Zur Gewalt in Westafrika kursieren viele Mythen

In Côte d'Ivoire geht die Angst vor jugendlichen Gangstern um, den «Mikroben». Dabei mischen sich reale Gefahr und Hysterie. Eine kriminologische Untersuchung rückt die Fakten zurecht.

David Signer, Dakar
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Handwerker gehen in den Strasse Abidjans ihrer Arbeit nach – trotz der Aktivitäten krimineller Jugendbanden. (Bild: Legnan Koula / EPA)

Handwerker gehen in den Strasse Abidjans ihrer Arbeit nach – trotz der Aktivitäten krimineller Jugendbanden. (Bild: Legnan Koula / EPA)

Laut einem kürzlich erschienenen Justiz-Bericht aus Côte d'Ivoire wird die dortige Metropole Abidjan von einer regelrechten Psychose heimgesucht, und zwar wegen der zunehmenden Gewalt von jugendlichen Delinquenten. Diese jungen Verbrecher werden im Volksmund «Mikroben» genannt. Sie stehlen vor allem Geld, Handys und Handtaschen. Solche Diebe sind in der Millionenstadt nichts Neues. Was der Bevölkerung jedoch Angst macht, ist die unberechenbare und unverhältnismässige Gewalt, die diese Gangster oft anwenden.

«Säuberungsaktionen»

Laut dem staatlichen Report sind manche der Delinquenten erst neun Jahre alt. Sie operieren gewöhnlich in Banden von etwa zehn Personen, mit vermummtem Gesicht, nicht nur nachts, sondern auch tagsüber. Sie sind nicht zu vergleichen mit den üblichen Taschendieben. Oft sind sie mit Messern, Macheten oder Eisenstangen bewaffnet und agieren unter dem Einfluss von Drogen. Häufig wenden sie eine List an, um ihre Opfer anzulocken. Beispielsweise imitieren sie eine Schlägerei. Wenn sich dann Aussenstehende nähern, wenden sich die vermeintlichen Streithähne plötzlich vereint gegen einen der Hinzugekommenen, schlagen ihn nieder und rauben ihn aus.

Im September wurde im Quartier Yopougon einem Polizisten der Hals aufgeschlitzt, was die Empörung in der Bevölkerung besonders anheizte. Die Regierung lancierte daraufhin am 21. September eine «Säuberungsaktion» mit 1500 Polizisten in Abidjan und 1100 in der Provinz. Drei Wochen später wurde verkündet, der Einsatz gegen die «Mikroben» sei ein voller Erfolg gewesen, allerdings ohne Zahlen zu nennen. In mehreren Fällen wurden die Diebe auch Opfer von Lynchjustiz.

Im Justizbericht wird das Aufkommen der jugendlichen Gangster mit den politischen Turbulenzen der jüngeren Vergangenheit in Verbindung gebracht. Ende 1999 wurde bei einem Militärputsch der damalige Präsident Henri Konan Bédié gestürzt. Bei den folgenden Wahlen gewann Laurent Gbagbo. Seine Präsidentschaft stand im Schatten einer Rebellion, die im Norden des Landes ausbrach und sich zum Bürgerkrieg auswuchs, der das Land spaltete. Bei der Wahl 2010 gewann Alassane Ouattara, was Gbagbo nicht akzeptierte. Der blutige Konflikt zwischen den Anhängern der Kontrahenten erreichte seinen Höhepunkt im Frühling 2011, mit etwa 3000 Todesopfern. Im April 2011 wurde Gbagbo verhaftet, Ouattara vereidigt und 2015 wiedergewählt.

Nebst der chaotischen und von Gewalt geprägten politischen Situation bringt der Polizeibericht die üblichen Gründe für die Delinquenz ins Spiel: mangelnde Schulbildung, Armut, allgemeiner Zerfall der Gesellschaft und der Familie, negativer Einfluss des Fernsehens. Das sind reflexhafte Common-Sense-Erklärungen. Wenn man die kürzlich erschienene kriminologische Erhebung «Mille homicides en Afrique de l'Ouest» konsultiert, rücken andere, interessantere Zusammenhänge in den Vordergrund.

