«Bereit, weil Ihr es seid» war einmal: Die deutschen Grünen verlieren den Anschluss an weite Teile des Bürgertums

Umfragen in Deutschland sagen den Grünen für die Europawahl eine Halbierung ihres letzten Ergebnisses voraus. Für die Regierungsbeteiligung bezahlt die Partei einen hohen Preis. Abschreiben sollte man sie für die nächste Bundestagswahl dennoch nicht.

Oliver Maksan, Berlin 6 min
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Gute Laune trotz schlechten Umfragewerten: grüne Spitzenpolitiker auf dem Karlsruher Parteitag im November 2023.

Gute Laune trotz schlechten Umfragewerten: grüne Spitzenpolitiker auf dem Karlsruher Parteitag im November 2023.

Wolfgang Rattay / Reuters

Es sind Zahlen, die die deutschen Grünen beunruhigen dürften. Laut einer neuen Umfrage können sie bei der Wahl zum Europäischen Parlament im Juni nur mit 10,5 Prozent der Stimmen rechnen. Sollte es so kommen, hätte die Partei ihr Ergebnis der vergangenen Europawahl von 2019 glatt halbiert.

Auf beeindruckende 20,5 Prozent der Stimmen kam sie damals – das beste Ergebnis, das die 1983 erstmals in den Bundestag eingezogene Partei bei einer bundesweiten Wahl bisher erreicht hat. Beflügelt vom Ergebnis wurde die Idee geboren, einen Kanzlerkandidaten zu küren. Und tatsächlich schien das nicht Ausdruck von Grössenwahn zu sein. Kurz nach der Nominierung von Annalena Baerbock im April 2021 lagen Union und Grüne in Umfragen gleichauf. Eine grün geführte deutsche Regierung schien zeitweise möglich.

Die wichtigsten Etappen der Grünen

Die wichtigsten Etappen der Grünen

Aber das waren auch andere Zeiten. Damals schwammen die Grünen auf einer Welle der Sympathie. Der jugendliche Protest von Fridays for Future trug ihre Anliegen auf die Strasse. Die grüne Themenkonjunktur zahlte auf das Konto der Partei ein.

Einen verpatzten Wahlkampf und einen Eintritt in die Ampelregierung später ist davon wenig geblieben. Dabei schien ihnen die «Fortschrittskoalition» mit Sozialdemokraten und Liberalen zunächst gut zu bekommen. Im Sommer 2022 überholten sie in den Umfragen sogar die Kanzlerpartei SPD. Viele Bürger überzeugte, wie entschlossen Aussenministerin Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck auf den Angriff Russlands auf die Ukraine reagierten.

Aus Sicht der Union eine toxische Partei

Doch 2023 folgte der Absturz in den Umfragen. Derzeit werden etwa 13 Prozent Zustimmung ermittelt. Die Grünen sind eben Teil einer Regierung, die als die unbeliebteste der bundesrepublikanischen Geschichte gilt. Aus Sicht des politischen Gegners sind sie ganz wesentlich dafür verantwortlich und deshalb vom umworbenen Koalitionspartner zur toxischen Partei geworden. Jedenfalls für wichtige Repräsentanten der Union.

CSU-Chef Markus Söder, vor einigen Jahren noch mit Schwarz-Grün flirtend, erteilt einer solchen Koalition nicht nur für Bayern, sondern auch auf Bundesebene eine Absage. CDU-Chef Friedrich Merz will Koalitionsgespräche mit ihnen nicht ausschliessen, aber aus verhandlungstaktischen Gründen eher denn aus echter Zuneigung.

Und als wäre all das nicht genug, werden die Grünen auch zur Zielscheibe. Keine Partei war im vergangenen Jahr so vielen Übergriffen gegen ihre Einrichtungen ausgesetzt wie die grüne. Im baden-württembergischen Biberach konnte die Polizei steinewerfender Bauern wegen am politischen Aschermittwoch nicht für die Sicherheit des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann garantieren. Die Veranstaltung entfiel.

Die Grünen als Lebensversicherung der AfD

Wie konnte es so weit kommen? War man bei den Grünen 2021 nicht überzeugt, dass die Zeit für die grosse grüne Transformation der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft gekommen sei? «Bereit, weil Ihr es seid», lautete der Slogan zur Bundestagswahl. Offensichtlich stimmt das nicht mehr. Doch wer war oder ist nun nicht bereit: die Grünen oder die Deutschen?

Die Partei und ihr nahestehende Kommentatoren verbreiten diese Erzählung: Die Grünen seien die Einzigen, die den Deutschen reinen Wein einschenkten. Während alle anderen Parteien trotz Klimakrise unverantwortlicherweise auf ein Weiter-so setzten, versuchten die Grünen, die Weichen konsequent in Richtung einer postfossilen Zukunft zu stellen – und das im demokratischen Konsens.

Der Gegenreim geht so: Die Grünen träten autoritär, ideologisch und beratungsresistent auf. Das habe sich am Heizungsgesetz von Wirtschaftsminister Habeck exemplarisch gezeigt. Ein technologiefeindliches und bevormundendes Bürokratiemonster sei der ursprüngliche Entwurf gewesen. Etwa 80 Prozent der Bürger lehnten es ab. Das Gebaren der Partei sei sogar eher eine Belastung für die Demokratie. Die AfD habe schliesslich keine bessere Lebensversicherung als die deutsche Regierung im Allgemeinen und die Grünen im Besonderen.

