Kampf gegen Cancel-Culture: Arif Ahmed setzt sich für die freie Rede an britischen Universitäten ein

Als erster offizieller Beauftragter für Redefreiheit an Hochschulen will der «Zar für freie Rede», dass auch politisch unkorrekte Ansichten geschützt werden. Das müsse selbst für radikale Muslime gelten, sagt der Philosoph.

Niklaus Nuspliger, London 5 min
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Trans-Aktivisten protestieren im Juli 2023 in Oxford gegen einen Auftritt der genderkritischen Philosophin Kathleen Stock. Künftig sollen Universitäten verpflichtet werden, die Redefreiheit von Referenten zu garantieren.

Trans-Aktivisten protestieren im Juli 2023 in Oxford gegen einen Auftritt der genderkritischen Philosophin Kathleen Stock. Künftig sollen Universitäten verpflichtet werden, die Redefreiheit von Referenten zu garantieren.

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Arif Ahmed ist ein Spezialist für Meinungsäusserungsfreiheit. Und doch spricht der Philosoph nicht frei von der Leber weg, sondern wählt seine Worte überaus sorgfältig. Letztes Jahr legte Ahmed seine Professur an der Universität Cambridge ab und übernahm ein neu geschaffenes Amt als Beauftragter für Meinungsäusserungsfreiheit beim öffentlichen Regulator für Universitäten. Die auch als «Zar für freie Rede» bezeichnete Rolle wurde von der konservativen Regierung in einer Gesetzesrevision zur Bekämpfung von Cancel-Culture an Universitäten geschaffen. Nun versucht Ahmed, den Eindruck politischer Voreingenommenheit zu vermeiden und seine ideologische Neutralität zu betonen.

«Ich habe kein Interesse an Kulturkampf», betont der 50-Jährige im Gespräch mit einer Gruppe von Auslandskorrespondenten in London. «Es geht einzig und allein darum, dass niemand für die Äusserung legaler politischer Meinungen bestraft wird, ganz egal, ob das der heutigen oder einer künftigen Regierung ideologisch passt oder nicht.»

Ein libertärer Atheist

Als Philosophieprofessor befasste sich Ahmed während Jahren theoretisch mit der Meinungsäusserungsfreiheit. Der Sohn von pakistanischen Einwanderern gilt als Verfechter des Atheismus, aber auch als Verteidiger der Freiheitsrechte von Anhängern unterschiedlicher Glaubensrichtungen. Obwohl er einst für eine Gewerkschaft arbeitete, ist er am ehesten dem libertären Lager zuzuordnen. So trat er für eine offene Migrationspolitik, für offene Märkte und für eine offene Debattenkultur ein.

Arif Ahmed.

Arif Ahmed.

PD

Für Ahmed ist der Schutz der Meinungsfreiheit aus drei Gründen essenziell. Er verweist erstens auf die intellektuelle Bedeutung der freien Rede, die durch die Infragestellung von Wissen und Dogmen für akademischen und gesellschaftlichen Fortschritt sorge. «Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die LGBTQ-Bewegung oder die Frauenbewegung hatten Erfolg, weil sie Religion und Vorurteile kritisieren und Ideen vertreten konnten, die andere als schockierend, beleidigend und verstörend empfanden.»

Zweitens sei die Meinungsfreiheit politisch bedeutsam, da Kritik an der Regierung in einer Demokratie zwingend erlaubt sein müsse. Und drittens sei die freie Rede für die persönliche Entwicklung von Studentinnen und Studenten wichtig. «An der Universität soll man auch den Umgang mit Menschen lernen, deren Meinungen man ablehnt», erklärt Ahmed. «Das ist nur in einer Atmosphäre möglich, in der man Ansichten ohne Angst äussern und kritisieren kann.»

Britische Universitäten werden unfreier

Forderten einst linke Stimmen die konservative Doktrin an Universitäten heraus, sorgen heute vermehrt Verfechter konservativer Ansichten für Furore, indem sie dem an etlichen Fakultäten vorherrschenden progressiven Konsens widersprechen. Das bekannteste Beispiel ist die altlinke Feministin Kathleen Stock, die wegen ihrer genderkritischen Positionen von Trans-Aktivisten gemobbt und an Auftritten gehindert wurde.

Zu konkreten Beispielen will sich Ahmed ganz bewusst nicht äussern. Dafür verweist er auf Statistiken. So gab in einer Umfrage der Gewerkschaft University and College Union aus dem Jahr 2017 mehr als ein Drittel der befragten Akademiker an, aufgrund der restriktiven Atmosphäre Selbstzensur zu üben. Weiter verweist Ahmed auf den Academic-Freedom-Index der Universität Erlangen-Nürnberg. Gemäss diesem hat die akademische Freiheit an britischen Universitäten in den letzten zehn Jahren signifikant abgenommen. Grossbritannien ist auf der Rangliste weit hinter praktisch allen EU-Ländern klassiert.

