Deutsche Soldanten reissen 1939 mit einem Schlagbaum die deutsch-polnische Grenze nieder. (Bild: SZ Photo)

Deutsche Soldanten reissen 1939 mit einem Schlagbaum die deutsch-polnische Grenze nieder. (Bild: SZ Photo)

«Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen»

Mit dem Überfall auf Polen vor 75 Jahren entfesselte Adolf Hitler den Zweiten Weltkrieg. Er legte damit aber auch die Grundlage für die totale Niederlage Deutschlands.

Jürg Dedial
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Als im Morgengrauen des 1. Septembers 1939 die deutsche Wehrmacht Polen überfiel, war dies nicht bloss die Ouvertüre zu einem vermeintlich schnellen Sieg Nazideutschlands über sein Nachbarland, sondern der Auftakt zu einem weltumspannenden Inferno, wie man es noch nie erlebt hatte. Dem rasenden deutschen Grössenwahn und jenem des japanischen Verbündeten würden innert knapp sechs Jahren mehr als 60 Millionen Menschen zum Opfer fallen. Europa, und ganz besonders Deutschland selbst, würde in Trümmern liegen – ausgebrannt, ausgeblutet, ausgehungert. Ein völlig neues Machtgefüge mit zwei dominierenden Gegenpolen würde das Weltgeschehen bestimmen, und jene, die jetzt im Rausch der Siegesgewissheit den Nachbarn Polen einfielen, müssten bald erkennen, dass sie nichts gewonnen, dafür aber alles verloren hätten.

Die Diplomatie am Ende

Die Vorgeschichte des deutschen Überfalls auf Polen war lang und erschöpfend, aber sie hatte längst den nun eingetretenen Krieg vorgezeichnet. Hitlers Eroberungsdrang, sein perverser Rassenwahn, die Aggressivität und Rücksichtslosigkeit gegen innen und aussen – all dies hatte erkennen lassen, dass dieses Deutschland vor nichts zurückschrecken würde. Sämtliche Versuche, Hitler und seine Kamarilla mit diplomatischen und völkerrechtlichen Normen einzubinden, waren fehlgeschlagen. Mit den wohlmeinenden, naiven Vermittlern aus Grossbritannien und Frankreich hatten die Nazis Katz und Maus gespielt, ihren Preis immer höher geschraubt, und diesen auch immer wieder erhalten.

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Im März 1938 wurde Österreich ans Reich «angeschlossen», Ende September das Sudetenland einverleibt und im März 1939 schliesslich die Rest-Tschechoslowakei zerschlagen. Hitler zeigte, dass ihn überhaupt nichts an Verträge band. Übereinkünfte und Abkommen wurden nach Belieben gebrochen. Die Bemühungen der britischen und französischen Appeasement-Politiker quittierte er mit offenem Hohn, mit den Verhandlungspartnern der unter Druck gesetzten Nachbarländer sprang er wie mit Lakaien um. Fast noch hinterhältiger war das Zusammenspannen Hitlers mit seinem Erzfeind Stalin nur eine Woche vor Kriegsbeginn, nicht zuletzt weil die beiden Grossverbrecher in einer geheimen Vereinbarung ganz Osteuropa als billiges Beutestück untereinander aufteilten. Dies sollte den betroffenen Völkern nicht nur einen mörderischen Krieg, sondern die jahrzehntelange Unterjochung im sowjetischen Herrschaftsbereich bescheren.

Für Hitler stand seit 1937 fest, dass Deutschland im Osten mehr «Lebensraum» brauchte und dieser letztlich nur durch Krieg und Vernichtung zu gewinnen war. Hinter dem rassistischen Überlegenheitswahn standen auch handfeste ökonomische Gründe wie Versorgungsengpässe und leere Kassen. Die «minderwertigen» Völker Osteuropas wären auf die Rolle billiger Arbeitskräfte zu reduzieren, auf deren Buckel das Dritte Reich seine Rolle als Weltmacht einnehmen würde.

Garantie für Warschau

Dieser Fiebertraum schien lange im Bereich des Möglichen zu liegen. Nach den westlichen Kniefällen bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei konnte sich Hitler im Glauben wiegen, dass das Doppelspiel von Heuchelei und Erpressung auch bei Polen, seinem nächsten Opfer, klappen würde. So verlangte er im März 1939 von Warschau die Abtretung Danzigs und eine exterritoriale Strasse durch polnisches Gebiet nach Ostpreussen. Diese neuerlichen Forderungen, denen zweifellos weitere folgen würden, veranlassten Grossbritannien und Frankreich, Polen gegenüber eine Garantie seiner Unabhängigkeit abzugeben. Wenn Polen angegriffen würde, wäre dies ein Kriegsgrund. In Verkennung dieser Drohung setzte Hitler das Datum für den Angriff auf Polen auf den 26. August an.

