Sisyphus und die Schnabelbrustschildkröte

Die Madagassische Schnabelbrustschildkröte lebt einzig in einem kleinen, abgelegenen Gebiet Madagaskars in freier Wildbahn. Mehr als jede andere Schildkrötenart ist sie von Wilddieben bedroht.

Markus M. Haefliger, Antananarivo
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Die Schnabelbrustschildkröte verdankt ihren Namen dem schnabelförmigen Fortsatz ihres Bauchpanzers. (Bild: Markus M. Haefliger)

Die Schnabelbrustschildkröte verdankt ihren Namen dem schnabelförmigen Fortsatz ihres Bauchpanzers. (Bild: Markus M. Haefliger)

Haben Schildkröten einen individuellen Charakter? Wer sieht, wie unterschiedlich Schnabelbrustschildkröten auf ihre Entlassung in die freie Wildbahn reagieren, möchte es meinen. Einige suchen die Nähe zu anderen Artgenossen, die sie während der langen Reise aus einem Reservat im Landesinnern Madagaskars weder hatten sehen, riechen noch fühlen können. Andere schauen unter ihrem Schild hervor und wagen es kaum, in der neuen Umgebung einen Schritt zu machen. Nummer 3242 aber, ein 16-jähriges Prachtsexemplar von einer Schildkröte, marschiert schnurstracks geradeaus, weg von den Menschen, die sie einen Tag lang mit Lärm und Hektik malträtierten.

Gefährliche Freiheit

Die Reise bis zur Aussetzung an einem heissen Tag im Dezember ist für die Angonoka, wie die Madagassische Schnabelbrustschildkröte (Astrochelys yniphora) in der einheimischen Sprache heisst, beschwerlich. Sie beginnt in Amijoroa im Ankarafantsika-Nationalpark, 320 Kilometer nordwestlich der madagassischen Hauptstadt Antananarivo. Der Durrell Wildlife Conservation Trust, eine private britische Naturschutzorganisation, betreibt in dem Park seit 1986 eine Aufzucht der Landschildkröte, die sich durch einen schnabelförmigen Fortsatz des Bauchpanzers auszeichnet. Mit weniger als 900 freilebenden Exemplaren und einem Schwarzmarktwert von Tausenden von Dollars pro Tier gilt sie als die gefährdetste Schildkrötenart der Welt.

Um Mitternacht legt Ernest Bekarany, der örtliche Leiter des Reservats, zwanzig ausgewählte ausgewachsene Exemplare in Taschen aus Bast, die er zunähen lässt. Sie werden auf einen Pick-up geladen, danach geht die Fahrt mehrere Stunden bis zur Hafen- und Regionalhauptstadt Mahajanga im Nordwesten des Landes. Hier heisst es umsteigen. Bekarany und seine Helfer laden die Schildkröten auf ein Glasfaserboot. Im Morgengrauen fahren wir im Boot weiter, der starke Aussenbordmotor sorgt für Tempo, Gischten von Meerwasser gehen über den Passagieren und den aufgereihten Basttaschen nieder. Einige der Tiere verhalten sich ruhig, andere stossen mit rastlosen Bewegungen gegen menschliche Knöchel und Waden. Ziel ist die 120 Kilometer südlich von Mahajanga gelegene Baie de Baly, eine ruhige Bucht, die von Mangroven und sandigem Marschland umgeben ist. Dahinter erheben sich sanfte, mit Bambus bewaldete Hügel, das natürliche Habitat der Angonoka.

Das Gebiet im Westen der Bucht wurde 1997 zum Schutzpark erklärt. Laut dem Parkdirektor Hervé Amavatra wurden bei der ersten Zählung 2008 noch über 1000 Angonoka gezählt. 2011 waren es 800, bei der letzten Zählung 2013 noch 640 Exemplare, bei einem statistischen Unsicherheitsfaktor von 250. Ausserhalb der Baie de Baly kommt die Schnabelbrustschildkröte nirgends in freier Wildbahn vor.

Richard Lewis, der Leiter der Durrell-Programme in Madagaskar, schildert den Kampf für das Fortleben der Schildkrötenart wie ein Ringen mit ungewissem Ausgang. Laut dem 50-jährigen Zoologen züchteten die Naturschützer im Reservat in Amijoroa in drei Jahrzehnten insgesamt 560 Angonoka auf. Die Aussetzungen begannen 2008. «Wir entlassen normalerweise jedes Jahr zwanzig Exemplare in die freie Wildbahn», sagt der Engländer, «aber wegen der Wilddieberei mussten wir die Aktionen einstellen.»

Die politischen Krisen nach 2009 hatten zum Zusammenbruch der ohnehin schwachen staatlichen Überwachungs- und Strafmassnahmen geführt und Wilddieben Tür und Tor geöffnet. Es bestand die Gefahr, dass ausgesetzte Tiere zur leichten Beute der Frevler würden. Die jüngste Freilassung, die erste seit zwei Jahren, bringt die Zahl der ausgesetzten Angonoka auf 110.

