In Berlin kann jeder unterrichten: Immer mehr Quereinsteiger ohne reguläre Ausbildung ersetzen fehlende Lehrer

Im neuen Schuljahr sind in Berlin fast die Hälfte der neu eingestellten Lehrer nicht voll ausgebildet. Dabei gilt: Je schlechter der Ruf der Schule, desto weniger qualifiziert die Lehrkräfte. Doch das ist nicht der einzige Teufelskreis.

Hannah Bethke, Berlin
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Schlechte Noten für Berlin: Marode Schulgebäude, Lehrermangel, defizitäre Ausbildung. Was hilft gegen den Bildungsnotstand?

Schlechte Noten für Berlin: Marode Schulgebäude, Lehrermangel, defizitäre Ausbildung. Was hilft gegen den Bildungsnotstand?

Illustration Charlotte Eckstein

Pünktlich zum Schulstart in der kommenden Woche häufen sich in der Berliner Schulpolitik die negativen Schlagzeilen. Nach anderthalb Jahren pandemischer Ausnahmesituation kehren die alten Probleme zurück, die das Berliner Schulgeschehen seit langem prägen: Lehrermangel, Brennpunktschulen, marode Schulgebäude, schlechte Noten in bundesweiten Vergleichstests und Lernstandserhebungen.

Nun sollen siebenhundert Lehrer zum Sommer gekündigt haben. Das berichtete jüngst der Berliner «Tagesspiegel». Die Berliner Senatsverwaltung für Bildung bestätigte die Zahl zwar zunächst nicht, da aktuelle Daten noch nicht abschliessend vorlägen. Nach Auskunft eines Sprechers ist das aber «seit Jahren eine ähnlich hohe Zahl». Die Kündigungen erfolgten «generell» auch aus privaten Gründen, liessen sich aber aus rechtlichen Gründen nicht individuell abfragen.

Das Problem ist mit dem Hinweis auf diesen langfristigen Trend allerdings nicht gelöst, im Gegenteil: Gemessen an der Gesamtzahl von rund 33 000 Lehrkräften in Berlin wären siebenhundert Kündigungen im Jahr nur dann vernachlässigbar, wenn der Bedarf an Lehrern ansonsten abgedeckt wäre. Das ist nachweislich nicht der Fall; zumindest nicht, wenn man den Anteil an Quereinsteigern und nicht voll ausgebildeten Lehrkräften einrechnet.

Verzerrte Zahlen

Laut neuesten Zahlen aus der Bildungsverwaltung lag der Einstellungsbedarf für das kommende Schuljahr in Berlin bei 2440 unbefristeten Stellen. 2886 Lehrkräfte seien neu eingestellt worden. Darunter gebe es 790 Quereinsteiger und 420 «sonstige Lehrkräfte». Lediglich 1526 Lehrkräfte seien voll ausgebildet, also etwas mehr als die Hälfte.

Als Quereinsteiger gelten in der Regel Lehrkräfte, die nicht für das Lehramt studiert haben und das zweite Staatsexamen, also das Referendariat, sowie mitunter das Studium eines zweitens Schulfachs nachholen müssen. «Sonstige Lehrkräfte», die manchmal auch als «LovL»-Lehrer bezeichnet werden, also als «Lehrer ohne volle Lehrbefähigung», haben dagegen überhaupt kein Schulfach studiert.

Insgesamt beziffert die Bildungsverwaltung den Anteil an Quereinsteigern unter den derzeit beschäftigten Lehrkräften auf 7,6 Prozent und den Anteil der «sonstigen Lehrkräfte» auf 0,7 Prozent. Das geht aus einer schriftlichen Anfrage an das Berliner Abgeordnetenhaus hervor, die der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion Paul Fresdorf gestellt hat.

Diese Zahlen bilden die Lage allerdings nicht präzise ab. Die Bildungsverwaltung zählt die Quereinsteiger als reguläre Lehrkräfte, sobald sie das zweite Staatsexamen bestanden haben; ihr früherer Abschluss wird mit dem ersten Staatsexamen gleichgesetzt. Aus der Sicht von Dieter Haase werden die Zahlen dadurch verzerrt. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Gesamtpersonalrats und schätzt, dass die tatsächliche Anzahl an Quereinsteigern unter den derzeit beschäftigten Lehrern bei etwa einem Drittel liegt.

Quereinsteiger oft nicht für den Lehrerberuf geeignet

Nach Auskunft der Bildungsverwaltung gibt es achtzig nicht besetzte Stellen; 150 Personen seien noch «im Einstellungsprozess». Auch diese Zahl hält Haase für nicht korrekt. Es seien mindestens 260 Stellen unbesetzt. Im vergangenen Schuljahr hätten bis Februar 300 Lehrkräfte gefehlt.

Dass die tatsächlichen Zahlen verschleiert würden, wie Fresdorf in einer Stellungnahme gegenüber der NZZ bekräftigt, ist keine abwegige Annahme, wenn man mit den Verantwortlichen aus Schulen und Gewerkschaften spricht.

