Eine «Schlafwagentruppe», in der keiner dienen will? Noch ist die deutsche Bundeswehr das nicht, aber sie steuert darauf zu

Nicht die Ausrüstungslücken der Streitkräfte gefährden mittelfristig am stärksten die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands, sondern der Personalmangel. Ein Besuch bei den Gebirgsjägern zeigt allerdings, dass das nicht überall gilt.

Marco Seliger, Mittenwald 7 min
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Die Gebirgsjägerin Uli, ihr Name darf aus Sicherheitsgründen nicht vollständig genannt werden.

Die Gebirgsjägerin Uli, ihr Name darf aus Sicherheitsgründen nicht vollständig genannt werden.

Luisa Alex / Bundeswehr

Die Soldaten ächzen und keuchen unter der Last, Rucksack, Helm, Waffe, alles zusammen gut dreissig Kilogramm schwer, und in der Hand den Griff einer Trage, darauf ein Soldat mit gebrochenem Bein und Schulterfraktur. Unten im Tal liegt Mittenwald, einer der deutschen Gebirgsjäger-Standorte kurz vor der Grenze zu Österreich, umgeben von saftigen Wiesen mit Heuschobern, die wie hingewürfelt aussehen.

Da müssen die Soldaten jetzt hin, stundenlanger kräftezehrender Weg, 500 Höhenmeter hinab durch eine Rinne mit Stufen und Kurven und glitschigem Untergrund. Eine Übung zwar, auch der Soldat auf der Trage ist nicht wirklich verletzt. Aber dennoch äusserst fordernd. Uli, eine 28-jährige Oberstabsgefreite, sagt, diese extreme körperliche Belastung, der Wille, hier durchzuhalten, das sei es, was ihr Spass mache. «Ich wollte immer eine Kämpferin sein.»

Uli ist der Spitzname der ersten Soldatin Deutschlands, die es geschafft hat, in den Hochgebirgszug aufgenommen zu werden. Ihr voller Name soll hier aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden, eine Regel, gegen die die Bundeswehr selbst verstösst, da sie die Soldatin auf ihrer Website mit vollem Namen abbildet. Dabei ist Uli ein Beispiel gegen den Trend. Die Bewerberzahlen schrumpfen, der Personalmangel wächst. Die Bundeswehr läuft in ein gewaltiges Problem, nur im Bereich der Kampftruppen nicht. Dazu gehören etwa Gebirgs- und Fallschirmjäger, Jäger (zusammen: Infanterie), Panzergrenadiere und Panzertruppen.

Doppelt so viele Bewerber wie benötigt

Er könne für die Infanterie doppelt so viele Leute einstellen wie benötigt, so gross sei das Interesse, sagte der Chef des deutschen Heeres, Alfons Mais, vor einigen Monaten. Härten, Entbehrungen, Anstrengungen, die mit einem Dienst in diesen Einheiten verbunden sind, reizen viele Interessenten offenkundig stärker als andere Aufgaben in der Armee. Man kann die Soldaten dabei begleiten, wie sie den Verwundeten den Berg hinunterschleppen, um einen Eindruck zu bekommen, warum das so ist. Man kann aber auch noch ein bisschen oben warten und mit Uli darüber sprechen, was den Dienst im Militär ihrer Ansicht nach ausmacht. «Hier lernst du was fürs Leben», sagt sie.

Das Heer ist mit Abstand die grösste Teilstreitkraft der Bundeswehr

Aufteilung der Soldaten auf Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche bei einer Gesamtstärke von ca. 181 000
Militärisch
Zivil

Vor neun Jahren sei sie aus ihrem Heimatort in Sachsen zur Bundeswehr nach Bayern gekommen, eine abgeschlossene Lehre zur Bankkauffrau im Gepäck. «Das war mein Back-up, falls es beim Bund nicht klappt», sagt sie, eine reflektierte Mannschaftssoldatin, die mit ihren vielleicht 1 Meter 65 nicht übermässig kräftig, aber auch nicht zierlich wirkt, die braunen Haare zum Zopf gebunden. Anfangs sei sie unsicher gewesen, ob sie sich bei den hartgesottenen Gebirgsjägern durchsetzen könne. Doch sie habe zeigen wollen, dass sie genauso viel tragen könne wie ein Mann, dass sie genauso fit sei und schnell die Berge hinaufkomme.

Der Auswahlprozess für den Hochgebirgszug ist hart. Im Sommer haben die Anwärter sechs Kilometer über 750 Höhenmeter in Uniform und Bergstiefeln mit 15 Kilogramm Gepäck in einer Stunde zu laufen, im Winter müssen sie 500 Höhenmeter auf Ski mit Waffen und Rucksack bewältigen. Vor Uli hat das keine Frau geschafft, inzwischen sind sie zu dritt. Wenn man darüber mit ihrem Zugführer spricht, dann schwingt da eine grosse Selbstverständlichkeit mit.

