«Wir suchen einen brennenden Container»: In der Berliner Silvesternacht ist der Ausnahmezustand Normalität

Es knallt von allen Seiten, und die Polizei rast von einem Brennpunkt zum andern: Der Jahreswechsel in Berlin ist eine Spezialerfahrung. Wir waren auf den Strassen der deutschen Hauptstadt unterwegs.

Ferdinand Knapp, Berlin 4 min
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Bürgerkriegsähnliche Zustände blieben im Bezirk Neukölln an diesem Jahreswechsel aus.

Bürgerkriegsähnliche Zustände blieben im Bezirk Neukölln an diesem Jahreswechsel aus.

Ferdinand Knapp / NZZ

Der Berliner Alexanderplatz ist am Silvesterabend das Zentrum für Krawall und Randale. Über tausend Jugendliche, grossteils junge Männer, viele von ihnen wohl mit Migrationshintergrund, feiern dort seit dem frühen Abend unter dem Berliner Fernsehturm – «überwiegend friedlich», wie es zumindest vonseiten der Polizei heisst.

Die Polizei hatte das Geschehen in der deutschen Hauptstadt zum grossen Teil im Griff. Rund 5000 Einsatzkräfte sorgen in der Silvesternacht für Sicherheit – oder bemühen sich zumindest darum, ein Gefühl davon entstehen zu lassen.

Pyro-Attacken unter dem Fernsehturm

Dieses Gefühl ist am Alexanderplatz nicht jederzeit spürbar. Zwischen 20 und 21 Uhr attackieren Randalierer andere junge Menschen mit Feuerwerkskörpern. Sie zielen mit ihren Raketen auf die Menge. Auch die Polizisten bekommen etwas ab. Die lassen sich das nicht bieten und treiben die Menge auseinander.

Gegen 22 Uhr 30 ist es etwas ruhiger geworden. Zwischen den Jugendlichen stehen Polizisten in Schutzmontur, es knallt und kracht von allen Seiten. Immer wieder sind ohrenbetäubende Explosionen zu hören, wahrscheinlich von illegalen Böllern aus Osteuropa.

Kracher und Palästinenserschals

Berlin-Neukölln ist Deutschlands bekanntester Problembezirk: Dort hatten in der Silvesternacht von 2022 auf 2023 wilde Zustände geherrscht. Nach dem Terrorangriff der Hamas kam es hier immer wieder zu israelfeindlichen Demonstrationen. Auch für die Silvesternacht waren welche angemeldet worden, aber die Versammlungsbehörde untersagte alle Kundgebungen für den Abend.

Weil einige Menschen in Berlin staatliche Verbote bestenfalls als freundliche Handlungsempfehlung auffassen, kreuzen trotzdem ein paar Demonstranten auf. Gegen 23 Uhr stehen sie an einer Seitenstrasse der berüchtigten Sonnenallee, wo es schon im Oktober immer wieder zu Ausschreitungen kam. Sie schreien «Free Palestine» und «Viva, viva, Palästina». Ein junger Mann mit Schutzbrille zündet ein bengalisches Feuer. Zwischen der Polizei und den Demonstranten stehen junge Menschen mit Sekt in der Hand, die einfach nur Party machen wollen. Es sind skurrile Szenen.

Die Polizei treibt die Demonstranten immer wieder auseinander, löst die Grüppchen auf. Kurze Zeit später stehen die jungen Menschen mit Palästinensertuch an der nächsten Seitenstrasse zur Sonnenallee und skandieren: «Baerbock, Baerbock, you will see, Palestine will be free!» Es folgt ein stundenlanges Katz-und-Maus-Spiel zwischen Demonstranten und der Polizei. Immer wieder nimmt sie einzelne Demonstranten fest, Beamte und Demonstranten filmen sich gegenseitig. Die Polizisten bleiben ruhig, auch als sie von den Balkonen angepöbelt werden. Drumherum stehen Schaulustige und diskutieren. Aus den Gesprächen ist zu hören, dass weder die Polizei noch der israelische Staat bei ihnen hoch im Kurs stehen.

