Die letzten Ostdeutschen

Die «Wendekinder», die das Leben in der DDR gerade noch erlebt haben, gehen selbstbewusster mit ihrer Herkunft um als früher. Ihre Erfahrungen geben neue Perspektiven auf das vereinigte Deutschland.

Markus Ackeret, Potsdam
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Kind in der DDR, erwachsen in geeinten Deutschland: Kindergartenausflug 1976 in Schwerin. (Bild: Ullstein)

Kind in der DDR, erwachsen in geeinten Deutschland: Kindergartenausflug 1976 in Schwerin. (Bild: Ullstein)

Am Ende einer Diskussionsveranstaltung der Friedrich-Naumann-Stiftung in Potsdam steht ein junger Mann auf und fragt: «Warum muss man alles hinterfragen? Warum freut man sich nicht einfach darüber, dass Deutschland 25 Jahre nach der Wiedervereinigung auch gesellschaftlich einigermassen zusammengewachsen ist?» Den Vertretern der sogenannten «dritten Generation Ost», jener Deutscher, die zwischen 1975 und 1985 in der DDR geboren wurden und als Kinder oder Jugendliche die Wende und die Einheit erlebten, werden solche Fragen oft gestellt. Und oft schwingt die Skepsis darüber mit, dass das Thematisieren dieser Generation der Selbstüberhöhung, der Larmoyanz, der Zementierung innerdeutscher Gegensätze – oder allem gleichzeitig – dient. Gibt es noch immer kein geeintes Deutschland?

Rückkehr alter Gespenster

Eine Generation nach Erlangen der deutschen Einheit erscheint es zuweilen, als holten totgeglaubte Geister die Gesellschaft ein. Bundespräsident Joachim Gauck sprach von «Dunkeldeutschland», als er die Ausbrüche von Fremdenfeindlichkeit dieses Sommers anprangerte. Er blickte besonders nach Sachsen und Sachsen-Anhalt, wo rechtsextreme Aufläufe vor Asylbewerberunterkünften, physischer Widerstand gegen die Unterbringung von Flüchtlingen, Brandanschläge und Gewaltakte wochenlang die Schlagzeilen beherrschten. Gaucks «Dunkeldeutschland» ist aber über die ganze Bundesrepublik verteilt, es ist überall dort – und also auch im Westen des Landes –, wo Hass und Gewalt gegen Fremde auftreten.

«Dunkeldeutschland» ist keine neue Wortschöpfung. Der Begriff stammt aus den neunziger Jahren und meinte damals nicht nur die besorgniserregende Häufung fremdenfeindlicher Gewalt, sondern wurde von Westdeutschen als Synonym für den ihnen oft unbekannten und suspekten Osten des Landes verwendet. Gaucks «Dunkeldeutschland» wirkt deshalb so, als werde der Osten Deutschlands als Ganzes diffamiert und würden Stereotype wiedererweckt. Die Dresdner Pegida-Bewegung hatte, noch vor den Schlagzeilen über Brandanschläge rechtsradikaler Gruppierungen in Ostdeutschland, bereits im vergangenen Winter diese Diskussionen wieder aufleben lassen. Die Flüchtlingskrise hat neue Facetten dazu geliefert.

Das macht es jenen in Ost und West einfach, die in Schwarz und Weiss denken; den Frustrierten, Überforderten, denen, die voller Ressentiments und Bitterkeit sind. Aber für jene, die, wie es der junge Soziologe René Sternberg sagt, vor allem auch das Grau der Vergangenheit sehen, ist es eine Enttäuschung. Statt über verschiedene Erfahrungen und Perspektiven im gemeinsamen Staat nachzudenken, sind alte Gegensätze wieder da. Gleichzeitig ist klar, dass das Hinterfragen von rechter Gewalt und Pegida gerade in Ostdeutschland notwendig und naheliegend ist.

Das Schweigen in der Familie

Die «dritte Generation Ost», zu der Sternberg gehört und mit der er sich als Hobby auch wissenschaftlich beschäftigt hat, ist keine feste Grösse. Dafür ist die Personengruppe, die in diesen Rahmen passt, zu wenig homogen, und auch der Rahmen selbst nicht eindeutig umrissen. Seit rund fünf Jahren gibt es verschiedene, lose organisierte Gruppierungen, die sich mit dem Thema beschäftigen: was es bedeutet, zu dieser Generation zu gehören, wie damit umzugehen ist und was diese mit unterschiedlichen Biografien ausgestatteten Deutschen an Erfahrungen und Perspektiven in die gesamtdeutsche Politik, Gesellschaft und Wirtschaft einbringen könnten.