Junge Leute suchen den Zusammenhalt der Gruppe

Im Berg seien die Soldaten nicht Mann oder Frau, sondern Kamerad, sagt er. Damit meint er einerseits, dass keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern gemacht werden. Die hohen Anforderungen würden für alle gleich gelten. Andererseits dürfte er mit seiner Aussage so ziemlich auf den Punkt bringen, weshalb die Kampfeinheiten der Bundeswehr offenbar gegen den Trend arbeiten: Wer Härten und Gefahren durchstehen will, ist auf den Zusammenhalt in der Gruppe angewiesen. Im Militär nennen sie das Kameradschaft.

Immer weniger Neueinstellungen in der Bundeswehr

Anzahl der eingestellten Soldaten (ohne Wiedereinsteller)

Wie es scheint, gibt es noch immer viele junge Leute, die diese Kameradschaft suchen. Das belegen die Zahlen, die die NZZ auf Anfrage von der Bundeswehr bekommen hat. Der Personalbedarf der Infanterie von 1270 Soldaten, heisst es darin, habe im vergangenen Jahr vollumfänglich für alle Laufbahnen gedeckt werden können.

Das sieht in vielen Bereichen der Armee ganz anders aus. Das vom Verteidigungsministerium vor fünf Jahren ausgegebene Ziel lautet, den Personalumfang bis zum Jahr 2031 auf 203 000 Soldaten (einschliesslich 5000 Reservisten) zu erhöhen. Doch das erweist sich unter den derzeitigen Bedingungen als illusorisch. Seit längerem dümpelt die Bundeswehr bei etwa 180 000 Soldaten, Tendenz abnehmend. Das zeigen die Zahlen aus dem vergangenen Jahr. Bei rund 44 000 Bewerbern traten 18 800 Soldaten ihren Dienst an, während zugleich 20 000 aus der Bundeswehr ausschieden. Das macht ein Minus von 1200 Soldaten.

Aussicht auf Besserung besteht kaum. Als Verteidigungsminister Boris Pistorius Anfang August ein Karrierecenter in Stuttgart besuchte, sagte er, bis 2035 werde es sieben Millionen weniger Erwerbstätige in den Altersjahrgängen geben, die «wir bei der Bundeswehr brauchen». Das ist eine zurückhaltende Formulierung für ein Problem, das die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr und damit die Verteidigungsbereitschaft Deutschlands noch massiver gefährdet als der Ausrüstungsmangel. Demografischer und gesellschaftlicher Wandel und die Lage auf dem Arbeitsmarkt sorgen dafür, dass die Bundeswehr mittelfristig eher noch stärker schrumpfen als wachsen wird.

Pistorius will den Sinn der Armee deutlicher machen

Dieser Trend ist seit Jahren bekannt. Auch die bisher angekündigten Massnahmen des Verteidigungsministeriums klingen wenig innovativ. Die Bundeswehr sei nicht irgendeine Schlafwagentruppe, die irgendwas mache, sondern sie sorge für Frieden und Sicherheit in Europa, sagte Pistorius in Stuttgart. Diese Sinnstiftung müsse potenziellen Bewerbern deutlicher aufgezeigt werden. Zudem müssten die Anstrengungen erhöht werden, Frauen sowie Menschen mit Migrationshintergrund für die Streitkräfte zu gewinnen.

Doch davon, den Sinn und Zweck der Bundeswehr herauszustreichen und bisherige Randgruppen stärker zu rekrutieren, sprachen auch schon seine Vorgänger. So gibt es seit mehreren Jahren eine Werbekampagne unter dem Motto «Wir schützen Deutschland». Doch seit der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg 2011 die Wehrpflicht ausgesetzt hat, kämpft die Bundeswehr mehr als je zuvor mit Unternehmen und Behörden um den Nachwuchs.

Aussetzung der Wehrpflicht war ein Fehler

Der Amtsinhaber Pistorius nennt die Entscheidung des christlichsozialen Freiherrn aus Bayern heute zwar einen Fehler. Immerhin konnte die Bundeswehr früher einen Grossteil ihrer Längerdiener aus dem Pool der Wehrpflichtigen gewinnen. Doch mehr als die Ankündigung, die Zielgrösse von 203 000 in seinem Ministerium überprüfen zu lassen, ist Pistorius bisher auch nicht eingefallen.

Das deutsche U-Boot U33 in der Eckernförder Bucht, auf dem Rumpf zwei Kampftaucher, an denen es der Marine unter anderem besonders mangelt.

Das deutsche U-Boot U33 in der Eckernförder Bucht, auf dem Rumpf zwei Kampftaucher, an denen es der Marine unter anderem besonders mangelt.

Chris Emil Janssen / Imago

Darin liegt allerdings eine weitere Merkwürdigkeit in der Debatte um den Bewerbermangel der Bundeswehr. 203 000 sei eine Zahl, die deutlich vor seinem Amtsantritt erarbeitet worden sei, sagte Pistorius im August. Er habe daher angeordnet, zu prüfen, wie sie begründet werde und wie sie mit dem neuen Fähigkeitsprofil der Bundeswehr übereinstimme. Die Frage ist, wovon der Minister da spricht. Das gegenwärtige Fähigkeitsprofil stammt aus dem Jahr 2018, ein neues gibt es nicht.

