Es sieht aus wie auf dem Mars, doch hier leben seit Jahren bis zu 80 000 Menschen aus Syrien. Jetzt sind innerhalb von vier Wochen acht Kinder gestorben

In einem Flüchtlingslager an der syrisch-jordanischen Grenze spitzt sich wegen der eisigen Temperaturen und der unzureichenden Versorgung die humanitäre Krise zu. Doch das Lager wird isoliert, weil es Terroristen beherbergen soll.

Daniel Steinvorth
Drucken
Flüchtlinge an der syrisch-jordanischen Grenze in Rukban (Aufnahme: 4. August 2016). (Bild: AP)

Flüchtlinge an der syrisch-jordanischen Grenze in Rukban (Aufnahme: 4. August 2016). (Bild: AP)

Unter allen Lagern, in die es seit Ausbruch des Syrien-Krieges Flüchtlinge verschlagen hat, dürfte die Situation in Rukban am trostlosesten sein. Der Ort ist auf keiner Karte angegeben. Doch harren hier – mitten im Niemandsland, wo Jordanien und Syrien vor Jahrzehnten kilometerlange Sanddünen aufgeschüttet haben, um ihre Grenze zu markieren – seit viereinhalb Jahren schätzungsweise 45 000 Syrer aus. Bis zu 80 000 sollen es zeitweilig sogar gewesen sein. Ein amerikanischer Regierungsvertreter berichtete der «Washington Post», dass es in Rukban zwischen den Zelten und Lehmhütten nichts als die Wüste und eine ungeteerte Strasse gebe. Es sehe dort aus wie auf dem Mars.

Desolater Status

Weil das Flüchtlingslager in einem von Rebellen kontrollierten Gebiet liegt, lässt die syrische Regierung nur äusserst unregelmässig Hilfstransporte nach Rukban. Zudem hält Jordanien seine Grenze geschlossen. Seit langem warnen Hilfsorganisationen deswegen vor den gravierenden humanitären Folgen. Am Dienstag aber zeigte sich der Regionaldirektor des Kinderhilfswerk Unicef für den Nahen Osten, Geert Cappelaere, geradezu wütend. Es könne «im 21. Jahrhundert keine Entschuldigung» geben, wenn Kinder einen völlig vermeidbaren Tod sterben müssten, sagte Cappelaere laut Unicef.

Acht Kinder, die meisten von ihnen unter vier Jahre alt, waren in den vergangenen vier Wochen an den Folgen der Winterkälte und der mangelnden medizinischen Versorgung in Rukban ums Leben gekommen, hatte das Unicef-Büro in Amman zuvor bekanntgegeben. Das jüngste von ihnen starb demnach schon kurz nach der Geburt. Auch in anderen Gebieten im Osten Syriens, in der Nähe von Deir al-Zur, wo es in letzter Zeit schwere Kämpfe zwischen Mitgliedern der Terrormiliz IS und syrischen Rebellen gegeben hatte, sind nach Angaben der Unicef kürzlich sieben Kleinkinder gestorben, deren Familien auf der Flucht waren. Medizinische Hilfe für die Vertriebenen müsse dringend von allen Konfliktparteien ermöglicht werden, forderte Cappelaere: «Das ist bestimmt nicht zu viel verlangt, wenn das Leben von Zehntausenden von Kindern davon abhängt.»

Eisige Temperaturen und harte Lebensbedingungen machen den syrischen Flüchtlingen in der ganzen Region zu schaffen. Doch was die Lage in Rukban so speziell macht, ist ihr desolater Status. Nachdem die ersten Vertriebenen den Ort im Herbst 2014 erreicht hatten, wurde die Existenz des Lagers offiziell erst im Dezember 2015 bekannt. Jordanien, das in den Anfangsjahren des Krieges Hunderttausende von Syrern unkontrolliert ins Land gelassen hatte, hatte zu diesem Zeitpunkt schon seine Flüchtlingspolitik verschärft. Nachdem bei einem Selbstmordanschlag des IS im Juni 2016 sechs jordanische Soldaten getötet worden waren, riegelte die Regierung in Amman die Grenze vollständig ab. Sie lässt seither kaum noch Flüchtlinge ins Land. Wer es schafft, wird vorher einer strengen Sicherheitsüberprüfung unterzogen. Für den jordanischen Geheimdienst steht fest, dass sich unter die Verzweifelten von Rukban zahlreiche IS-Leute und andere Extremisten gemischt haben.

Panik nach dem angekündigten Truppenabzug

Laut dem Nahostexperten Arun Lund von dem amerikanischen Think-Tank Century Foundation wird das Lager von diversen Banden kontrolliert, die sich die Abwesenheit internationaler Organisationen zunutze gemacht haben. Vertreten ist allerdings auch eine bewaffnete Gruppe, die von den USA unterstützt wird, die «revolutionäre Kommandoarmee» (Maghawir al-Thawra). Die Amerikaner unterhalten in al-Tanf unweit von Rukban einen Militärstützpunkt. Von hier aus kontrollieren sie ein Gebiet mit einem Radius von 55 Kilometern. Es soll in erster Linie dazu dienen, den IS zu bekämpfen, aber auch eine militärische Expansion der Iraner zu verhindern. Für den Status von Rukban bedeute dies, dass die USA die De-facto-Besatzungsmacht seien, sagt Lund. In das Lager würden sich die Amerikaner wegen Sicherheitsbedenken dennoch kaum begeben. Für die humanitären Aufgaben fühlten sie sich nicht zuständig.

Nach dem von Präsident Donald Trump angekündigten Truppenabzug der USA macht sich laut einem Bericht des Fernsehsenders al-Jazeera dennoch Panik in Rukban breit. Bisher habe die Präsenz der Amerikaner die Flüchtlinge vor den anrückenden Einheiten Bashar al-Asads beschützt. «Wenn die amerikanischen Soldaten gehen, wird es sehr gefährlich für uns», zitiert al-Jazeera einen Lagerbewohner. In Anbetracht einer baldigen Übernahme Rukbans durch die Regierungstruppen hätten sich jedoch auch einige bereits mit dem syrischen Regime versöhnt. Andere wollten dieses Risiko auf keinen Fall eingehen.

Bei einem Selbstmordanschlag des IS auf eine amerikanische Militärpatrouille in Manbij im Nordosten Syriens waren am Mittwoch 19 Personen ums Leben gekommen, unter ihnen vier Amerikaner. Ob der Angriff Trumps Haltung zum Truppenabzug ändert, ist unklar. Für die Flüchtlinge von Rukban aber bleibt die Situation unmittelbar bedrohlich.

Weitere Themen