Asiatische Schmugglerbanden

Lewis ist vorsichtig optimistisch. Seit in Madagaskar letzten März gewählt wurde, verfügt es erstmals seit fünf Jahren wieder über eine legitime Regierung. Der neue Präsident Rajaonarimampianina verspricht, den Wilddieben zu Leibe zu rücken. Immerhin ein Anfang, sagt Lewis. «Ausserdem gelingt es uns immer besser, die lokale Bevölkerung in das Programm einzubeziehen.» Die Durrell-Stiftung hilft beim Aufbau von Schulen und anderen Entwicklungsprojekten und hat mit lokalen Naturschutzgruppen rund um die Baie de Baly ein Netz von Informanten aufgebaut, dank dem Umtriebe von Wilddieben frühzeitig der Polizei gemeldet werden.

Aber die Frevler haben die perverse Ökonomie der Rarität auf ihrer Seite. Sammler, vor allem in Südostasien, sind bereit, fast jeden Betrag für ein Exemplar hinzulegen. Sie sind hinter dem Seltenheitswert und dem Nimbus der Tiere als einem der ältesten und langlebigsten Lebewesen her. Schildkröten sind ein Gruss aus dem Erdmittelalter vor mehr als hundert Millionen Jahren und werden so alt wie kaum ein anderes Geschöpf. Von einer Strahlenschildkröte, einer mit der Angonoka verwandten madagassischen Art, wird überliefert, dass sie James Cook 1777 auf einer seiner Entdeckungsreisen durch den Pazifik der Königin von Tonga schenkte. Das Tu'i Malila (König Malila) getaufte Tier verendete erst 1966. Cook hatte es ansehnlich gross von einem Händler in Kapstadt erworben, so dass es wohl um 1760 geschlüpft war; es wurde also vermutlich mehr als zweihundert Jahre alt.

Ein Beitrag des Fernsehsenders al-Jazeera deckte vor einem Jahr einen Schmugglerring mit dem Malaysier Ansong Wong an der Spitze auf. Wong, ein Hintermann des weltweiten Schwarzhandels mit lebenden Reptilien, wurde mehrfach zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, kam aber schon 2012 wieder frei. Laut al Jazeera verfügt Wong über korrupte Beziehungen zur malaysischen Regierung und kann sich trotz entzogenen Geschäftslizenzen weiter im illegalen Wildtierhandel betätigen. Im «Angebot» führt er auch Madagassische Schnabelbrust- und Strahlenschildkröten. Lewis sagt, Wong sei einer der gefährlichsten, aber nicht der einzige Schmuggler, der seine Tentakel nach Madagaskar ausstrecke. Der Inselstaat mit einer zu 80 Prozent endemischen Fauna zieht skrupellose Wildtierhändler geradezu an.

Die wichtigste Schmuggelroute verläuft über den internationalen Flughafen von Antananarivo. Air Madagascar fliegt zweimal wöchentlich über Bangkok nach Guangzhou. Laut Beobachtern von Traffic, einer internationalen Organisation zur Bekämpfung des illegalen Wildtierhandels, behändigen madagassische Kuriere typischerweise bei der Abreise zwei mit 3- bis 5-jährigen Jungtieren vollgestopfte Koffer. Im Fall der Schnabelbrustschildkröte liegt der Wert einer solchen Ladung bei über 100 000 Dollar. Bei der Ankunft in Bangkok schleusen die Syndikate die Fracht an den Kontrollen vorbei. Die Tiere, die bis zu sechs Monate ohne Wasseraufnahme auskommen, überleben die Tortur.

Schwierige Kontrolle

Der Schwarzhandel mit Angonoka nahm 2009 mit dem sozialen und politischen Zerfall Madagaskars sprunghaft zu. Über das Internet werden selbst ausgewachsene Tiere angeboten. Laut Herilala vom madagassischen Ableger der Turtle Survival Alliance, einer amerikanischen Organisation zum Schutz bedrohter Schildkrötenarten, nahmen die Behörden den Schmugglern zwischen 2010 und 2013 1700 geschützte Schildkröten verschiedener Arten ab. Letztes Jahr stiegen die Beschlagnahmungen auf über 2000, rund 30 davon waren Schnabelbrustschildkröten. Konfiszierte Angonoka werden nach Amijoroa gebracht und im Durrell-Reservat separat gehegt und gepflegt.

