die Toiletten seien eh immer dreckig. Gegenüber von Kaur drängen sich Kameramänner vor dem Zelt der Bauern aus Tamil Nadu. Vor fünf Jahren standen die Teams vor Kaurs Zelt.

Ein älterer Inder, der mit seinem Plakat gegen die häufigen Vergewaltigungen in der indischen Gesellschaft kämpft, ruht sich vom Demonstrieren aus. (Bild: Altaf Qadri / AP)

Ein älterer Inder, der mit seinem Plakat gegen die häufigen Vergewaltigungen in der indischen Gesellschaft kämpft, ruht sich vom Demonstrieren aus. (Bild: Altaf Qadri / AP)

Im Dezember 2012 sah Jagjit Kaur all die aufgebrachten Demonstranten im Fernsehen, die Plakate, auf denen stand: «Rettet unsere Mädchen», «Todesstrafe für Vergewaltiger», «Es reicht!». Sie dachte damals: Das könnte meine Chance sein. Jagjit Kaur sagt, sie sei 2010 von einem Polizisten im Gliedstaat Punjab vergewaltigt worden. Zwei Jahre lang ging sie immer wieder zur Polizei. Doch niemand habe ihre Anzeige aufnehmen wollen. Vielleicht um den Kollegen zu schützen, mutmasst sie. Sie zog von Punjab an die Jantar Mantar Road, 300 Kilometer entfernt. Als Journalisten Vergewaltigungsopfer suchten, die vor der Kamera sprechen, wurden sie oft zu Jagjit Kaur geschickt. Es gibt inzwischen einen Dokumentarfilm über sie und eine Facebook-Seite, immer wieder tauchte sie damals in den Medien auf. Sie hatte mit NGO Kontakt, hatte mit Juristen gesprochen. Manche sagen inzwischen, sie wüssten nicht, ob Jagjit Kaur die Wahrheit erzählt.

Für Kaur hat sich bis heute nichts geändert. «In mein Dorf kann ich nicht zurückkehren», sagt sie, «dort gelte ich entweder als Opfer oder als Hure.» Ihre Stimme bricht. «Ich habe auf dieser Strasse vier Jahre meines Lebens vergeudet.» Zwar verjährt Vergewaltigung nicht. Aber dass der Polizist jemals angezeigt werde, bezweifelt sie. Ihr Besitz: zwei Drahtbetten, ein paar Plasticstühle und ihre abgetippte Lebensgeschichte, abgeheftet im Plasticumschlag.

Zwei Stände weiter hält ein Ladenbesitzer aus der Innenstadt jeden Abend eine Mahnwache für Vergewaltigungsopfer. Er fordert die Todesstrafe für alle Vergewaltiger. Auch er begann nach dem Vergewaltigungsfall zu protestieren. Mit Kaur redet er nicht. «Hier kämpft jeder für sich alleine», sagt Jagjit Kaur.

Falls die Regierung nicht zahlt, müssen die Bauern aus Tamil Nadu sogar Mäuse essen, wie dieser Mann andeutet. (Bild: Imago)

Falls die Regierung nicht zahlt, müssen die Bauern aus Tamil Nadu sogar Mäuse essen, wie dieser Mann andeutet. (Bild: Imago)

In der Kühle des Abends verwandelt sich die Jantar Mantar Road in einen Zeltplatz der Ungehörten. «Dieser Strassenabschnitt sieht nicht wie ein Paradeplatz der Demokratie aus, eher wie ein Museum der Machtlosen und Ohnmächtigen», schreibt der «Slumdog Millionaire»-Autor Vikas Swarup. An diesem Ort wird man auch mit einer verrückten Nachricht oder Botschaft nicht verscheucht. Diejenigen, die lange hier sitzen, werden zu Statisten der Strasse. Ihre Botschaft verstummt durch ihre konstante Anwesenheit. Wenn Jagjit Kaur nichts erreicht, werde sie irgendwann zurück zu ihrer Mutter ziehen, sagt sie.

«Oder wir bringen uns um»

Um kurz vor 18 Uhr hat die Bäuerin Rajalakshmi das grüne Tuch unter ihren Kopf gelegt und sich zur Seite eingerollt. Doch bald laufen sie wieder über die Strasse. Die Medien brauchen neue Bilder, eine Steigerung der Dramatik. Fernsehteams filmen, Fotografen laufen rückwärts vor der Gruppe her. «Die Forderung der Bauern aus Tamil Nadu ist klar», sagt eine Moderatorin in einer Liveschaltung in ihr Mikrofon: «Sie wollen ein besseres Angebot der Regierung. Sonst bleiben sie.» Die Regierung stimmt dem Hilfsfonds zu – aber in geringerer Höhe. Die Bauern beissen ein paar Tage später in lebende Mäuse. Sie rollen sich auf dem Boden. Sie drohen damit, ihren eigenen Urin zu trinken. Rajalakshmi reist bald ab. Neue Bauern kommen. Die Fernsehteams verbreiten die Bilder und damit auch die Geschichte der Bauern. Ende April sichert der Vertreter von Tamil Nadu, ihrem Gliedstaat, ihnen Hilfe zu. Die Bauern reisen ab. Und drohen: «Wenn die Forderung nicht erfüllt wird, kommen wir wieder. Oder wir bringen uns um.»

