Der Sudan kollabiert, und eine Miliz mit Genozid-Vergangenheit droht den Krieg zu gewinnen

Mehr als sechs Millionen Menschen sind vor dem wenig beachteten Konflikt geflohen. In der Region Darfur häufen sich ethnische Säuberungen. Experten entwerfen Katastrophenszenarien.

Samuel Misteli, Nairobi 5 min
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Ein Mann inspiziert ein von Artilleriebeschuss zerstörtes Haus in der sudanesischen Hauptstadt Khartum (Aufnahme vom Juni 2023).

Ein Mann inspiziert ein von Artilleriebeschuss zerstörtes Haus in der sudanesischen Hauptstadt Khartum (Aufnahme vom Juni 2023).

AFP

Während die internationale Aufmerksamkeit den Kriegen im Gazastreifen und in der Ukraine gilt, droht der Bürgerkrieg im Sudan das zweitgrösste Land in Subsahara-Afrika in den Kollaps zu treiben. Dies hätte möglicherweise unvorhersehbare Konsequenzen über die Region hinaus.

Seit April bekriegen sich Sudans nationale Armee und die mächtige Miliz Rapid Support Forces (RSF). Die Kämpfe haben mehr als sechs Millionen Menschen vertrieben, 1,2 Millionen von ihnen flohen in Nachbarländer. Die Uno hat den Konflikt als «einen der schlimmsten humanitären Albträume der jüngeren Geschichte» bezeichnet.

In den vergangenen Wochen hat der Krieg eine neue Dynamik angenommen. Die RSF und mit ihnen verbündete Milizen begannen eine Offensive in Darfur, einer Region im Westen des Landes, die beinahe so gross ist wie Spanien. Innerhalb weniger Wochen hat die RSF mehrere grössere Orte und Militärbasen eingenommen. Sie könnte bald die Kontrolle über die gesamte Region übernehmen.

Darfur war neben der Hauptstadt Khartum schon in den vergangenen Monaten der wichtigste Schauplatz der Kämpfe. Die Region ist Geburtsort und Hochburg der RSF, die Miliz hat ihre Wurzeln im Darfur-Krieg ab 2003, dem 300 000 Menschen zum Opfer fielen. Vielen gilt der Krieg als «erster Genozid des 21. Jahrhunderts». Die Vorgänge der vergangenen Wochen haben die Erinnerungen an diesen Konflikt wieder verstärkt.

Vergewaltigungen, Folter, Versklavung

Die RSF-Offensive in Darfur ging einher mit Berichten über gezielte Massentötungen von Zivilisten und Bildern von niedergebrannten Dörfern. Im Westen Darfurs sollen RSF-Soldaten Anfang November mehr als 1000 Angehörige der Ethnie der Masalit getötet und dabei gezielt Anführer der Gemeinschaft mitsamt ihren Familien ermordet haben. RSF-Soldaten sollen auch Masalit vergewaltigt, gefoltert und versklavt haben.

Das sind Muster, die aus dem ersten Darfur-Krieg bekannt sind. In diesem bekämpften Milizen arabischstämmiger Volksgruppen wie die spätere RSF Rebellen aus nichtarabischen Volksgruppen, die sich gegen die Marginalisierung durch die sudanesische Regierung auflehnten. Am schwersten traf es die Zivilbevölkerung und schon damals die Masalit. Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag klagte mehrere sudanesische Führer an, auch den damaligen Staatspräsidenten Omar al-Bashir.

Unter anderem die Uno und die EU haben auf die neuen ethnischen Säuberungen in Darfur reagiert. In einem Statement der EU von Mitte November heisst es: «Die internationale Gemeinschaft darf nicht die Augen verschliessen vor den Vorgängen in Darfur und einen neuen Genozid in der Region geschehen lassen.» Der ICC hatte bereits im Juli eine neue Untersuchung zu möglichen Kriegsverbrechen in Darfur begonnen.

Die Eskalation der Kämpfe in Darfur hat neue Fluchtbewegungen in das Nachbarland Tschad ausgelöst, wohin bereits mehr als eine halbe Million Bewohner der Region geflohen waren. Claire Nicolet, die für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) die Einsätze im Sudan und in Tschad koordiniert, sagt am Telefon, die Ankünfte in Tschad hätten sich in den vergangenen Wochen vervielfacht. Während einer Woche im November allein seien 10 000 Personen über die Grenze geflohen. «Die humanitäre Situation ist katastrophal», sagt Nicolet. In Darfur selber könne MSF nur noch sehr eingeschränkt Hilfe leisten.