Weist die Zunahme der Konfiskationen auf eine Verschlimmerung des Frevels oder auf verbesserte Kontrollen hin? Vorläufig kennt niemand eine Antwort. Herilala von der Turtle Alliance ist skeptisch. «Die Regierung schiebt die Verantwortung ab», sagt er, «sie verabschiedet Deklarationen, überlässt die Durchführung aber privaten Partnern.» Herilala glaubt, dass sich die Behörden ebenso gleichgültig verhalten, wenn es um Polizeikontrollen an Häfen und Flughäfen oder um die Strafverfolgung von Schmugglern und ihren einheimischen Helfern geht. Der Naturschützer spricht aus Erfahrung. Der madagassische Schmuggelbaron Djamaldine wurde 2013 verurteilt, musste seine Strafe aber nie absitzen. Die Familie Djamaldine spinnt ihre Beziehungen von Mahajanga aus, der Stadt, die dem Lebensraum der Angonoka am nächsten liegt. Bis vor kurzem besass die Familie die Franchise von Air Madagascar für die Landepisten der Region. Die Djamaldines sind mit dem Establishment in Antananarivo verbandelt, Beobachter sagen, sie hätten von der neuen Regierung kaum etwas zu befürchten.

Kürzlich betraute die madagassische Zivilluftfahrtbehörde britische Experten damit, Ordnung in die Frachtabfertigung am Flughafen von Antananarivo zu bringen. Aber selbst wenn die Behörden durchgreifen, haben die Schmuggler Alternativvarianten. Der Schwarzhandel soll bereits jetzt vermehrt über den Flughafen von Mahajanga und die Komoren abgewickelt werden. Eine weitere Route führt per Schiff über die ostafrikanische Küste. Mombasa, Dar es Salaam sowie mosambikanische Häfen stehen im Ruf, als Umschlaghäfen illegaler Handelsgeschäfte benutzt zu werden. Auch der Schwarzhandel mit madagassischem Palisanderholz wird über Ostafrika abgewickelt.

Die Anfälligkeit für den Wildfrevel beginnt jedoch am Ursprung, bei den Fischern von Baly, einem Dorf im Osten der gleichnamigen Bucht, und von Soalala, dem Städtchen gegenüber. Die Verantwortlichen der Durrell-Stiftung und der örtlichen Parkverwaltung setzen alles daran, den feierlichen Tag der Freisetzung von zwanzig Angonoka zu nutzen, um den Einheimischen naturschützerische Werte zu vermitteln.

Ein Zebu wird geopfert

Bei der Ankunft an dem von Kokospalmen gesäumten Strand singen und jubeln die Bewohner von Baly. Von den Frauen, die sich herausgeputzt haben, will jede eine Basttasche mittragen. Ein Priester der Sakalava, des einheimischen Volksstamms, tanzt und bittet die Ahnen, die ausgesetzten Tiere zu beschützen. Ein Zebu wird geopfert und später gemeinsam verzehrt. Dann folgt eine Rede der anderen. Der Bürgermeister von Soalala spricht von der glücklichen Heimkehr der Angonoka, der Direktor des Schutzparks von der Gefahr, die von Waldbränden und umherziehenden Viehherden ausgeht.

Das Problem ist, dass die Fischer nicht viel von der seltenen Schildkrötenart haben. Ihr Verzehr ist nach dem Glauben der örtlichen Sakalava tabu. Bis in die sechziger Jahre wurden sie als Nutztiere gehalten, die die Hühnerhöfe sauber hielten. Dann wurden die Angonoka unter Schutz gestellt, der Staat untersagte ihren Gebrauch. Ihr ökologischer Nutzen, die Verbreitung von Baumsamen, entgeht den Fischern.

Bleibt der Tourismus. Herilala hofft auf Ökotourismus, aber die Baie de Baly ist abgelegen. Im Jahr 2012 machte ein Kreuzfahrtschiff halt, die Touristen liessen sich zu den Verstecken der Angonoka führen und zogen wieder ab. In seiner Ansprache verspricht Lewis, der Geldsegen werde sich 2016 wiederholen, eine Reisegesellschaft habe sich für den Besuch in der Bucht angemeldet. Die Bewohner von Baly klatschen in die Hände. «Das ist alles schön und gut», sagt Lewis später trocken, «aber wenn hier jemand einen Cousin hat, der sich an der Wilddieberei beteiligt, wird er ihn niemals verraten.»

Der einzige Redner, der Klartext spricht, heisst Nirinalison. Er ist Vizedistriktchef in Mahajanga. «Es sind nicht die Fremden, die unsere Angonoka stehlen», sagt er. «Sie wissen gar nicht, wo sie sie finden würden. Wir Einheimischen sind es! Wir helfen den Dieben.» Die Menge klatscht auch jetzt. Marie-Louise, die Frau eines Fischers, sagt, nun werde alles gut. Sie erinnert sich, wie sie als Kind in den Wald ging und ihr häufig Schnabelbrustschildkröten über den Weg liefen. «Die ausgesetzten Angonoka sind ja so gross», sagt sie staunend, «sie werden viele Babys machen. Das wird unser Glück sein.»

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