Der Polizeichef sagt: «Wenn der Protest erfolgreich ist, verschwinden die Leute von allein.» Bei manchen dauert das Tage. Bei manchen Wochen. Und manche erreichen ihr Ziel nie.

Der indische Oppositionelle Mahatma Gandhi hat vorgelebt, dass sich gewaltfreier Widerstand lohnen kann. Der Pazifist wurde vor 150 Jahren, am 2. Oktober 1869, geboren. Er starb 1948 bei einem Attentat. Das Bild zeigt den Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung in Bombay (heute Mumbai) im Mai 1930. (Bild: Keystone)
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Die von Gandhi ausgelöste Bewegung begann 1917 mit Protesten von Indigo-Bauern im Distrikt Champaran und führte 1947 zur Unabhängigkeit des Landes, nach 200 Jahren unter britischer Kolonialherrschaft. Das Bild zeigt Gandhi bei seinem «Salzmarsch» nach London, wo er am 10. April 1930 eintraf, um gegen das Salzmonopol der Briten zu demonstrieren. (Bild: Imago)
Gandhis Devise lautete: «Wahrheit bedeutet Liebe und Festigkeit und ist ein Synonym für Kraft.» Gandhi im September 1930 beim Besuch einer faschistischen Jugendgruppe in Rom. (Bild: Imago)
Der Begriff Satyagraha wurde von Gandhi erstmals während seiner Zeit in Südafrika (1893–1914) verwendet, wo er als junger Anwalt gegen das Apartheidsregime antrat. Das Bild zeigt ihn im April 1931. (Bild: Imago)
Neben den Märschen setzte Gandhi auch das Mittel des Hungerstreiks ein, um seinen Forderungen Nachdruck zu verschaffen. Dieses Bild von zirka 1930 zeigt den abgemagerten Gandhi beim Fasten. (Bild: Imago)
Gandhi war auch im Ausland aktiv. Hier unterschreibt er bei einem Aufenthalt in Grossbritannien 1931 ein grossformatiges Autogrammbild. (Bild: Imago)
Der kahlköpfige, bescheidene Mann mit der Brille und den schlichten Kleidern wurde zum Friedenssymbol ganzer Generationen. Diese Chromolithografie von 1936 zeigt Gandhi in typischer Pose. (Bild: Imago)
Unterwegs mit dem Politiker Saddar Patel (r.), vermutlich 1938. Bei allem, was Gandhi anpackte, stand die Gewaltlosigkeit an oberster Stelle. (Bild: Imago)
Gandhi (r.) und Jawaharlal Nehru, einer seiner wichtigsten Weggefährten. Nehru war von 1947 bis 1964 erster Ministerpräsident Indiens und auch als Pandit Nehru bekannt. (Bild: Imago)
Zirka 1940 entstand dieses Bild, das Mahatma Gandhi mit Rabindranath Tagore, dem bekannten Dichter, Philosophen, Maler und Musiker zeigt, der 1913 den Nobelpreis für Literatur erhielt. (Bild: Imago)
Gandhi bei einem Treffen mit Jawaharlal Nehru (l.) und Jivatram Kripalani (r.), 1940. Kripalani lebte von 1888 bis 1982 und war wie Nehru ein bekannter indischer Politiker. (Bild: Imago)
Gandhi trifft 1944 Mohammed Ali Jinnah zu Gesprächen in Mumbai. Jinnah war Widerstandskämpfer und gilt als Gründer des Staates Pakistan. (Bild: Imago)
Gandhi wird aufgebahrt, nachdem ihn ein fanatischer, nationalistischer Hindu am 30. Januar 1948 ermordet hatte. Sein Tod löste weltweit tiefe Betroffenheit aus. (Bild: Imago)
Tausende von Trauernden strömten zusammen, um vom grossen Gandhi Abschied zu nehmen. Stets verband Gandhi das Schicksal der einfachen Menschen mit dem grösseren Ziel, die Unabhängigkeit Indiens zu erreichen. So mobilisierte er Millionen. (Bild: Imago)

Der indische Oppositionelle Mahatma Gandhi hat vorgelebt, dass sich gewaltfreier Widerstand lohnen kann. Der Pazifist wurde vor 150 Jahren, am 2. Oktober 1869, geboren. Er starb 1948 bei einem Attentat. Das Bild zeigt den Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung in Bombay (heute Mumbai) im Mai 1930. (Bild: Keystone)