«Ich habe das letzte Mal vor fünfeinhalb Jahren eine neue, voll ausgebildete Lehrerin eingestellt», sagt Astrid-Sabine Busse. Sie ist Schulleiterin einer Berliner Grundschule in Neukölln und Vorsitzende des Interessenverbandes Berliner Schulleitungen (IBS). Wie viele andere Lehrer berichtet auch sie, dass es durchaus qualifizierte Kräfte unter den Quereinsteigern gebe, aber auch sehr viele, die sich für den Beruf nicht eigneten. Auf die Dauer sei das keine Lösung, zumal nicht ausgebildete Lehrkräfte betreut und angeleitet werden müssten, was zusätzliche personelle Kapazitäten erfordere.

Stetig wachsende Schülerzahlen

Das dürfte insbesondere für Brennpunktschulen gelten, die oftmals einen besonders hohen Anteil an Quereinsteigern beschäftigen. Je unattraktiver eine Schule ist, desto schwieriger wird es, voll ausgebildetes Lehrpersonal zu rekrutieren. Busse fordert deshalb eine Quote für Quereinsteiger, damit gewährleistet sei, dass an keiner Schule mehr als zehn Prozent nicht regulär ausgebildete Lehrkräfte beschäftigt sind. Sie macht sich grosse Sorgen um die Entwicklung der Schulen: «Das Ende der Fahnenstange ist ja noch gar nicht erreicht. Die Schülerzahlen wachsen weiter.»

Laut Bildungsverwaltung ist die Anzahl Schüler im Vergleich zum Vorjahr um etwa 10 000 gestiegen. Die Stundentafel sei dennoch gut abgedeckt. Doch auch hier erzählen die Zahlen nicht die ganze Wahrheit, denn diese Rechnung geht nur deshalb auf, weil die Klassen immer grösser werden.

Mit dem Lehrermangel haben alle Bundesländer zu kämpfen, doch in Berlin ist die Lage besonders dramatisch. Schon im vergangenen Schuljahr war der Einstellungsbedarf so hoch wie seit dreissig Jahren nicht mehr. Wie ist das zu erklären?

Sollten Lehrer wieder verbeamtet werden?

Berlin ist das einzige Bundesland, das seine Lehrer nicht verbeamtet. Seit Jahren wird darüber gestritten, den Beamtenstatus wieder einzuführen, der 2004 abgeschafft wurde. Lehrer und Schulleiter berichten von wachsenden Spannungen in den Kollegien, weil die Ungleichbehandlung dazu führe, dass immer mehr Lehrkräfte in andere Bundesländer abwanderten. Das gelte bereits für die Ausbildung, wie Dieter Haase erklärt: Demnach verliert Berlin im Jahr etwa tausend Lehramtsabsolventen.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ist trotzdem gegen eine Verbeamtung. Aus Sicht ihres Berliner Vorsitzenden Tom Erdmann würde das nur neue Ungleichheiten schaffen und zu viele Kollegen vor den Kopf stossen. Denn nicht jeder Lehrer kann erneut verbeamtet werden; es gibt eine Altersgrenze, nach der man mindestens noch zwanzig Dienstjahre bis zur Pensionierung absolvieren muss, und auch bestimmte Krankheiten können eine Verbeamtung verhindern.

Die Berliner Regierungskoalition ist in dieser Frage uneins; während sich die sozialdemokratische Bildungssenatorin Sandra Scheeres und ihre Partei für die Wiederverbeamtung einsetzen, sind die Grünen und die Linkspartei dagegen.

Gute Bezahlung, schlechte Ausbildung?

Ob der Beamtenstatus allein den akuten Lehrermangel beheben könnte, ist indes fraglich. Angestellte Lehrer verdienen in Berlin sehr gut und in der Anfangsphase ihrer Laufbahn teilweise sogar besser als verbeamtete Lehrer. Das Einstiegsgehalt einer Berliner Grundschullehrerin, das auf das Niveau der Bezahlung von gymnasialen Studienräten angehoben wurde, liegt bei 5300 Euro brutto im Monat. Im internationalen Vergleich ist das ein Spitzenwert.

Gunilla Neukirchen sieht das Hauptproblem in der Ausbildung. Sie ist Vorsitzende der Vereinigung Berliner Schulleiterinnen und Schulleiter in der GEW und selbst seit über dreissig Jahren im Schuldienst. Die Universitäten und Schulen müssten enger gekoppelt werden, um wieder mehr Lehramtsabsolventen nach Berlin zu bringen und den Beruf attraktiver zu machen. Neukirchen glaubt nicht, dass der Standort Berlin mit seinen teilweise problematischen Brennpunktvierteln den Ausschlag für den Mangel an Lehrern gibt; das gebe es in anderen Städten auch. Lehrer fühlten sich zunehmend nicht mehr wertgeschätzt, hier müsse man schon im Studium entgegenwirken. Die Lage ist aus ihrer Sicht extrem angespannt. Trotzdem habe ihr das vergangene Krisenjahr gezeigt, wie viele Veränderungen, etwa in der Digitalisierung, möglich seien, wenn genug Kraft in die Schulen gesteckt wird.

Aktuelle Modellberechnungen der Kultusministerkonferenz prognostizieren allerdings, dass der Bedarf an Lehrern in den nächsten zehn Jahren noch mehr wachsen wird. Angesichts dieser verheerenden Zahlen gerät die gegenwärtig grösste Herausforderung fast schon in Vergessenheit: wie es in der anhaltenden Pandemie gelingen kann, den Schulbetrieb auch im Fall steigender Inzidenzen und stagnierender Impfquoten aufrechtzuerhalten.

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