Doch diesmal gaben London und Paris nicht mehr nach. Am 25. August wurde das Garantieabkommen mit Polen formell bestätigt. Für Hitler wohl beunruhigender war die Nachricht, dass sein Bündnispartner Italien am selben Tag erklärte, man sei nicht bereit für einen Krieg und werde sich neutral verhalten. Beides bewog Hitler, im letzten Augenblick die Angriffsbefehle zurückzuziehen und sämtliche Truppenbewegungen zu stoppen.

Aber angesichts der fruchtlosen letzten Vermittlungsbemühungen musste er bald zum Schluss gekommen sein, dass er einen Krieg gegen Polen zeitlich und räumlich begrenzen könnte. Ein neuer Angriffstermin wurde auf den 1. September angesetzt. Es war eine Fehleinschätzung, deren Tragweite vorerst nicht klar war, die im späteren Verlauf des Krieges aber eine fast zwingende Logik erlangen würde. Und so marschierte im Morgengrauen des 1. Septembers 1939 die deutsche Wehrmacht in Polen ein. Zwei Tage später erklärten Grossbritannien und Frankreich dem Dritten Reich den Krieg und setzten ihre Generalmobilmachungen in Gang.

Die Nazipropaganda kam auch jetzt mit vollendeten Lügen und Täuschungsmanövern zum Einsatz. KZ-Gefangene wurden in polnische Uniformen gesteckt, in denen sie dann einen Angriff auf den deutschen Radiosender von Gleiwitz inszenieren mussten. Dies lieferte in der Folge den offiziellen Vorwand für den deutschen Angriff, der von Hitler im Reichstag mit den berühmten Worten: «Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen» (tatsächlich bereits um 4 Uhr 45), gerechtfertigt wurde. Die deutsche Wehrmacht griff mit einer Zangenbewegung von Westen, Süden und Nordosten (Ostpreussen) an; insgesamt rückten fünf deutsche Armeen mit 14 Divisionen in Richtung Zentralpolen vor.

Auch Stalin schlägt zu

Einen Vorgeschmack auf die deutsche Kriegsführung im Osten gaben vor allem auch die schweren Luftangriffe auf polnische Städte, mit denen gezielt die Infrastruktur ganzer Stadtteile in Schutt und Asche bombardiert wurde. Warschau wurde noch in Trümmer gelegt, als der militärische Widerstand längst gebrochen war. Es war eine Demonstration nackter Gewalt gegen die Zivilbevölkerung und doch erst der Auftakt eines noch hemmungsloseren Terrorregimes, dem in den Jahren bis zum Kriegsende gut sechs Millionen Polen zum Opfer fallen sollten. Inmitten der deutschen Invasion fielen am 17. September dann sowjetische Truppen in Ostpolen ein und vollendeten damit das hinterhältige Werk des Hitler-Stalin-Pakts. Polen war verloren. Seine technisch und taktisch hoffnungslos unterlegene Armee musste sich trotz heftiger Gegenwehr ergeben.

Angriffe im Westen

Am 27. September erfolgte die Kapitulation in Warschau. Ein weiterer Staat in Osteuropa hatte aufgehört zu existieren. In mancherlei Hinsicht fiel der Eiserne Vorhang schon jetzt über Polen.

Damit war die Saat gelegt worden für ein Ringen, das noch fast sechs Jahre dauern sollte. Die deutsche Kriegsmaschinerie hatte eindrücklich demonstriert, dass der Krieg der Zukunft in hochmobilen Panzer- und Infanterie-Vorstössen liegen würde, die auf umfangreiche Luftunterstützung bauen konnten. Das Zeitalter der Stellungskriege war vorüber. Vor allem Frankreich, das mit enormem Aufwand seine Maginot-Festungskette an der Grenze zu Deutschland aufgebaut hatte, war gewarnt. Geblendet, ja blind von seinem schnellen Erfolg in Polen wandte sich Hitler nun dem Westen zu. Anfang April 1940 wurde Dänemark überrannt und Teile von Norwegen besetzt. Im Mai fiel die Wehrmacht in Belgien und den Niederlanden ein und zwang nur kurze Zeit später mit einem strategischen Coup Frankreich in die Knie. Es schien kein Mittel gegen die Panzer und Bomber der Wehrmacht zu geben.

Hochmut und Fall

Doch Hitler war zwar Oberbefehlshaber der deutschen Wehrmacht, aber kein Militärführer. Vom Einsatz militärischer Kräfte hatte er keine Ahnung, auf Kritik und unangenehme Wahrheiten reagierte er mit Wutanfällen und Entlassungen. Hätte er nicht ein völlig devotes Korps von Offizieren um sich gehabt, wäre es nicht zu dem Desaster der verlorenen Luftschlacht gegen Grossbritannien gekommen. Und noch viel weniger hätte Deutschland mit dem Überfall auf die Sowjetunion seinen eigenen Untergang eingeleitet. Grössenwahn und vollkommene Blindheit führten schliesslich auch die Invasoren ins Verderben, die am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen den zweiten grossen Krieg in bloss 25 Jahren vom Zaun gerissen hatten.

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