Onkel Bernie schreckt Guatemalas Elite auf

Der sozialdemokratische Präsidentschaftskandidat Bernardo Arévalo begeistert zahlreiche guatemaltekische Wählerinnen und Wähler. Die bisherige Politikverdrossenheit ist wie weggeblasen. Nun versucht ihn die konservative Elite des Landes mit allen Mitteln aufzuhalten.

Sandra Weiss, Santa Cruz del Quiché 4 min
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Der Sozialdemokrat Bernardo Arévalo mit Anhängerinnen. (Jutiapa, 5. August 2023)

Der Sozialdemokrat Bernardo Arévalo mit Anhängerinnen. (Jutiapa, 5. August 2023)

Esteban Biba / EPA

Bernardo Arévalo ist von weitem zu erkennen an diesem sonnigen Nachmittag in der guatemaltekischen Provinzstadt Santa Cruz del Quiché. Mit seinen 1 Meter 80 überragt der kräftige Politiker mit dem grauen Vollbart die rund 500 indigenen Frauen und Männer, die im Durchschnitt 30 Zentimeter kleiner sind – eine Folge jahrhundertelanger Mangelernährung und Marginalisierung.

Viele haben selbstgemalte Spruchbänder und Kartonschilder mitgebracht. «Wir wollen Schulen, Bücher, Bildung», steht auf einem. Einige haben mehrere Stunden Busfahrt über Strassen voller Schlaglöcher hinter sich, zum Beispiel eine Gruppe aus einer Siedlung tief in den Bergen, die erst seit wenigen Jahren Strom hat – dank einem Hilfswerk.

Nach Jahren der Verdrossenheit, weil die Politik in Guatemala kaum etwas an den schlechten Lebensverhältnissen der Bevölkerungsmehrheit verbessert hat, gibt der Präsidentschaftskandidat Arévalo den Leuten unerwartet Hoffnung. «Ich bin hier, weil ich die Nase voll habe von Korruption und Gewalt», sagt die 19-jährige Erstwählerin Annie Lux. «Die anderen Politiker haben nichts hinbekommen, Bernardo und seine Partei Semilla hingegen haben im Kongress gut gearbeitet und bewiesen, dass sie unsere Anliegen ernst nehmen.»

Arévalo will korrupte Funktionäre vor Gericht bringen und das staatliche Auftragswesen transparent machen. Startups und Kleinbauern sollen mit günstigen Krediten gefördert und die Infrastruktur modernisiert werden. Die Sicherheitsbehörden will er reformieren.

Mächtige hellhäutige Elite

Rund die Hälfte der Bevölkerung des zentralamerikanischen Landes ist indigen. Einen Staatschef haben sie noch nie gestellt. Die Macht ist in den Händen einer konservativen europäischstämmigen Elite. Diese beherrscht die Wirtschaft, sie verfolgt Konkurrenten und Gegner mithilfe einer willfährigen Justiz, und sie lässt Politiker nach ihrer Pfeife tanzen. Das bekam etwa der erfolgreiche Schweizer Kaffeeunternehmer Ulrich Gurtner zu spüren, der im April unter einem Vorwand verhaftet wurde.

Eine internationale Kommission, die für die Einhaltung des Rechtsstaates sorgen sollte, warf die Regierung wieder aus dem Land. Im Korruptionsindex von Transparency International steht Guatemala auf Rang 150 von 180 Staaten.

Mit 14 Prozent der Wirtschaftsleistung ist das Steueraufkommen Guatemalas eines der niedrigsten Zentralamerikas. Die Hälfte der Kinder ist unterernährt. Doch wer Umverteilungsideen hegt, wird schikaniert, wer gehorcht, mit Posten belohnt. Die indigene Kandidatin Thelma Cabrera beispielsweise wurde für die Präsidentschaftswahl am 20. August wie zwei weitere beliebte Bewerber vom Wahlgericht erst gar nicht zugelassen.

Guatemalas Elite ist in heller Aufregung. Sie hat die Staatsanwaltschaft auf die Partei gehetzt, die seither mit Klagen überzogen wird.

Der etwas trocken und behäbig wirkende Sozialdemokrat Arévalo durfte hingegen im Rennen bleiben. Er schien keine ernste Gefahr für die herrschenden Verhältnisse zu sein. Umfragen verbuchten den Soziologen in der ersten Runde unter «ferner liefen». Doch dann schaffte der 64-Jährige völlig überraschend den Einzug in die Stichwahl. Seither steht Guatemala kopf. Kommentatoren sprechen bereits von einem «demokratischen Frühling».

