Auf der Ibar-Brücke in Mitrovica versperren Betonklötze für Autos den Zugang von einem Stadtteil in den anderen. (Bild: Marko Djurica / Reuters)

Auf der Ibar-Brücke in Mitrovica versperren Betonklötze für Autos den Zugang von einem Stadtteil in den anderen. (Bild: Marko Djurica / Reuters)

In Kosovo ist das Vertrauen zwischen Albanern und Serben an einem Tiefpunkt angelangt

Der Plan eines Gebietsabtauschs zwischen Kosovo und Serbien stösst nahezu überall auf Ablehnung. Alternativen zum Konfrontationskurs der beiden Erzfeinde sind nicht in Sicht.

Volker Pabst, Mitrovica und Pristina
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Es gibt kaum ein stärkeres Symbol der Verbindung als eine Brücke. In Mitrovica, der faktisch geteilten Stadt im Norden Kosovos, aber ist die aufwendige Stahlkonstruktion über dem Fluss Ibar ein Zeichen der Trennung. Betonklötze versperren für Motorfahrzeuge auf beiden Seiten den Zugang zum aufwendig mit EU-Geldern renovierten Bauwerk. Sicherheitskräfte der Nato-Schutztruppe Kfor beziehen jeden Morgen Stellung, um die auf keiner Karte eingetragene und doch auf den ersten Blick sichtbare Grenze zwischen dem serbisch bewohnten Nordteil und dem albanischen Süden der Bergbaustadt im Auge zu behalten.

Auch sonst mangelt es nicht an Symbolik. Im Norden ist die triste Einkaufsstrasse, die vom grossen Denkmal des Fürsten Lazar auf die Brücke zuführt, mit serbischen Flaggen geschmückt. Der serbische Adlige fiel als Märtyrer in der Schlacht auf dem Amselfeld gegen die Osmanen. Gegenüber, im Süden, hängen an diesem Wintermorgen ein Dutzend Sternenbanner zum Dank für die Unterstützung des amerikanischen Botschafters für die Schaffung einer kosovarischen Armee. Auf beiden Seiten verunglimpfen Schmierereien an den Brückenpfeilern die jeweilige Gegenpartei.

Tägliche Proteste

Die Stimmung ist aufgeladen. Aus Protest gegen Serbiens unablässige Kampagne, mit der die internationale Anerkennung Kosovos hintertrieben wird, hat die Regierung in Pristina Strafzölle von 100 Prozent gegen serbische und bosnische Güter verhängt. Im serbisch besiedelten und in jeder Hinsicht nach Serbien ausgerichteten Norden Mitrovicas finden täglich Protestkundgebungen gegen die Massnahme statt. Die Lokalverwaltung hat ihre erst vor einigen Jahren aufgenommene Zusammenarbeit mit Pristina wieder aufgekündigt.

Ethnische Siedlungsgebiete in und um Kosovo

Ethnische Siedlungsgebiete in und um Kosovo

Der verfassungsrechtlich nicht lupenrein verabschiedete Plan zur Umwandlung der kosovarischen Schutztruppen in eine reguläre Armee hat die Gemüter weiter erhitzt. Und über allem hängt die vom kosovarischen Präsidenten Hashim Thaci und von seinem serbischen Amtskollegen Aleksandar Vucic im Sommer angestossene Idee, mit einem Gebietsabtausch den Weg zu einem abschliessenden Abkommen zwischen Kosovo und Serbien zu ebnen, das beiden endlich die Option auf eine Mitgliedschaft in der EU eröffnen würde. Details sind keine bekannt, doch interpretiert man den Plan so, dass der serbische Norden Kosovos Serbien zugeschlagen werden und albanisch besiedelte Gebiete in Südserbien an Kosovo gehen sollen.

Der Plan bricht mit vielen Tabus. In Serbien, weil damit der mythenbeladene, historische Anspruch auf die Provinz aufgegeben wird. In Kosovo, weil man grundsätzlich keine Gebietsverluste hinnehmen will und eine Gegenleistung an Serbien für den als längst überfällig betrachteten Schritt der Anerkennung als inakzeptabel betrachtet wird. Hinzu kommen praktische Erwägungen, etwa die grosse Bedeutung des im Norden gelegenen Gazivoda-Stausees für die Wasserversorgung des Landes.

In der internationalen Gemeinschaft wiederum fürchten viele einen gefährlichen Präzedenzfall – auch wenn der Landtausch zur Überraschung einiger Beobachter nicht unisono abgelehnt wurde. Mit Blick auf Mazedonien und Montenegro und die dortigen nicht vollends integrierten albanischen Minderheiten, aber insbesondere auf Bosnien, wo der jüngst gewählte höchste Vertreter der serbischen Bevölkerung, Milorad Dodik, auf maximale Distanz zum multiethnischen Staat geht, wird vor verheerenden Folgen gewarnt, wenn auf dem Balkan plötzlich wieder die Grenzen zur Disposition stehen.

