In Russland geht es jetzt auch aufmüpfigen Kriegstreibern an den Kragen

Der in den Niederlanden verurteilte ehemalige Geheimdienstoffizier und Ultranationalist Igor Girkin ging scharf mit dem Kreml und der Armee ins Gericht. Nun soll ihm wegen Aufrufs zu Extremismus der Prozess gemacht werden.

Markus Ackeret, Moskau 3 min
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Igor Girkin, auch unter dem Namen Strelkow bekannt, gründete im Frühjahr den «Klub der aufgebrachten Patrioten».

Igor Girkin, auch unter dem Namen Strelkow bekannt, gründete im Frühjahr den «Klub der aufgebrachten Patrioten».

Maxim Shemetov / Reuters

Russlands Führung verbittet sich seit Beginn des umfassenden Krieges gegen die Ukraine jegliche Kritik an ihren Entscheidungen. Prominente, aber auch völlig unbekannte Russinnen und Russen wurden zu Hunderten wegen «Verbreitung von Falschnachrichten» oder «Diskreditierung» der Armee verurteilt, zum Teil zu langjährigen Freiheitsstrafen.

Eine Gruppe scharfer Kritiker von Armeeführung und Kreml blieb davon verschont: die Ultranationalisten, die der Ukraine das Existenzrecht absprechen und härteste Massnahmen gutheissen, aber unbarmherzig die Fehler und Versäumnisse der Kriegsführung anprangern. Lange schien es, als genössen diese ideellen Verbündeten des Kremls Narrenfreiheit, obwohl sie, oft nur indirekt, Präsident Wladimir Putin mit ihrem Auftreten brüskierten. Jetzt könnte – im Nachgang zur Revolte Jewgeni Prigoschins – auch ihre Stunde geschlagen haben.

Kriegstreiber schliessen sich zusammen

Eine der prominentesten und radikalsten Stimmen aus diesem Kreis, der 52-jährige ehemalige Geheimdienstoberst Igor Girkin mit dem Kampfnamen «Strelkow» (abgeleitet von «Schütze»), ist am Freitag vom Inlandgeheimdienst FSB abgeholt worden. Am frühen Abend Ortszeit entschied ein Moskauer Bezirksgericht auf Antrag der Ermittler, Girkin unter dem Vorwurf der öffentlichen Aufrufe zu extremistischer Tätigkeit via Internet in Untersuchungshaft zu setzen. Der entsprechende Paragraf des Strafgesetzbuches sieht bis zu fünf Jahre Freiheitsentzug vor.

In den vergangenen Monaten hatte der Nationalist nicht nur seine Rhetorik in seinem von 875 000 Abonnenten gelesenen Telegram-Kanal verschärft und immer unverhohlener Putin direkt angegriffen. Mindestens so sehr dürfte den Sicherheitsapparat und den Kreml beunruhigt haben, dass Girkin sich im April im «Klub der aufgebrachten Patrioten» mit Gleichgesinnten zusammengetan hatte. In einem Manifest aus 39 Fragen an die Staatsführung und die Armee sprach dieser Klub tabuisierte Versäumnisse an – etwa bei der Begründung für den Angriff auf die Ukraine – und wies auf die katastrophale Leistung der Streitkräfte hin.

Immer tat er dies aus der Überzeugung, für das angestrebte Ziel – die Wiedererrichtung eines grossrussischen Reiches – wäre viel härteres, konsequenteres Handeln nötig gewesen, als es Putin gezeigt hatte. Girkin nimmt unter den seit Kriegsbeginn immer einflussreicher gewordenen Militärbloggern eine Aussenseiterrolle ein und stösst wegen seiner Ausfälligkeiten auf wenig Gegenliebe. Trotzdem wird sein grundsätzliches Anliegen geteilt. Viele dieser Blogger äusserten sich entsetzt über seine Festnahme, verbunden mit der Befürchtung, seine strafrechtliche Verfolgung werde zu nichts Gutem führen.

Symbolfigur und Kriegsverbrecher

Das liegt auch daran, dass Girkin eine Symbolfigur ist. Er war derjenige gewesen, der im Frühjahr 2014 im Donbass die Sympathisanten einer Loslösung von Kiew im Auftrag der russischen Geheimdienste aufgewiegelt hatte. Ohne ihn, meinte er einmal, hätten die lokalen Erhebungen in Donezk und Luhansk genauso geendet wie in Charkiw und Odessa – die Anhänger Kiews hätten schnell die Oberhand zurückgewonnen. Ein halbes Jahr lang diente Girkin der «Volksrepublik Donezk» als «Verteidigungsminister».

2014 war Girkin als russischer Geheimdienstoffizier damit betraut, die Ostukrainer gegen Kiew aufzuwiegeln und den Krieg im Donbass auszulösen.

2014 war Girkin als russischer Geheimdienstoffizier damit betraut, die Ostukrainer gegen Kiew aufzuwiegeln und den Krieg im Donbass auszulösen.

Maxim Zmeyev / Reuters

Seine harsche Kritik am Kreml nährt sich aus der Enttäuschung darüber, dass Putin 2014 die ostukrainischen Separatisten fallengelassen und auf eine Eingliederung des Donbass und der Gebiete am Asowschen Meer («Noworossija») verzichtet habe. Für seine Mitverantwortung an der MH17-Tragödie, dem Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs über der Ostukraine, verurteilte im vergangenen November ein Gericht in den Niederlanden Girkin zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.

Seine Reichweite, seine Popularität als Verbreiter unliebsamer Wahrheiten sowie seine Vergangenheit machen den Kriegstreiber zu einer für Putin unbequemen Figur. So exzentrisch er ist, könnte er in der Opferrolle noch an Strahlkraft gewinnen. Zugleich ist er ein Kronzeuge für die Rolle, die Russlands Geheimdienste in der Ukraine spielten.

Paradox mutete es an, dass die Geduld mit Girkin und seinen radikalen Aussagen im Zuge der Prigoschin-Revolte endet. Girkin ging in der Beurteilung vieler Entwicklungen mit Prigoschin einig, aber ist ihm in Abneigung verbunden. Nun sieht es so aus, als komme dieser vorläufig straffrei davon, während die Freiräume auch für die bis anhin mit Samthandschuhen angefassten Ultranationalisten geschlossen werden.