Martin Selmayrs wunderliche Blitzkarriere in Brüssel

Jean-Claude Juncker hat seinen streitbaren Kabinettschef Martin Selmayr mit dem höchsten Verwaltungsposten belohnt. Die Umstände der Beförderung haben eine Welle der Empörung ausgelöst, die nun auch das EU-Parlament erfasst.

Niklaus Nuspliger, Brüssel
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Brillanter Kopf macht Blitzkarriere: Martin Selmayr, neuer Generalsekretär der EU-Kommission in Brüssel. (Bild: Eric Vidal / Reuters)

Brillanter Kopf macht Blitzkarriere: Martin Selmayr, neuer Generalsekretär der EU-Kommission in Brüssel. (Bild: Eric Vidal / Reuters)

Die sogenannte Press Revue ist so etwas wie die europäische Version des White House Correspondents' Dinner: In der Brüsseler Albert Hall erscheint das Publikum allerdings in Jeans statt in Abendgarderobe und statt amerikanischen Glamours gibt es trockenen britischen Humor. Sujet der komödiantischen Darbietungen war bei der Ausgabe 2018 am Samstagabend neben dem Brexit auch der kometenhafte Aufstieg des deutschen Juristen Martin Selmayr zum Generalsekretär der EU-Kommission. In Anlehnung an den Star-Wars-Bösewicht Darth Vader erschien ein schwarz maskierter «Darth Selmayr» auf der Bühne, der von seinen unterwürfigen Lakaien mit «Ihre Unvermeidbarkeit» angesprochen wurde und der dem ganzen europäischen Universum seinen Willen aufzwang.

Gleich doppelt befördert

Martin Selmayr, der neue oberste Beamte der EU-Kommission und bisherige Kabinettschef von Präsident Jean-Claude Juncker, ist eine polarisierende Figur. Dies ist mit ein Grund dafür, dass seine am 21. Februar erfolgte Beförderung die Gemüter in der Brüsseler Blase noch immer erhitzt. Am Montag hat sich das Plenum des EU-Parlaments mit der Affäre befasst – und parteiübergreifend Kritik geübt: Von einem «Schuss in den eigenen Fuss» war die Rede, von «Nepotismus» und von einem «völligen Mangel politischer Urteilskraft». Nun soll sich der Haushaltskontrollausschuss mit «Selmayrgate» befassen.

Grund für die Aufregung ist das seltsame Verfahren, mit dem sich Selmayr an die Spitze des Generalsekretariats manövriert hat, das die Entscheidungsprozesse der Kommission leitet. Zwar hatte sich der 47-jährige Vertraute von Juncker ordnungsgemäss für den Posten des stellvertretenden Generalsekretärs beworben und ein Assessment absolviert. Kurz vor der Kommissionssitzung, an der die Wahl hätte vollzogen werden sollen, aber reichte der bisherige Generalsekretär, ein verdienter niederländischer Karrierefunktionär, überraschend seinen Rücktritt ein. Das von Juncker überrumpelte Kollegium der EU-Kommissare hatte auf einmal nicht nur die Wahl Selmayrs zum stellvertretenden Generalsekretär zu billigen. Vielmehr wurde Selmayr nach der ersten Beförderung per 1. März gleich auch zum Generalsekretär ernannt – eine wahre Blitzkarriere.

Rücksichtslos, aber brillant

Die Angelegenheit begann rasch Wellen zu schlagen. Zunächst verlangte das Parlament in Den Haag Auskünfte zu den Hintergründen des unvermittelten Abgangs von Selmayrs niederländischem Vorgänger. Kontraproduktiv war auch das Verwirrspiel der Kommission rund um Selmayrs angebliche Konkurrenten bei der Wahl: Am Ende kam heraus, dass neben Selmayr nur dessen bisherige Stellvertreterin im Juncker-Kabinett kandidiert und dass diese ihre Bewerbung auch noch kurzfristig zurückgezogen hatte. Es verfestigte sich der Eindruck eines abgekarteten Spiels, als dessen Sieger Selmayr bereits im Vorfeld festgestanden hatte.

Reglementarisch scheint alles korrekt verlaufen zu sein. EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger legte am Montag im EU-Parlament erneut dar, dass das vorgesehene Verfahren «in allen Einzelheiten» beachtet worden sei. Doch die medialen Reaktionen sind heftiger als die Kommission vorausgesehen hatte. Die französische «Libération», die als Erste Details über die Doppelbeförderung veröffentlicht hatte, sprach gar von einem «Staatsstreich». Für Misstöne sorgte auch, dass ein weiterer Deutscher eine EU-Spitzenposition bekleidet – obwohl Selmayr nie ein Erfüllungsgehilfe der Bundesregierung war und mit unbedachten Tweets auch schon einmal den Zorn des früheren Finanzministers Wolfgang Schäuble provozierte.

Dass Selmayr für das neue Amt qualifiziert ist, wird kaum bezweifelt. Er begann seine EU-Karriere als Sprecher und Kabinettschef der früheren Luxemburger Justizkommissarin Viviane Reding, bevor er bei der Europawahl 2014 die Wahlkampagne von «Spitzenkandidat» Juncker leitete. Selmayr gilt als rücksichtslos, aber auch als brillanter Kopf. Der überzeugte Europäer stellt sich in den Dienst der Kommission, er orchestriert die Kommunikationspolitik und hat die Gabe, bei unterschiedlichsten Dossiers gleichzeitig die Zügel fest in den Händen zu halten. Immer mehr Entscheide wurden in Junckers Kabinett zentralisiert, auch für die Schweiz wurden Selmayr und sein Team die wichtigsten Ansprechpartner. Selmayrs Machtfülle wurde desto grösser, je mehr ihn der alternde Juncker gewähren liess.

Steilvorlage für EU-Skeptiker

Dass ein Politiker einen loyalen Gefährten in ein Spitzenamt befördern lässt, ist nichts Aussergewöhnliches. Und Junckers Nachfolger steht es frei, 2019 einen neuen Generalsekretär zu ernennen. Insofern dürfte es Selmayr und Juncker gelingen, die Affäre auszusitzen. Doch im Parlament, das Juncker bisher stets die Stange gehalten hat, betonten Votanten aus allen Fraktionen, der Eindruck eines intransparenten Manövers schade der Glaubwürdigkeit der EU.

In der Tat war Juncker angetreten, um Hinterzimmer-Absprachen zu beenden und um die EU bürgernäher zu machen. Nun aber hat er den EU-Skeptikern eine Steilvorlage geliefert: Genüsslich referierte der Brite Nigel Farage über die «Vetternwirtschaft» der Eurokraten. Und der Sprecher des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban erklärte süffisant, Belehrungen der EU-Kommission in Sachen Rechtsstaatlichkeit wirkten derzeit nicht sehr authentisch.