Furcht vor neuer Gewalt

Die grösste Zustimmung gibt es unter den Serben im Norden Kosovos, wo in Dinar bezahlt wird, alles in kyrillischer Schrift angeschrieben ist und man sich in jeder Hinsicht weiterhin als Teil Serbiens versteht. «Kosovo ist kein multiethnischer Staat, zumindest nicht für uns», erklärt Milica Andric, eine Journalistin aus Nordmitrovica. Tatsächlich gibt es trotz den Verfassungsgarantien für die Minderheiten zahlreiche Hürden für nicht Albanisch sprechende Bürger, etwa im Justizwesen, weil Gerichtsurteile nicht übersetzt werden.

Als Erklärung für die mangelnde Identifikation der Serben mit dem kosovarischen Staat reicht das aber nicht. Diesen hat man von Anbeginn kategorisch abgelehnt. Ein Leben in einem albanisch dominierten Gemeinwesen können sich die wenigsten vorstellen. Wer Geld hat, kauft sich eine Wohnung in Serbien, vor Ort wird kaum investiert. «Sollte ich einmal Kinder haben, weiss ich nicht, ob ich sie hier aufwachsen sehen möchte», sagt Andric.

Trotzdem sind die Meinungen auch hier gespalten. Die Solidarität mit den Serben im Süden spielt eine Rolle und die Sorge um das serbische Erbe in der historisch so bedeutenden Provinz. Neben dem geschlossenen serbischen Siedlungsgebiet im Norden Kosovos gibt es über das ganze Land verteilt kleinere serbische Enklaven – und einige wichtige Klöster der serbisch-orthodoxen Kirche. Weil die Serben die Volkszählung boykottierten, kennt niemand die genaue Bevölkerungsgrösse. Insgesamt dürften es aber nicht mehr als 100 000 Personen sein. Unbestritten ist, dass die Serben im Süden zu einer noch kleineren Minderheit mit noch grösserem Abwanderungsdruck würden, falls der Norden an Serbien fiele.

«Vor allem aber fürchtet man neue Gewalt», sagt Andric. «Der Widerstand gegen eine Grenzänderung im In- und Ausland ist zu gross.» Dass Ausschreitungen angezettelt werden könnten, um Handlungsdruck zu schaffen und so ein Umdenken herbeizuführen, hielten viele für ein realistisches Szenario. Erfahrung mit Gewalt gibt es genug. Vor einem Jahr wurde in Mitrovica Oliver Ivanovic erschossen. Der Mord an einem der wenigen einflussreichen kosovo-serbischen Politiker, die unabhängig von Belgrad agierten, ist bis heute nicht aufgeklärt. Vergangenes Jahr gab es zudem eine Einschüchterungskampagne gegen Serben, die für die kosovarische Verwaltung arbeiteten. Drohbriefe wurden verschickt, Autos angezündet.

Wie angespannt das Klima ist, erfahren wir kurz darauf selber. Wenige Minuten nach dem Gespräch mit einem Aktivisten erhalten wir eine Kurznachricht, man möge alles Besprochene bitte nur als Hintergrundinformation benutzen. Für kritische Geister in Mitrovica sei es keine gute Zeit, namentlich in der Zeitung zu erscheinen.

Siegesstimmung auf albanischer Seite

Die Stimmung in der albanischen Bevölkerungsmehrheit, jenseits der Brücke, aber auch in der Hauptstadt Pristina, ist eine völlig andere. Das Gesetz zur Umwandlung der Sicherheitskräfte in eine reguläre Armee wurde mit Feuerwerk und hupenden Autokorsos begrüsst. Die Strafzölle sind trotz ihrer unbestrittenen selbstschädigenden Wirkung äusserst beliebt. Endlich revanchiere man sich bei Serbien für die Weigerung, die kosovarische Eigenstaatlichkeit anzuerkennen, und die Schikanen, die damit einhergingen. «Es ist eine neue Dynamik, zum ersten Mal haben wir die Oberhand», so fasst Lulzim Peci von der Denkfabrik Kipred in Pristina die Stimmung zusammen.

Die serbische Bevölkerung Kosovos, und vor allem ihre politischen Vertreter, die Partei Srpska Lista, sieht man bei allen Bekenntnissen zur multiethnischen Staatsordnung oft als fünfte Kolonne Belgrads. Bei der Diskussion um die Mitbestimmungsrechte der serbischen Minderheit schwingt dies immer mit. Den 2013 beschlossenen Verbund aller neun serbischen Kommunen im Land hat man bis heute nicht geschaffen. Die Sorge, dadurch würde Belgrads Einfluss noch grösser, ist nicht unbegründet. Für die Serben ist das aber ein Beleg, dass die Albaner keine wirkliche Mitbestimmung zulassen wollen.

