Wer ist Jimmy «Barbecue» Chérizier, der Bandenchef, der Haitis Regierung stürzen will?

Die Lage in Haiti ist chaotisch. Der Regierungschef ist ausser Landes und hat sich inzwischen zum Rücktritt bereit erklärt. Gewalttätige Banden haben das Sagen.

Werner J. Marti 3 min
Drucken
Haitis mächtigster Bandenführer Jimmy «Barbecue» Chérizier soll eine angsteinflössende, aber auch charismatische Gestalt sein.

Haitis mächtigster Bandenführer Jimmy «Barbecue» Chérizier soll eine angsteinflössende, aber auch charismatische Gestalt sein.

Ralph Tedy Erol / Reuters

Seit Jahren wird die Bevölkerung in Haiti von Bandengewalt terrorisiert, und nun drohen die Gangs gar die Macht zu übernehmen. Der Regierungschef Ariel Henry hat Ende Februar das Land für eine Auslandreise verlassen und kann wegen der neuesten Gewaltwelle nicht mehr nach Haiti zurückkehren. Der Flughafen und der Hafen der Hauptstadt Port-au-Prince sind seit Tagen geschlossen. Nach Angaben der karibischen Staatengemeinschaft Caricom hat er sich am Montag (Ortszeit) zum Rücktritt bereit erklärt.

Die Banden, welche inzwischen achtzig Prozent der Grossstadt unter ihrer Kontrolle haben sollen, greifen neuerdings direkt kritische Infrastruktur wie den Flughafen sowie Regierungsgebäude an. Am Freitag brannte das Innenministerium. Am Wochenende haben die Amerikaner alles diplomatische Personal, das für den Betrieb der Botschaft nicht unbedingt erforderlich ist, evakuiert.

Anfang März haben konkurrierende Gangs unter Führung des mächtigsten Bandenchefs, Jimmy «Barbecue» Chérizier, einen Nichtangriffspakt geschlossen mit dem Ziel, beim Sturz der Regierung zusammenzuarbeiten. Chérizier droht nun offen mit Bürgerkrieg, falls der Regierungschef nicht zurücktreten sollte.

Doch wer ist dieser Bandenführer, der vom Kopf einer kriminellen Organisation plötzlich zu einem der mächtigsten Männer des Landes aufgestiegen ist und nach eigenen Aussagen in Haiti «das ganze System verändern» will?

Karriere in der Polizei

Chérizier wurde 1976 oder 1977 – das Jahr ist umstritten – in einem armen Vorort von Port-au-Prince in eine Familie mit acht Kindern geboren. Als er fünf Jahre alt war, starb sein Vater. Trotz den schwierigen Verhältnissen gelang ihm eine Karriere in der nationalen Polizei. Er trat einer Spezialeinheit bei, welche vor allem für die Repression in regierungskritischen Quartieren berüchtigt war. Bereits als Polizeioffizier wurde er für sein brutales Vorgehen bekannt. Er war 2017 und 2018 an zwei Massakern beteiligt.

Das schlimmste fand im November 2018 im Slum La Saline beim Hafen von Port-au-Prince statt. Chérizier soll damals mit mehreren Gangs zusammengearbeitet haben. Bei dem Massaker wurden mindestens 71 Personen getötet. Berichte beschreiben schreckliche Szenen, bei welchen die Ermordeten zerstückelt und verbrannt wurden. Dies soll Chérizier auch den Zusatznamen «Barbecue» eingetragen haben.

Aufgrund seiner Rolle beim La-Saline-Massaker wurde «Barbecue» aus dem Polizeidienst ausgeschlossen und zur Verhaftung ausgeschrieben. Doch er entging der Gefangennahme, wurde als Bandenführer aktiv und zeichnete für weitere Massaker verantwortlich. 2020 kündigte er den Zusammenschluss von neun Gangs unter seiner Führung zu einer neuen mächtigen kriminellen Organisation mit dem Namen G9 an. In der Öffentlichkeit tritt er seither öfters mit Béret, Tarnanzug und Sturmgewehr auf.

Es wurde ihm eine gewisse Nähe zum Präsidenten Jovenel Moïse nachgesagt, bevor dieser im Juli 2021 aus bisher ungeklärten Gründen ermordet wurde. Insight Crime, ein Think-Tank, der über organisierte Kriminalität in Nord- und Südamerika forscht, glaubt, dass vor Moïse’ Ermordung rund die Hälfte der Einnahmen von G9 aus Regierungsquellen stammte.

In den letzten Jahren hat G9 eine grundlegende Wandlung durchgemacht. Ursprünglich handelte es sich um einen eher unstrukturierten Zusammenschluss von Banden, die von Schutzgeld und Lösegeldzahlungen lebten sowie von Zuwendungen aus öffentlichen und privaten Quellen. Die Geldgeber setzten sie für ihre politischen Ziele ein, beispielsweise zur Unterdrückung der Anhänger ihrer Gegner.

Vom Kriminellen zum «Revolutionär»

Inzwischen verfolgt die kriminelle Organisation im unregierbar gewordenen Haiti aber eigene politische Ziele. 2021 erklärte Chérizier, er werde mit seiner G9-Gang eine bewaffnete Revolution gegen Haitis wirtschaftliche und politische Elite anführen und für die Unterdrückten kämpfen.

Einen ersten Versuch zur Destabilisierung der Regierung hatte «Barbecue» im Herbst 2022 lanciert. Damals blockierte er mit seinen Gangs für beinahe zwei Monate den wichtigsten Erdölterminal in Port-au-Prince. Schulen und Spitäler, die auf Stromversorgung durch Generatoren angewiesen sind, mussten wegen Treibstoffmangels schliessen, und die Verteilung von Lebensmitteln wurde beeinträchtigt. Nach Verhandlungen mit dem Regierungschef Ariel Henry beendeten die Gangs ihre Blockade.

Mit der Auslandreise von Henry sah «Barbecue» nun offenbar seine Zeit gekommen. Der Regierungschef steht landesweit unter Kritik, weil er im Februar die Wahlen erneut verschoben hat. Die Amtszeiten aller gewählten Politiker sind längst abgelaufen.

In einer Videobotschaft aus dem Ausland hat sich Henry inzwischen bereit erklärt, zurückzutreten. Wer in Haiti die Macht übernehmen soll, ist noch ungewiss. Wie Guyanas Präsident Mohamed Irfaan Ali nach einem Treffen der Regierungschefs karibischer Staaten mitteilte, soll ein siebenköpfiger Präsidialrat für den Übergang hin zu Wahlen gegründet werden, der einen neuen Interims-Premierminister bestimmen soll.