Die RSF-Miliz ist kampferprobter als die Armee

Mit den Gebietsgewinnen der RSF in Darfur zeichnet sich immer deutlicher eine Spaltung des Sudans ab: Die Miliz und ihre Verbündeten kontrollieren mehrheitlich die Gebiete westlich des Nils, der das Land von Nord nach Süd durchläuft, die nationale Armee den Osten. Die RSF hat auch die Hauptstadt Khartum, mit Ausnahme einiger Militärbasen, unter ihrer Kontrolle. Als De-facto-Hauptstadt dient derzeit Port Sudan am Roten Meer, wohin der Armeechef und Staatspräsident Abdelfatah al-Burhan im August geflohen ist.

Die RSF ist unter anderem erfolgreich, weil sie kampferprobter ist als die nationale Armee. RSF-Kämpfer hatten in den vergangenen Jahren phasenweise als Infanterie der Armee funktioniert und in ländlichen Regionen des Sudans an deren Stelle gegen Rebellen gekämpft. Das war, bevor sich Burhan sowie sein Stellvertreter und RSF-Führer Mohamed Hamdan Daglo gegeneinander wandten und ihre Truppen aufeinander losliessen.

Die nationale Armee hatte gehofft, ihre Unterlegenheit am Boden dadurch wettzumachen, dass sie im Gegensatz zur RSF über eine Luftwaffe verfügt. Doch das ist nicht passiert.

Ein weiterer Grund für die Stärke der RSF ist internationale Unterstützung. Die Miliz erhält von den Vereinigten Arabischen Emiraten Drohnen und Waffen. Die Emirate haben in den vergangenen Jahren ihren Einfluss in Afrika stark ausgebaut, der RSF-Führer Hemeti ist einer ihrer wichtigsten Klienten. Die RSF hat laut Berichten auch von der russischen Gruppe Wagner Waffen erhalten.

Zerstörte Fahrzeuge der RSF in Khartum im April.

Zerstörte Fahrzeuge der RSF in Khartum im April.

Omer Erdem / Anadolu / Getty

Das Libyen-Szenario

Trotz allem ist unwahrscheinlich, dass die RSF die Armee vollständig bezwingen wird. Die Miliz ist in vielen Teilen des Landes verhasst, gerade in jenen, die sie nicht kontrolliert. Ein weiterer Vormarsch wird auch grösseren Widerstand von der Armee und anderen bewaffneten Gruppen hervorrufen.

Weil sich immer deutlicher eine Teilung des Landes zwischen den beiden Armeen abzeichnet, zogen in den vergangenen Wochen viele Kommentatoren Parallelen zu einem Nachbarland des Sudan: In Libyen kontrolliert eine offizielle Regierung den Westen des Landes, der Warlord Khalifa Haftar den Osten. Haftar erhält wie die RSF Unterstützung von den Emiraten und von Wagner.

Manche Experten warnen aber davor, dass die Schockwellen eines Kollapses des Sudans viel grösser sein könnten als in Libyen. Der Analyst Cameron Hudson zum Beispiel, der früher die amerikanische Regierung in afrikanischen Sicherheitsfragen beriet, schrieb Mitte November in einem Kommentar, der Kollaps des Sudan wäre katastrophal: «Man kann sich ein Szenario vorstellen, in dem Dutzende Millionen Sudanesinnen und Sudanesen über den afrikanischen Kontinent und das Rote Meer fliehen, um sich vor dem Absturz des Landes in die Herrschaft von Warlords und die Gewalt ethnischer Milizen zu retten.»

Noch versuchen ausländische Regierungen, unter ihnen die USA und Saudiarabien, den Kollaps zu verhindern – wenngleich der Konflikt seit Beginn des Gaza-Krieges noch weniger prioritär geworden ist. Doch Gespräche mit den Konfliktparteien in der saudischen Stadt Jeddah, die im Oktober nach mehreren Monaten Pause wieder aufgenommen wurden, haben bisher kaum Resultate gezeigt.