Darauf angesprochen, erzählt ein junger Student von einem Aufenthalt kürzlich in Estland. «Dort gibt es 25 Prozent Russen. Die haben weniger Verfassungsgarantien als die 7 Prozent Serben bei uns. Dennoch sind die estnischen Russen besser integriert.» Aber Kosovo ist nicht Estland, und wie man zu einem wirklich multiethnischen Staat werden soll, weiss auch in Pristina niemand so recht.

Ein Ablenkungsmanöver?

Für den Plan eines Gebietsabtauschs gibt es trotzdem kaum Unterstützung. «Die Position unseres Präsidenten ist mir ein Rätsel», erklärt der Politbeobachter Peci. «Niemand ausser ihm will das hier.» Dem würden die meisten Kosovo-Albaner zustimmen. Spekulationen über die Hintergründe für Thacis Vorstoss gibt es aber durchaus. Meist wird dabei auf das extraterritoriale Sondertribunal in Den Haag verwiesen.

Dieses hat nach mehrjähriger Verzögerung nun erstmals ehemalige Kommandanten der kosovarischen Rebellenarmee UCK zu Anhörungen aufgeboten. Dass es während des Kosovokrieges vor zwei Jahrzehnten auf beiden Seiten zu schweren Menschenrechtsverletzungen kam, ist unbestritten. In einem Bericht für den Europarat, der vom Tessiner Ständerat Dick Marty verfasst wurde, wird dabei auch der heutige Präsident Thaci prominent genannt und etwa mit dem berüchtigten Organhandel der UCK in Verbindung gebracht. Ein historischer Kompromiss mit Serbien, so die in Pristina herumgereichten Spekulationen, solle ihn vor einer Strafverfolgung bewahren.

In diplomatischen Kreisen weist man zudem auf den Ehrgeiz der EU-Aussenbeauftragten Federica Mogherini hin, die vor den Europawahlen – und ihrem wahrscheinlichen Abtritt von der europäischen Bühne – unbedingt einen Erfolg erzielen möchte. Ihre aussenpolitischen Initiativen haben bisher kaum Resultate gezeitigt, deshalb habe sie den von Vucic und Thaci ins Spiel gebrachten Tabubruch nicht entschieden genug zurückgewiesen.

Streitpunkt Strafzölle

Die Mutmassungen über die Genese des Plans haben aber primär akademische Bedeutung, wichtiger ist die Frage, ob dieser auch Wirklichkeit wird. Zumindest Thaci scheint dafür die Unterstützung im Land zu fehlen. Das kosovarische Parlament hat sogar eine eigene Delegation zusammengestellt, um von nun an direkt mit Brüssel zu verhandeln – ein klares Misstrauensvotum gegenüber dem Präsidenten. Doch auch Vucic hätte grosse Widerstände zu überwinden, etwa seitens der Kirche. Dennoch glauben die meisten Beobachter, dass er selbst angesichts der anhaltenden Proteste gegen seinen Regierungsstil wohl weiterhin stark genug ist, auch eine unpopuläre Politik umzusetzen.

Bleibt die Frage, wie es weitergehen soll. Als erster Schritt wird ausserhalb Kosovos nahezu unisono die Aufhebung der Strafzölle gefordert. Die vom Politbeobachter Peci angesprochene neue Dynamik bedeutet auch, dass auch in westlichen Augen Pristina für einmal eine grössere Bringschuld hat als Serbien. Bis jetzt beharrt Ministerpräsident Haradinaj aber auf der Position, dass die Zölle erst nach einer Anerkennung Kosovos durch Serbien fallen werden – «selbst wenn ich dafür wieder vor den Strafgerichtshof muss!». Der frühere UCK-Kommandant musste sich wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen vor dem Sondertribunal für Jugoslawien verantworten, wurde aber mangels Beweisen freigesprochen.

Der in der Bevölkerung populäre Starrsinn des Ministerpräsidenten zeigt, dass man in Kosovo eine Verstimmung Brüssels kaum noch fürchtet, weil man sich ohnehin vernachlässigt fühlt. Der Frust, als letztes Land der Region noch nicht von der Visapflicht für den Schengenraum befreit zu sein, ist riesig, in nahezu jedem Gespräch kommt das Thema auf. Dies umso mehr, als alle Bedingungen erfüllt sind und man die Verzögerung mit einigem Recht primär auf die aufgeheizten Migrationsdebatten in Deutschland, Österreich oder Italien zurückführt. Am ehesten noch können die USA auf Pristina einwirken. Seitdem auch Washington vehement auf die Aufhebung der Zölle drängt und Haradinaj sogar ein Visum in die USA verwehrte, gibt es erste Anzeichen des Umdenkens.

Es wäre aber nur ein erster Schritt. Der Bedarf an Brücken ist weiterhin gross zwischen Serben und Albanern in Kosovo.

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