Sozialer Pflichtdienst: Ein Vorstoss aus der SPD rennt bei der Union offene Türen ein

Die Sozialdemokraten streiten darüber, ob junge Menschen mindestens drei Monate ihres Lebens der Gemeinschaft widmen sollen. Grüne und FDP sind dagegen. Der neue CDU-Generalsekretär Linnemann spricht sich schon länger für ein Gesellschaftsjahr aus.

Oliver Maksan, Berlin 4 min
Drucken
Dieser Zivildienstleistende ist 2009 in einem Stuttgarter Krankenhaus tätig. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 endete auch die Ära der Ersatzdienste in Deutschland.

Dieser Zivildienstleistende ist 2009 in einem Stuttgarter Krankenhaus tätig. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 endete auch die Ära der Ersatzdienste in Deutschland.

Thomas Kienzle / AP

Die deutschen Sozialdemokraten diskutieren über die Einführung eines sozialen Pflichtdienstes. Einen Vorstoss in diese Richtung hat jetzt der SPD-Abgeordnete Dirk Wiese unternommen. «Wir brauchen wieder mehr Respekt im Umgang und ein stärkeres Miteinander im Land», sagte der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag der «Rheinischen Post» (Donnerstag). Schliesslich schwinde beides «im täglichen Umgang und digital, in Freibädern, beim Nichtbilden von Rettungsgassen, im Alltag oder bei AfD-Trollen im Internet».

Bei der Dauer zeigt sich der Sozialdemokrat flexibel. «Eine soziale Pflichtzeit muss dabei kein ganzes Jahr andauern – aber doch mindestens drei Monate.» Und sie müsse für jeden einmal im Leben gelten. Das Engagement könne dann in sozialen Einrichtungen, in der Pflege oder in Sportvereinen, in der Flüchtlingsarbeit oder dem Umweltschutz sowie der Bundeswehr oder bei Blaulichtorganisationen geleistet werden, so der SPD-Politiker im Interview.

Einig sind sich die Sozialdemokraten allerdings nicht. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, Katja Mast, distanzierte sich am Freitag von Wieses Vorschlag. Die SPD-Bundestagsfraktion sei mit den vielen Herausforderungen des guten Miteinanders in der Gesellschaft beschäftigt, hiess es blumig in einer Pressemitteilung. «Dazu gibt es viele Vorschläge, die der Abgeordnete Dirk Wiese durch einen persönlichen Debattenbeitrag ergänzt hat. Die SPD-Fraktion plant allerdings keinen Pflichtdienst.»

Die Grünen wollen Freiwilligendienst attraktiver machen

Wiese will das Thema nach der Sommerpause im Bundestag anschieben. Wenn allerdings schon in der SPD gestritten wird, dürfte es innerhalb der Koalition noch schwieriger werden, eine Mehrheit für einen Pflichtdienst zu finden. Im Koalitionsvertrag vom November 2021 steht davon nichts. Und Grüne und FDP haben sich nach einem früheren Vorstoss schon einmal dagegen ausgesprochen.

Während die Liberalen darin einen unzulässigen staatlichen Eingriff in die Lebensplanung junger Menschen sehen, wollen die Grünen die Rahmenbedingungen der bestehenden Freiwilligendienste verbessern, um sie attraktiver zu machen. Das ist im Koalitionsvertrag vereinbart.

Auf mehr Zustimmung dürfte der Vorschlag aus der SPD bei der Union stossen. Diese hat auf ihrem Parteitag in Hannover im vergangenen Jahr die Einführung eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres beschlossen. Dem war eine vielstimmige Diskussion vorausgegangen. Eine Mehrheit entschied sich dann doch für das Instrument, das dem Gemeinwohl dienen soll.

Die CDU rechnet vor, dass nur 12 Prozent der Jugendlichen eines Jahrgangs das bereits bestehende Freiwillige Soziale Jahr nutzten. Etwa 90 Prozent von ihnen seien Abiturienten. Die deutschen Konservativen wollen junge Menschen im Gesellschaftsjahr deshalb «über Milieugrenzen hinweg» zusammenführen und ihnen so den «Wert von Gemeinschaft» vermitteln, hiess es damals. So werde auch die «Widerstandsfähigkeit unseres Staates» gestärkt.