Aus einem dieser Netzwerke entstand vor drei Jahren der Sammelband «Dritte Generation Ost: Wer wir sind, was wir wollen», in dem es vor allem um individuelle Erfahrungen und Sichtweisen von Ost- und Westdeutschen ging. Er stiess auf grosses Echo – nicht minder bei den Angehörigen der Eltern- und Grosselterngeneration, die mit Wohlwollen und Interesse, zuweilen auch mit Abwehr und dem Versuch reagierten, die persönlichen Einblicke ihrer Kinder und Grosskinder aus eigener Erfahrung zurechtzurücken.

Das Buch macht auch offensichtlich, dass es an wissenschaftlichem Zugang fehlt. Daraus entstand die Idee zu einem weiteren Buch mit wissenschaftlichen Beiträgen, das noch dieses Jahr erscheinen soll. Sternberg und seine Kollegin Anne Schreiter, eine an der Universität St. Gallen promovierte Soziologin, die ebenfalls zur besagten Generation gehört, haben einen gemeinsamen Beitrag für den Band verfasst und sehen diesen als Startpunkt für weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema. Harte Fakten fehlten, einfach weil lange kaum dazu geforscht worden sei, sagt Sternberg. Aber es sei auch darum gegangen, Druck aus der sehr emotionalen Diskussion zu nehmen, findet Schreiter.

Vielen Angehörigen der «dritten Generation Ost» geht es etwa darum, das Schweigen in den eigenen Familien aufzubrechen. Die Grosseltern waren mit den Anfängen der DDR verbunden; die Eltern lebten einen guten Teil ihres Lebens im sozialistischen Deutschland und mussten sich mitten im Berufs- und Familienleben im abrupten wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Wandel zurechtfinden. Wie sie damit umgingen, dass diese vertraute Welt zusammenbrach; welche Erfahrungen sie mit dem System der DDR gemacht hatten: darüber in der Familie zu sprechen, ist auch für Schreiter und Sternberg nicht selbstverständlich. Der Journalist Robert Ide, der das Buch «Geteilte Träume: Meine Eltern, die Wende und ich» geschrieben hat, meinte an der Podiumsdiskussion der Naumann-Stiftung in Potsdam, man müsste nun auch in den Familien – nicht nur in der Politik – etwa die Frage nach der Stasi-Vergangenheit von Verwandten stellen dürfen.

Eine Stimme geben

Die Elterngeneration, sagt Anne Schreiter, sei eine stumme Generation. Deren grösstes Problem sei es, das Gefühl zu haben, defizitäre Deutsche zu sein. Ihnen eine Stimme zu geben, von der Fülle ihrer Erfahrungen zu berichten, die im offiziellen Diskurs fehlten, sei eine der Aufgaben der «dritten Generation». René Sternberg, der in der Region Wittenberg in Sachsen-Anhalt aufgewachsen ist, sieht die 30- bis 40-Jährigen in einer Doppelrolle: Mitunter seien sie es, welche die Eltern und deren Lebenswege verteidigten, aber noch viel stärker befänden sie sich in einer Vermittlerfunktion. Sie verstünden die Eltern, aber auch die Westdeutschen; sie seien nicht belastet mit der Vergangenheit und könnten viel nüchterner zurückblicken als die vorherigen Generationen.

Sternberg nennt das Beispiel der Kindertagesstätten. Ostdeutsche sagen oft mit einer Portion Bitterkeit, Kindertagesstätten habe es ja in der DDR stets gegeben und jetzt werde das als Errungenschaft verkauft. Für Sternberg geht es um die Nuance: Nicht dass es Kitas gab, war negativ, sondern die ideologischen Einflüsse waren es. Anne Schreiter gibt zu bedenken: Zwar seien viele Chancen verpasst worden, aus dem DDR-Erbe etwas anderes zu machen, und das vereinigte Deutschland hätte davon profitieren können. Aber man müsse auch anerkennen, dass die schnelle Anpassung an den Westen von beiden Seiten gewollt war. Auch die Ostdeutschen wollten 1990 mehrheitlich die als Errungenschaften des Westens empfundenen Strukturen rasch übernehmen. Aus Ostdeutschland eine Art Sonderfall mit eigenen Regeln innerhalb Gesamtdeutschlands zu machen, wäre als Diskriminierung verstanden worden.