Morde in Westafrika rückläufig

Zuerst einmal kann man feststellen, dass das Phänomen der jugendlichen Delinquenz alles andere als neu ist in Côte d'Ivoire, und auch die grossen Polizeiaktionen werden seit Jahrzehnten national inszeniert, ohne nachhaltige Wirkung. Der ivoirische Reggae-Star Alpha Blondy hat schon 1982 in seinem Hit «Brigadier Sabary» die damaligen brutalen «Säuberungsfeldzüge» thematisiert. Der Autor dieser Zeilen selbst wurde Ende der neunziger Jahre einmal am helllichten Tag in Abidjans Innenstadt von einem vielleicht Zehnjährigen um Geld angegangen. Der Knabe presste sich in der Menschenmenge an sein Gegenüber, und bei der Berührung stellte sich heraus, dass er eine Rasierklinge zwischen den Fingern hielt.

Oft wird behauptet, die jetzigen Jugendbanden seien aus den halbwüchsigen Kundschaftern während der Krise ab 2011 hervorgegangen. Während das schon rein rechnerisch nicht aufgeht, zeigt es darüber hinaus eine Verwechslung von Ursache und Kontext. Natürlich wurden junge Aufklärer in einem Milieu rekrutiert, wo es sowieso nicht viel zu verlieren gab. An Gewaltbereiten mangelte es auch damals nicht, und die Jugendgefängnisse waren schon in den neunziger Jahren überfüllt, was zeigt, dass die politischen Umstände nicht als Ursache für die Jugendkriminalität herhalten können.

Auch den gängigen Zusammenhang von Kriminalität und Armut stellt die Studie infrage. Afrika hat eine niedrigere Rate an Tötungsdelikten als Südamerika, obwohl es ärmer ist, und ein armes Land wie Senegal eine niedrigere als das relativ wohlhabende Côte d'Ivoire. Die Rate in Senegal entspricht etwa jener Frankreichs. Die Liste der «kriminellsten» Länder des Kontinents wird angeführt von den beiden wirtschaftlichen Schwergewichten Südafrika und Äthiopien. Auf individueller Ebene wird festgestellt, dass überhaupt nicht alle jugendlichen Delinquenten aus den untersten Schichten stammen.

Schwache Justiz und Polizei

Alarmismus ist fehl am Platz. Zwischen 2008 und heute hat sich die Rate der Tötungsdelikte im subsaharischen Afrika etwa halbiert (mit Ausnahme von Nigeria, wo sie steigt). Die Autoren bringen die Verbesserung mit der Verbreitung des Handys in Zusammenhang, das es ermöglicht, viel rascher die Polizei zu rufen und Täter zu fotografieren. Die Statistik hält auch noch andere Überraschungen bereit. So ist oft nicht die nächtliche Strasse, sondern das eigene Heim einer der gefährlichsten Orte. Morde in der eigenen Familie machen in Côte d'Ivoire 15, in Burkina Faso 25 und in Niger sogar 60 Prozent aller Tötungsdelikte aus. Ein grosser Teil davon sind Tötungen von Neugeborenen durch die Mutter. Ein typisches Sahel-Problem sind gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Bauern und Viehzüchtern. In Niger passieren 3 Prozent aller Morde in diesem Kontext. Etwas typisch Afrikanisches sind Morde im Zusammenhang mit Hexerei. In Côte d'Ivoire machen sie 9, in Burkina Faso 10 Prozent aus. Meist handelt es sich um die Tötung von angeblichen Hexen.

Auf das Konto von Lynchjustiz gehen in Burkina Faso 12 Prozent der Tötungsdelikte, was auch auf die Schwäche der Polizei und der Justiz verweist. Was den Bogen zurück zu den «Mikroben» schlägt. Dass selbst der Sprecher der Nationalen Polizei offiziell dieses unmenschliche Wort verwendet, zeigt, wie unreflektiert die Polizei in Côte d'Ivoire operiert. Darüber hinaus hat das Land wegen der Meutereien ehemaliger Rebellen, die inzwischen in die Armee «integriert» sind, ein massives Sicherheitsproblem. Da sind die delinquenten Strassenkinder ein willkommener Sündenbock. Mit breitspurigen Einsätzen, bei denen willkürlich Junge verhaftet werden, deren einziges verdächtiges Merkmal ist, barfuss oder mit Flipflops durch den Schlamm zu gehen, kann der wacklige Staat Stärke markieren, aber kaum für nachhaltige Verbesserungen sorgen.