Der neue CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann ist einer der überzeugtesten Befürworter eines verpflichtenden Dienstjahres. Schon vor seiner Ernennung setzte sich der konservative Christlichdemokrat dafür ein. Er unterstützte ausdrücklich einen entsprechenden Vorstoss von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Dessen Vorschlag stiess im vergangenen Jahr auf wenig Zustimmung. Vielfach hiess es, dass der Zeitpunkt unmittelbar nach der Pandemie falsch gewählt sei. Schliesslich hätten besonders Jugendliche unter den massiven Beschränkungen gelitten. Dieses Argument verliert mit mehr zeitlichem Abstand zur Pandemie an Bedeutung.

Die Kosten für den Staatshaushalt würden massiv zunehmen

Viele Gegner eines Pflichtdienstes bezweifeln aber, dass ein solcher verfassungsgemäss wäre. Bis zur Aussetzung der Wehrpflicht durch den Bundestag 2011 wählten viele junge Männer einen zivilen Ersatzdienst. Dieser war aus Gerechtigkeitsgründen für Kriegsdienstverweigerer geboten. Zu Spitzenzeiten gab es über 100 000 Zivildienstleistende. Ein vom Wehrdienst unabhängiger Pflichtdienst wirft indes juristische Fragen auf.

Befürworter wie Linnemann wissen darum. Aus seiner Sicht kommt es allerdings auf die Formulierung an. Vor dem Bundesverfassungsgericht könnte ein solches Gesetz Bestand haben. Verfassungsnormen liessen sich schliesslich dynamisch auslegen, glaubt er. Notfalls müsse man auch über eine entsprechende Grundgesetzänderung nachdenken, so Linnemann im vergangenen Jahr in einem Beitrag.

Viele Sozialverbände sind von der Aussicht auf einen verpflichtenden Dienst nicht begeistert. Sie setzen auf Freiwilligkeit und halten nichts davon, eventuell unmotivierte junge Menschen zwangszuverpflichten. Auf den Staat würden dadurch erhebliche Mehrkosten zukommen. 2022 waren im deutschen Staatshaushalt etwa eine halbe Milliarde Euro für das Freiwillige Soziale Jahr veranschlagt. Befürworter rechnen vor, dass von einer Dienstpflicht etwa 600 000–700 000 Personen betroffen wären. Die Kosten dürften sich dementsprechend vervielfachen.

Als «nicht hilfreich» bewertet Holger Schäfer, Arbeitsmarktexperte am Institut der deutschen Wirtschaft (IW), den Vorstoss der Sozialdemokraten. Der NZZ sagte er am Freitag: «Wenn der Staat jungen Menschen einen Pflichtdienst verordnet, behindert er sie damit auch darin, Wohlstand für sich und die Gesellschaft aufzubauen.» Denn der spätere Beginn einer Ausbildung oder eines Studiums führe letztlich zu einer verkürzten Erwerbsbiografie. «Die finanziellen Einbussen wären, abhängig von der Länge des Dienstes, erheblich.»

Gleichzeitig wäre der Nutzen eines Pflichtdienstes für die Gesellschaft gering, mahnt Schäfer: Weil die Dienstpflichtigen über keine Qualifikation verfügten, könnten sie lediglich Aushilfsarbeiten übernehmen. Schlimmer noch: «Mit einem Pflichtdienst werden junge Menschen daran gehindert, schnell eine berufliche Qualifikation zu erwerben.» Der bereits bestehende Fachkräftemangel würde dadurch noch verschärft werden. Der Gesellschaft könne der Zwangsdienst damit auf die Füsse fallen, glaubt Schäfer. Allerdings gibt es nach Umfragen eine breite gesellschaftliche Mehrheit für den Pflichtdienst.

In dieser Legislaturperiode ist aufgrund der Uneinigkeit in der SPD und des Widerstandes von Teilen der Koalition kaum mit Bewegung zu rechnen. Bei anderen politischen Mehrheiten nach der nächsten Bundestagswahl könnte das Thema aber in einer grossen Koalition beispielsweise wieder auf der Tagesordnung stehen.

Weitere Themen