Auch in den Antworten der Bundeswehr an die NZZ gibt es Merkwürdigkeiten. Kommandeure und Flottillenchefs der Marine berichteten immer wieder von Schiffen und Booten, die im Hafen bleiben mussten, weil Personal fehlte. Bis heute sei es nur durch «Heldenklau» möglich, Fregatten für Einsätze oder Nato-Zertifizierungen vollständig zu bemannen. Dazu werden Soldaten anderer Besatzungen «ausgeliehen».

Die Marine parkt Soldaten, um sie vom Markt zu nehmen

Dieses Problem räumt die Bundeswehr indirekt durchaus ein. Personelle Defizite bestünden derzeit unter anderem in den Bereichen Operations- und Verpflegungsdienst, Schiffstechnik, Transport und Minentaucher, teilt sie mit. Das sind Spezialisten mit langen Ausbildungszeiten. Der Mangel erkläre sich aber dadurch, dass in den vergangenen Jahren mehr Dienstposten geschaffen worden seien. Die personelle Regeneration inklusive der erforderlichen Ausbildung gehe jedoch deutlich langsamer vonstatten, als neue Stellen geschaffen würden.

Marineoffiziere, mit denen die NZZ sprach, zeigen sich über diese Aussagen irritiert. Was nütze es, neue Dienstposten zu schaffen, wenn nicht einmal die bisherigen vollständig besetzt werden könnten, fragen sie und berichten, bei den Unteroffizieren würden derzeit allenfalls 60 Prozent der nötigen Einstellungsquote erreicht. Die Personallage sei so schlecht, dass die Karrierecenter jeden nähmen, der zur Marine wolle und die erforderlichen Bildungs- und Gesundheitsvoraussetzungen erfülle.

Die meisten Frauen entscheiden sich für die Feldwebellaufbahn

Verteilung von Soldatinnen auf die Laufbahngruppen bei einer Gesamtstärke von knapp 181 000 Soldaten

Erstaunlich ist, dass nicht nur die Marine mit ihren Kriegsschiffen und U-Booten einen eklatanten Bewerbermangel zu verzeichnen hat, sondern auch die Luftwaffe mit ihrem fliegenden Hightechgerät. Von den 44 000 Bewerbern im vergangenen Jahr interessierten sich laut der Bundeswehr nur 7 Prozent für eine Laufbahn bei der Marine und 12 Prozent für eine solche in der Luftwaffe, jedoch 79 Prozent für eine Karriere im Heer.

Der Bewerbermangel führt dazu, dass die Bundeswehr ihr Personal nun länger binden will. Dazu schüttet sie mitunter fünfstellige Prämien aus, um Soldaten zur Verlängerung ihrer Dienstzeit um ein paar Jahre zu bewegen. Im vergangenen Jahr waren das 7120 Männer und Frauen. Diese «Weiterverpflichtungen» helfen, den Schrumpfungsprozess zu verlangsamen. Zugleich wird die Truppe dadurch aber älter. Das Durchschnittsalter der Soldaten liegt zurzeit bei 33,5 Jahren.

Wer sich im Militär behauptet, tut das auch im Zivilen

Uli, die Oberstabsgefreite von den Gebirgsjägern in Mittenwald, ist mit ihren 28 Jahren deutlich jünger als die meisten Angehörigen der Bundeswehr. Neun Jahre lang ist sie schon dabei, war zweimal im Einsatz in Mali, hat Soldaten in der Mongolei trainiert und ist in der Ausbildung in Norwegen mit voller Montur in ein Eisloch gesprungen. In der Bundeswehr habe sie gelernt, im Gebirge und in der Arktis zu kämpfen und zu überleben, vor allem aber mit Menschen umzugehen. «Wenn man sich hier behauptet, dann behauptet man sich später auch im Zivilen», sagt sie.

Das hört sich nach Abschied an. Sie wolle nicht zu den Soldaten gehören, die den Absprung verpassten, sagt Uli. Ab einem bestimmten Alter schaffe man den Weg aus der Bundeswehr in den zivilen Arbeitsmarkt nicht mehr. Bei den Gebirgsjägern habe sie gelernt, ihren Körper so zu trimmen, dass er mit 35 Kilogramm schwerer Ausrüstung den Berg hinaufkomme. Nun wolle sie als Osteopathin dabei helfen, dass andere Menschen ihren Körper besser zu verstehen lernten. Im nächsten Jahr werde sie die Bundeswehr verlassen.

Dann überprüft Uli ihren Hüftgurt, schultert ihren Rucksack, hakt ihre Karabiner in die Seile ein, stemmt die Füsse gegen den Fels und lässt sich in die Schlucht hinab. Unten ächzen und keuchen die Soldaten an der Trage mit dem Verwundeten. Oben fragt der Zugführer, ob es etwas Schöneres geben könne, als in dieser Umgebung zu arbeiten. Zur Antwort schüttelt er den Kopf.

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