Zur Wahrheit gehört für Sternberg aber auch, dass die «Wiedervereinigung» eigentlich ein «Anschluss» des Ostens an den Westen war, mit einem – für die Transformation der ehemals sozialistischen Länder Europas einmalig – fast vollständigen Austausch der Eliten. Wie sehr aber die Politik in Ostdeutschland weiterhin von der älteren, weitgehend in der DDR sozialisierten Generation geprägt wird, fällt der brandenburgischen FDP-Politikerin Linda Teuteberg auf. Mit 34 Jahren gehört sie auch zur «dritten Generation Ost». Dass es auch jüngere Repräsentanten Ostdeutschlands gebe, werde in den Medien zu wenig vermittelt, findet sie. Die Debatten und die politischen Vertreter seien auf dem Stand der neunziger Jahre. Teuteberg, die eine Legislaturperiode lang dem Brandenburger Landtag angehörte, wurde oft mit dem Vorwurf konfrontiert, sie sei ja zu jung, um über die DDR-Vergangenheit ein Urteil fällen zu können. Dagegen hat sich die Juristin immer gewehrt – zum einen, weil sie der Überzeugung ist, dass Kinder von einer Diktatur viel mitbekommen. Sie spüren, wie der Staat überall eingreift oder wie sie früh dazu angehalten wurden, nicht darüber zu sprechen, worüber zu Hause am Esstisch gesprochen wurde. Zum andern würde jede historische Aufarbeitung an der Prämisse scheitern, dass nur jene, die die Epoche selbst erlebt haben, auch darüber urteilen dürfen.

Teuteberg vermisst in der ostdeutschen Politik bis heute die Lust an unterschiedlichen Meinungen und an der politischen Debatte. Es werde von der älteren Generation eine Politik des Nachgebens verfolgt; wer sich dagegen wehre, werde wie ein ungezogenes Kind behandelt und belehrt. Oft fühlten sich politische Gegner sofort persönlich verletzt. Die Politikerin, die auch im Bundesvorstand der FDP sitzt, sieht es als die Aufgabe der jungen ostdeutschen Politiker an, mehr Ostdeutsche mit dem Parlamentarismus zu versöhnen, wie sie es sagt. Mit Blick auf Pegida scheint das besonders wichtig. Den Sinn, über die «dritte Generation Ost» nachzudenken, sieht sie auch darin, anzuerkennen, dass es unterschiedliche Prägungen zwischen Ost und West nach wie vor gibt.

Besondere Kompetenzen

Linda Teuteberg lehnt es ab, moralische Überlegenheit aus den Erfahrungen abzuleiten, die die «dritte Generation Ost» prägten. Das haben auch Anne Schreiter und René Sternberg nicht vor. Sie sehen aber in ihrer Generation eine «Transformationskompetenz» angelegt, weil sie als Kinder oder Jugendliche nicht nur mit einem Systemwechsel für sich persönlich umgehen mussten, sondern auch erlebten, wie ihre Eltern damit konfrontiert waren und wie sich nicht selten die Rollen verschoben: Das Verständnis für das «neue» Deutschland ist bei der dritten Generation bis heute grösser.

Sternberg sieht Empathie und das Bewusstsein für verschiedene Perspektiven als Teil dieser Kompetenz, die manche dadurch erweiterten, dass sie ins Ausland gingen und die Welt erkundeten, die den Eltern oft bis heute fremd geblieben ist. Auch das Bewusstsein für den Wert der Freiheit und Demokratie, das Teuteberg zum politischen Engagement für die Liberalen geführt hat, gehört dazu. Das Infragestellen von scheinbar Selbstverständlichem – politisch wie gesellschaftlich – und das Wissen darum, dass Freiheit nicht einfach da ist, zählen Sternberg und Schreiter zu wichtigen Merkmalen ihrer Generation.

Zugleich zeigt sich darin auch die Heterogenität der «dritten Generation Ost». Mit dem Vorwurf, die Ideen zu diesen Netzwerken seien in einem ganz bestimmten, meist akademischen und in und um Berlin tätigen Milieu entstanden und daher nicht repräsentativ für die ganze Generation, werden Sternberg, Schreiter und ihre Mitstreiter immer wieder konfrontiert. Die Diskrepanz zwischen jenen Angehörigen dieser 30- bis 40-Jährigen, die durch Studium und Beruf die Welt erkundeten, das DDR-Erbe reflektierten und diese «Transformationskompetenz» aktivierten, und jenen, die in den Dörfern zurückblieben und mit gesellschaftlicher Vielfalt – auch dem Fremden – bis heute wenig anfangen können, ist gross. Letztere Gruppe ist jene, welche die Schlagzeilen von Gaucks «Dunkeldeutschland» hervorbringt. Sie stärker zu beeinflussen, scheitert schon daran, dass die gut Ausgebildeten kaum Perspektiven haben in der ostdeutschen Provinz. Auch das gehört zur Realität eines vereinten Deutschland, das fünf Jahrzehnte geteilte Geschichte kennt.

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