Böller auf Autos, die an der Ampel warten

Wer in der Silvesternacht durch Berlin fährt, sieht an allen Ecken Blaulicht. Rettungskräfte und Feuerwehr sind im Dauereinsatz. Überall brennen Überbleibsel von Pyrotechnik. Zwischen den Bezirken Neukölln und Kreuzberg stehen gepanzerte Fahrzeuge und Wasserwerfer der Polizei in Bereitschaft – müssen jedoch nicht eingesetzt werden.

In der Sonnenallee bleibt es für Neuköllner Verhältnisse erstaunlich ruhig. Die Behörden reagierten auf die Zustände des vergangenen Jahres mit Verbotszonen für Feuerwerke. Lediglich Wunderkerzen seien erlaubt, heisst es auf einem Schild. Die Polizei setzt das eisern durch. Die Beamten lassen niemanden durch die Absperrgitter.

An einer roten Ampel im Süden Neuköllns steht das Auto des Reporters. Plötzlich knallt es – ein Feuerwerkskörper, nur wenige Meter entfernt. Kurze Zeit später scheppert es wieder. Eine Gruppe junger Männer hat sich das Auto als Zielscheibe ausgesucht. Sie stehen nicht weit von der Kreuzung entfernt und werfen zielsicher die nächsten Böller in Richtung des Autos. Es dauert quälend lang, bis die Ampel endlich auf Grün springt. Vollgas und weiter.

Kugelbombe auf Einsatzfahrzeug

Neben dem Pyro-Wahnsinn kommt es auch zu Verkehrsunfällen. Unweit der Sonnenallee hat es heftig gekracht. Ein hochmotorisierter Mercedes ist mit einem Volkswagen-Kombi zusammengestossen. Beide Autos ziehen eine zwanzig Meter lange Spur der Verwüstung nach sich.

Die Fahrzeuge hinterlassen eine Spur der Verwüstung.

Die Fahrzeuge hinterlassen eine Spur der Verwüstung.

Ferdinand Knapp / NZZ

Mehrere Schaulustige stehen herum. Eigentlich ist hier Tempo 50. Der Anblick des vollkommen zerstörten VW lässt erahnen, mit welcher Geschwindigkeit es hier zur Sache ging. Die Polizei mutmasst, dass einer der Beteiligten überholen wollte und die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor. Die Bilanz fällt glimpflich aus: fünf Leichtverletzte.

Weiter südlich, im sozialen Brennpunkt Gropiusstadt, soll ein Einsatzwagen der Polizei mit einer Kugelbombe beschossen worden sein. Ausserdem hat es hier im Verlauf des Abends immer wieder gebrannt. Gegen 0 Uhr 30 fährt die Feuerwehr vor. «Wir suchen einen brennenden Container», sagt einer der Feuerwehrmänner. Dieser ist jedoch nirgendwo zu finden. Kurze Zeit später brechen die Feuerwehrleute wieder zu ihrem nächsten Einsatz auf.

Dann fahren mehrere Mannschaftswagen der Polizei heran. Die Polizisten verschwinden in der Siedlung und nehmen zwei junge Männer fest. Erst später stellt sich heraus, dass die Festnahmen nicht mit der Attacke auf den Einsatzwagen in Verbindung stehen.

Zwei junge Männer werden von der Polizei in der Gropiusstadt festgesetzt.

Zwei junge Männer werden von der Polizei in der Gropiusstadt festgesetzt.

Oliver Maksan / NZZ

Aber die Aktion zeigt: Die Polizei ist überall unverzüglich zur Stelle. Insgesamt nimmt sie in der Silvesternacht 390 Personen fest und leitet 790 Ermittlungsverfahren ein, mehrheitlich wegen des Verstosses gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz, wegen tätlicher Angriffe oder Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Insgesamt verletzten Randalierer 54 Beamte, 30 von ihnen mit Pyrotechnik. Acht Polizisten mussten ihren Dienst beenden.

Die Sprecherin der Berliner Polizei gibt sich an Neujahr «zufrieden» mit der Bilanz: Bei deutlich mehr Beamten im Einsatz seien nicht viel mehr verletzt worden als im vergangenen Jahr. Auch wenn es weniger Gewalt gab als in der Silvesternacht im Vorjahr, klingt die Bewertung der Polizei merkwürdig. Wie kann man bei mehr als 50 verletzten Beamten zufrieden sein? In Berlin gelten eigene Massstäbe.