Beim Telefongespräch von Boris Johnson mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel wurden die Meinungsunterschiede einmal mehr sehr deutlich. (Bild: Philippe Wojazer / Reuters)

Beim Telefongespräch von Boris Johnson mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel wurden die Meinungsunterschiede einmal mehr sehr deutlich. (Bild: Philippe Wojazer / Reuters)

Boris Johnson telefoniert mit Angela Merkel, und nun glaubt in London niemand mehr an einen Brexit-Deal

Der Premierminister zitiert den angeblichen Wortlaut eines Telefongesprächs mit Bundeskanzlerin Angela Merkel als Grund, warum ein Brexit-Deal ausser Reichweite geraten sei. Die britische Regierung gibt sich frustriert und ist bestrebt, die Schuld für ein Scheitern der Verhandlungen anderen in die Schuhe zu schieben.

Markus M. Haefliger, London
Drucken

Vertraute von Boris Johnson haben am Dienstag eingestanden, dass die Chancen auf eine Einigung über den Brexit-Vertrag vor dem EU-Gipfel in zehn Tagen gegen null tendieren. Anonyme Quellen im Premierministeramt bezogen sich auf ein Telefongespräch, das Johnson am Morgen mit Angela Merkel geführt hatte. Dabei habe die Bundeskanzlerin die letzte Woche unterbreiteten Vorschläge der britischen Seite abgelehnt. Dies, so sagten die Auskunftspersonen britischen Medien, verunmögliche im Wesentlichen einen Vertragsabschluss.

Undiplomatische Indiskretion

Die undiplomatische Indiskretion wurde in Berlin und Brüssel mit Unbehagen erwidert. Merkels Sprecher sagte, man äussere sich nicht über den Inhalt vertraulicher Gespräche. EU-Rats-Präsident Donald Tusk warf der britischen Seite in scharfen Worten vor, ein «dummes Spiel von Schuldzuweisungen» zu veranstalten. Es gehe um die Zukunft Europas und die Sicherheit der Völker. Offiziell gehen die Gespräche vorderhand weiter. Damit ein Vertragstext vor Beginn des EU-Gipfels am 17. Oktober in den EU-Mitgliedstaaten zirkulieren kann, gilt das nächste Wochenende ohnehin als letzter Termin für eine Einigung.

Aus der Aufwallung in der Downing Street wird zweierlei deutlich. Die britischen Unterhändler sind erstens frustriert – oder wollen zumindest den entsprechenden Eindruck erwecken. Als sie vor einer Woche ihr angeblich letztes Angebot unterbreiteten, erwarteten sie laut eigenen Aussagen, dass der EU-Chefunterhändler Michel Barnier darauf eintreten würde. Für Brüssel geht Johnsons Plan jedoch in die falsche Richtung. Nach ihm soll Nordirland im EU-Binnenmarkt bleiben – eine Konzession –, aber aus der EU-Zollunion herausgelöst werden – eine Forderung der Brexit-Anhänger und nordirischen Unionisten. Als Folge müssten an der inneririschen Grenze Zollformalitäten abgewickelt werden, die laut London ohne grenznahe Kontrollen auskommen sollen. Irland und die EU halten dies für unglaubwürdig. Einen weiteren Haken bildet das vorgesehene Mitspracherecht von Volksversammlung und Regionalregierung in Nordirland, die derzeit suspendiert sind. Das Vetorecht überträgt sich als Folge des nordirischen Friedensabkommens de facto auf die Unionisten, was dem Modell kaum Aussicht auf Bestand lässt.

Wink mit dem Zaunpfahl

Der zweite Grund für die unfreundliche Öffentlichkeitsarbeit von Johnsons Entourage ist das Bestreben, anderen Akteuren im Brexit-Poker – dem Unterhaus, den Gerichten, der EU oder auch Berlin – die Schuld an einem Scheitern zuzuschieben. Johnsons Chefstratege Dominic Cummings treibt einen vertragslosen Brexit voran, obwohl die Regierung durch das Benn-Gesetz gezwungen ist, eine Verlängerung der Brexit-Frist zu beantragen, falls am EU-Gipfel keine Einigung zustande kommt. Der Premierminister will sich dem Buchstaben des Gesetzes beugen, aber dessen Inhalt durchkreuzen, wann immer es geht. Kommt es zur Verlängerung, will Johnson mit einer No-Deal-Plattform in den Wahlkampf ziehen.

Der «Spectator» veröffentlichte am Dienstag ein anonymes Schreiben, das dem Wochenmagazin zugespielt worden war. Man darf annehmen, dass es von Cummings stammt. Es verdeutlicht die Obstruktions-Strategie und droht EU-Mitgliedern, die sich dem Brexit entgegenstellen, mit nachteiliger Behandlung, während andere, die sich im EU-Rat gegen eine Fristverlängerung aussprechen, bevorzugt behandelt würden. Die Drohung soll laut dem Autor des Schreibens auch für die Sicherheitszusammenarbeit gelten, ein Wink mit dem Zaunpfahl gegenüber osteuropäischen EU-Staaten, in denen britische Soldaten stationiert sind. Die Anzeichen, dass die Brexit-Verhandlungen in Bitterkeit enden, mehren sich.