Er habe noch nie eine solche Aufbruchstimmung in einem Wahlkampf erlebt, sagt Eddie Cux von der Anti-Korruptions-Organisation Acción Ciudadana. Der 36-Jährige schüttelt den Kopf, als traue er den Umfragen nicht, die nun 63 Prozent der Stimmen für Arévalo vorhersagen. Von seinem Büro im 17. Stock eines modernen Hochhauses von Guatemala-Stadt hat man einen Blick auf den Flughafen und die umliegenden Vulkane.

«In jeder Tortilla-Bäckerei wird heute über Politik diskutiert. Die treibende Kraft dahinter ist die Jugend», erklärt der indigene Anwalt. Studenten stellen auf eigene Rechnung Aufkleber und Abzeichen her. Sie erklären Verwandten das Wahlprogramm von Arévalos Partei Semilla und drehen Videos über «Onkel Bernie», die den Kandidaten zum beliebtesten in sozialen Netzwerken gemacht haben.

Guatemalas Elite ist in heller Aufregung. Sie hat die Staatsanwaltschaft auf die Partei gehetzt, die seither mit Klagen überzogen wird. Das Hauptquartier von Semilla wurde durchsucht. Bereits 13-mal mussten die Anwälte der Partei vor Gericht erscheinen. Erst als die Organisation Amerikanischer Staaten ihren Generalsekretär nach Guatemala schickte und mit einer Suspendierung des Landes wegen Verletzung der Demokratie drohte, beruhigte sich die Lage etwas.

Beliebter Vater

Der Sozialdemokrat stammt aus der Mittelschicht. Sein Vater Juan José war in den vierziger Jahren einer der populärsten Präsidenten in der Geschichte des Landes. Doch nach einem Militärputsch gegen seinen sozialistischen Nachfolger musste die Familie ins Exil. Von da an durchlebte Guatemala finstere Jahrzehnte mit Militärdiktatur, Bürgerkrieg und Genozid an den Indigenen. Juan Josés sozialdemokratische Reformen blieben jedoch im kollektiven Gedächtnis tief verankert.

Der Hinweis auf den Vater darf deshalb in keiner Wahlkampfrede des Sohnes fehlen. Auf Quiché bedankt sich Bernardo Arévalo für einen bunten, gewebten Rucksack mit seinem eingestickten Namen – der künftig neben dem ganz ähnlichen Rucksack hängen wird, den sein Vater hier einst bekam. Er spricht an diesem Tag viel von Dankbarkeit, von Würde, von einer gemeinsamen Anstrengung.

Arévalos junger Wahlkampfstab hat wenig Geld. In einem Land, in dem die Parteienfinanzierung ein schwarzes Loch ist, in das auch Drogengelder fliessen, ist dies allerdings ein Imagevorteil. Semilla konnte nur wenige Plakate drucken lassen. Parteimitglieder hängen sie regelmässig um und lassen sich dabei von Youtubern filmen. Auf dem Wahlkampfkonto der Partei ist jede noch so kleine Spende willkommen.

Arévalos Konkurrentin, die einstige Präsidentengattin Sandra Torres, die in ihrer langen politischen Karriere von einer Sozialdemokratin zu einer Konservativen geworden ist und wegen illegaler Parteienfinanzierung eine Zeitlang im Gefängnis war, fliegt im Helikopter von einem Wahlkampfauftritt zum nächsten, paktiert mit Gemeindepräsidenten und konservativen Pfarrern und lässt ihre Zuhörer mit Bussen herankarren. Der Wahlkampfapparat ihrer Partei UNE ist gut geschmiert und gefürchtet.

Arévalo fährt im Auto übers Land, trifft Aktivisten und indigene Tiktoker. Er verspricht nicht Posten und Subventionen, sondern wettert über Korruption und appelliert an den Stolz der Guatemalteken, die ihre Zukunft nicht mehr für einen Sack Mais verpfänden. Das ist neu und trifft den Nerv der Bevölkerung. Die Partei, deren Name Samen bedeutet, ist erst 2015 aus einer Bürgerbewegung gegen die Korruption entstanden. Acht Jahre später scheint die Saat aufzugehen – ganz entgegen dem Trend in Lateinamerika, wo in den letzten Jahren viele autoritäre Populisten an die Macht gespült worden sind.

NZZ am Sonntag, International

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