Diesen Trend will Ahmed in seiner neuen Rolle brechen. Britische Universitäten müssen sich bereits heute beim Office for Students akkreditieren, das als unabhängige Regulierungsbehörde und Wettbewerbshüter im Hochschulbereich wirkt. Ab September werden die Bedingungen für die Akkreditierung als Universität, die sich heute vor allem auf die Qualität des universitären Programms beziehen, in zwei Schritten um Kriterien zur Meinungsäusserungsfreiheit erweitert werden. Universitäten, welche die freie Rede und freie Forschung nicht ausreichend schützen, drohen spätestens ab Mitte 2025 ihre Akkreditierung und damit die Gelder für die Finanzierung von Stipendien zu verlieren.

Universitäten stehen in der Pflicht

Das revidierte Hochschulgesetz schafft ein kostenloses Beschwerdeverfahren für Akademiker oder Studenten, die ihre Meinungsäusserungsfreiheit beeinträchtigt sehen. Ins Visier von Ahmed und seinem Team geraten nicht Einzelpersonen, sondern Institutionen wie die Universitätsleitung oder Studentenorganisationen. Als hypothetisches Beispiel nennt Ahmed eine Gastreferentin, die über ein kontroverses Thema sprechen will, aber von der Universität ausgeladen oder von Demonstranten an der Durchführung ihres Vortrags gehindert wird. Oder den Fall eines Professors, der wegen seiner Theorien zur Religion Todesdrohungen aus der Studentenschaft erhält.

In beiden Fällen hätten Universitäten oder Studentenorganisationen die Pflicht, die Meinungsäusserungsfreiheit der betroffenen Personen sicherzustellen. Kommen sie dieser Pflicht nicht nach, kann die Regulierungsbehörde beispielsweise die finanzielle Entschädigung von betroffenen Akademikern empfehlen oder Bussen verhängen. Ahmed geht davon aus, dass die Hochschulen den Empfehlungen folgen werden, um Sanktionen zu vermeiden.

Eine Gefahr für die Meinungsäusserungsfreiheit erkennt Ahmed auch bei Instituten, die Gelder von ausländischen Regierungen annehmen. Keine britische Universität könne akzeptieren, dass Dozenten gewisse Themen nicht ansprechen dürften oder dass Stipendiaten Weisungen ausländischer Botschaften befolgen müssten. In diesem Fall könnte der Regulator anordnen, dass die Universität die Kooperation mit dem Ausland beenden muss. Unter die Lupe nehmen dürfte Ahmed etwa die von Peking finanzierten Konfuzius-Institute – auch wenn er auf Nachfrage nicht konkreter werden will.

Redefreiheit auch für radikale Muslime

Ebenso wenig mag sich Ahmed zu Reizthemen wie den Rechten von Transpersonen äussern. Er betont aber, dass die Redefreiheit nicht unlimitiert sei – und verweist auf die Gesetze gegen das Schüren von Rassenhass, gegen den Aufruf zu Gewalt oder gegen Mobbing und Einschüchterung. Die gleiche Aussage über eine sexuelle Minderheit oder eine Religionsgruppe, die in einem wissenschaftlichen Artikel zulässig sei, könne illegal sein, wenn sie dazu diene, in einem Seminarraum ein Klima der Einschüchterung zu schaffen, sagt Ahmed. «Manchmal muss man unterscheiden zwischen dem Inhalt einer Rede und der Art und Weise, wie sie geäussert wird.»

Vom Kontext hängt gemäss der britischen Rechtslage auch ab, ob der Slogan «From the river to the sea, Palestine should be free» von der Meinungsäusserungsfreiheit geschützt ist oder als antisemitische Einschüchterung gilt. Die konservative Regierung möchte im Zuge der antiisraelischen Grossdemonstrationen die Gangart gegenüber radikalen Muslimen verschärfen.

Doch auch hier mahnt Ahmed zur Zurückhaltung. Der Staat habe die Pflicht, zu verhindern, dass junge Menschen in den Terrorismus abglitten. Doch dürfe er niemanden daran hindern, Meinungen zu äussern, selbst wenn diese extrem oder stossend seien, argumentiert der Philosoph. «Die Meinungsäusserungsfreiheit muss für alle gelten, sonst verliert sie ihren Sinn.»

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