Von der AfD überholt

Dafür sprechen die Umfragen. Im Frühjahr 2023 überholte die AfD die Grünen und ist ihnen seither enteilt. Mag es zwischen den Antipoden des deutschen Parteiensystems auch wenig Wählerwanderung geben, so mobilisieren sie einander wechselseitig. Die postmoderne Ideenwelt der Grünen ist schliesslich der Gegenentwurf zum zwischen Nationalkonservatismus und völkischen Vorstellungen schillernden Vorstellungskosmos der Rechten.

Neu ist allerdings, dass die Grünen bis weit in die Mitte der Wählerschaft hinein polarisieren. Das zeigt sich darin, dass auf die Frage, wen sie nie wählen würden, die Grünen inzwischen den zweiten Platz nach der AfD belegen. Der war lange durch die Linkspartei besetzt. Hinzu kommt: Während bei der AfD der Wert bei der Antwort auf die negative Sonntagsfrage über die Jahre kontinuierlich zurückgegangen ist, ist er bei den Grünen deutlich gestiegen.

Wirklich beunruhigen muss die Grünen aber, dass seit Eintritt in die deutsche Regierungskoalition ihr Wählerpotenzial geschrumpft ist. Lag dieses noch 2022 über Monate bei etwa 40 Prozent, so sind es derzeit nur noch etwa 25 Prozent der Wähler, die bei der nächsten Bundestagswahl sicher oder möglicherweise grün wählen wollen.

Nur die AfD wird mehr abgelehnt als die Grünen

Antworten auf die Frage "Würden Sie diese Partei wählen?", in Prozent
voraussichtlich
vielleicht
Differenz zu 100 Prozent
nie

Dies beschädigt die durch Umfragen lange gut belegte Behauptung der Grünen, sie seien anschlussfähig an immer weitere Teile des Bürgertums geworden. Diesem Ziel hatten sich Habeck und Baerbock als Parteichefs ab 2018 erfolgreich verschrieben. Der Eindruck jedoch, Wirtschaftsminister Habeck sei der Wirtschaftskrise nicht gewachsen und ohne Plan, wirkt sich auch bei eigentlich sympathisierenden Wählern aus. Mittlerweile sind die Grünen deshalb in Umfragen mehr oder weniger auf ihre Stammwählerschaft zurückgeworfen.

Entsprechend agieren sie derzeit. Nach dem Motto Stammkundschaft vor Laufkundschaft versuchen sie, die grüne Seele zu streicheln. So stellt sich die Partei jetzt bei der Schaffung einer bundesgesetzlichen Grundlage für die Bezahlkarte für Asylbewerber quer. Unnötig sei die. Ihre Befürworter wenden ein, nur so sei das Instrument rechtssicher zu verankern.

Aus grüner Sicht macht sich dieses Vorgehen sogar bezahlt. Allein seit Jahresbeginn sollen etwa 4500 Bürger in die Partei eingetreten sein – so viele wie seit 2021 nicht mehr in einem Monat. Die von den Grünen unterstützten landesweiten Demos gegen die AfD machen sich hier bemerkbar. Und bei der Nachwahl in Teilen Berlins Mitte Februar, darunter klassische grüne Hochburgen, schnitt die Partei gut ab. Auch liegen die Grünen in Umfragen als Einziger der Ampelkoalitionäre nicht weit vom Ergebnis der letzten Bundestagswahl (14,7 Prozent) entfernt.

Für die bevorstehende Europawahl und die Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen im September freilich ist die jüngste Positionierung etwa bei der Bezahlkarte eine denkbar schlechte Ausgangslage, sagt der Trierer Politikwissenschafter Uwe Jun, will man über die Stammwählerschaft hinaus Erfolg haben. «Es wird schwierig, das den Wechselwählern der politischen Mitte zu vermitteln. Denn die wünschen ganz überwiegend eine restriktivere Migrationspolitik.»

Urwahl der Kanzlerkandidaten

Entscheidend ist natürlich die Antwort auf die Frage, wie die Grünen das Ruder im Hinblick auf die Bundestagswahl 2025 herumreissen wollen. Für Politikwissenschafter Jun ist die Strategie eindeutig. Das Thema soziale Sicherheit und Ausgleich in Zeiten der Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft soll verschreckte Bürger wieder zurückholen helfen.

Auch das Europawahlprogramm der Partei gibt einen Hinweis, in welche Richtung es bei der Bundestagswahl gehen soll. «Was uns schützt», ist es überschrieben. Darin präsentieren sich die Grünen als Partei nicht nur ökologischer, sondern auch demokratischer Resilienz. Wähler, die eine stärkere parlamentarische Präsenz der AfD fürchten, könnten deswegen 2025 erwägen, grün zu wählen.

An der Kanzlerkandidatur wollen die Grünen allen Umfragen zum Trotz festhalten. Sollte es mehr als einen Bewerber geben, soll anders als 2021 eine Urwahl der Mitglieder entscheiden, erklärte Parteichefin Ricarda Lang Anfang Jahr. Anders als beim letzten Mal haben die Grünen diesmal freilich keinen Rückenwind. Jun hielte es dennoch für falsch, wollte man die Grünen schon abschreiben. «In einem immer volatileren Parteiensystem lassen sich auch von Platz zwei aus möglicherweise Mehrheiten erzielen, mag es aufgrund der Stärke der Union derzeit auch nicht danach aussehen.»

Aber auch ein zweiter Platz will erst einmal errungen sein. Derzeit wird er laut Umfragen von der AfD besetzt. Und auch die SPD wird ihn anstreben und damit die Rivalität mit den Grünen um die Führerschaft im Lager links der Mitte befeuern. Klar ist: Bei der nächsten Bundestagswahl kämpfen alle drei Regierungsparteien für sich allein.

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