Schweden und das «nordische Modell»: Es nur zu verwalten, ist nicht mehr gut genug

Nach sieben Jahren als Ministerpräsident und zehn Jahren als sozialdemokratischer Parteichef verlässt Stefan Löfven die schwedische Politik. Er hat das sozialstaatliche Modell, dessen sich Schweden seit Jahrzehnten rühmt, nur über die Zeit gebracht, aber nicht zukunftssicher zu machen vermocht.

Rudolf Hermann, Stockholm
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Nach sieben Jahren an der Macht gibt es für Schwedens abtretenden Regierungschef Stefan Löfven wenig Ausreden dafür, nicht rechtzeitig an den entscheidenden Schrauben gedreht zu haben.

Nach sieben Jahren an der Macht gibt es für Schwedens abtretenden Regierungschef Stefan Löfven wenig Ausreden dafür, nicht rechtzeitig an den entscheidenden Schrauben gedreht zu haben.

Jessica Gow / Imago

«Zwei Probleme sind es, die die Arbeiterbewegung heute hat: Es gibt keine Arbeiter mehr. Und an Bewegung fehlt es total.» Das Zitat stammt nicht aus einer politischen Analyse, sondern aus einer Fernsehserie. Die an einen etwas aus der Zeit gefallenen sozialdemokratischen Parteichef gerichtete Bemerkung ist bereits vor rund zehn Jahren gefallen, in dem preisgekrönten dänischen Polit-Drama «Borgen – Gefährliche Seilschaften». Doch sucht man nach einer Kurzformel für die Regierungszeit von Schwedens Ministerpräsident Stefan Löfven, die eben zu Ende geht, könnte man keine passendere Beschreibung finden.

Löfven war ein Arbeiter von altem Schrot und Korn. Er wuchs in der Provinz auf und wurde Schweisser. Dann begann er, in der Metallarbeitergewerkschaft Karriere zu machen. Dank seinem Verhandlungsgeschick fand er sich irgendwann auf dem Posten des Vorsitzenden wieder. Und als die schwedischen Sozialdemokraten, traditionell mit den Gewerkschaften eng verflochten, 2012 in einem tiefen Wellental einen neuen Chef brauchten, fiel die Wahl eher aus Verlegenheit auf ihn. Die Partei brauchte jemanden, der die zerstrittenen Flügel zusammenzubringen vermochte. Löfven wollte den Job eigentlich nicht, und er hatte damals auch keine Vision, was er daraus machen könnte.

Ein Schweisser im «Rosenbad»

Zwar hatte er schon als Jugendlicher ein starkes politisches Interesse an den Tag gelegt und neigte zeitlebens sozialdemokratischem Gedankengut zu. Doch ein ideologisch Getriebener wie etwa der legendäre Olof Palme, der sozialdemokratische Ministerpräsident mit grossbürgerlichem Hintergrund, war Löfven nie. Obwohl er Palme als junger Gewerkschafter persönlich erlebt und immer bewundert hatte.

Löfvens prägende Jugenderfahrung war das Aufwachsen unter schwierigen familiären und sozialen Umständen. Und das in einem Land, das sich mit seinem Wohlfahrtssystem zum Ziel gesetzt hatte, gerade solche Menschen nicht zurückzulassen, sondern ihnen gleiche Chancen und Karrieren wie anderen zu eröffnen. Dass Löfven als einstiger Schweisser bis ins «Rosenbad» kam, den Palast in Stockholms Zentrum, der das schwedische Ministerpräsidentenamt beherbergt, war für ihn der Beweis, dass das System funktioniert.

Mission Arbeitslosigkeit: gescheitert

Den schwedischen Wohlfahrtsstaat zu erhalten – dies machte er sich deshalb zur vordringlichen Aufgabe. Als Ausdruck dieser Ambition formulierte er bei seinem Amtsantritt als Parteichef das Ziel, in der nächsten Wahl die Regierungsmacht zurückzuerobern und Schweden dann bis 2020 zu dem EU-Land mit der niedrigsten Arbeitslosigkeit zu machen.

Kurz nachdem Stefan Löfven 2012 zum Parteichef der Sozialdemokraten gewählt worden war, nahm er an einer 1.-Mai-Demonstration in Göteborg teil.

Kurz nachdem Stefan Löfven 2012 zum Parteichef der Sozialdemokraten gewählt worden war, nahm er an einer 1.-Mai-Demonstration in Göteborg teil.

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Ersteres ist ihm gelungen, Letzteres nicht. Die Gründe für das Nichterreichen des Ziels sind nicht eindimensional. Paradoxerweise liegt jedoch eine der wichtigeren Ursachen in Löfvens Bemühen, das nordische sozialstaatliche Modell in der Form zu erhalten, die er so sehr zu schätzen gelernt hatte. Ein tragendes Element dieses Modells ist das Arbeitsrecht, das bestehende Arbeitsverhältnisse extensiv schützt und vergleichsweise hohe Basislöhne garantiert. Das macht die Arbeit teuer und damit auch die Schaffung neuer Stellen. Das Arbeitsrecht hilft also denen, die im Markt drin sind, während jene, die noch draussen stehen, schlechte Karten haben.

Draussen aber stehen immer mehr Personen. Es sind überwiegend Immigranten, die auf der Grundlage eines anderen Pfeilers des schwedischen Selbstverständnisses ins Land gekommen sind. Es ist dies die bis 2015 betriebene offene humanitäre Zuwanderungspolitik. Mit seinem ausgebauten sozialen Auffangnetz war Schweden für Migranten eine attraktive Destination.

Was allerdings über Jahre hinweg nur ungenügend funktionierte – auch weil es zu wenig angestrebt und eingefordert wurde –, war die Integration der Neuankömmlinge in Gesellschaft und Arbeitsmarkt. Dies deuten die Arbeitslosenzahlen an; im August 2021 verzeichnete Schweden mit 8,9 Prozent nach Spanien, Griechenland und Italien den vierthöchsten Wert in der EU. Der schwedische Wert lag damit deutlich über dem EU-Durchschnitt von 6,8 Prozent. Noch klarer wird es, wenn man untersucht, wer arbeitslos ist: Die Kluft zwischen Einheimischen und Zuwanderern ist riesig.

Einwanderer sind in Schweden viel häufiger ohne Arbeit als Einheimische

Arbeitslosenquote nach Herkunft und Schulabschluss, in Prozent für 2020

Am Bisherigen festklammern

Doch das nordische Modell steht und fällt damit, dass das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen, zwischen Steuern zahlen und Leistungen beziehen, gewahrt bleibt. Dieses Gleichgewicht ist inzwischen ernsthaft gestört. Auch wenn das nicht allein die Schuld der Regierung Löfven ist, sondern auch früherer bürgerlicher und sozialdemokratischer Regierungen: Nach nunmehr sieben Jahren an der Macht gibt es für Stefan Löfven wenig Ausreden dafür, nicht rechtzeitig an den entscheidenden Stellschrauben gedreht zu haben.

So bleibt der Vorwurf an ihm haften, das «nordische Modell» nur noch verwaltet, aber nicht mehr weitergebracht zu haben. Das betrifft nicht bloss die Migrations- und Integrationspolitik, auch wenn diese einen wichtigen Faktor dafür darstellt, dass der Wohlfahrtsstaat derzeit stark strapaziert ist. Klassische Arbeiter, wie Löfven einst einer war, beginnen um ihre soziale Absicherung zu fürchten und wenden sich von den Sozialdemokraten ab. Sie wählen nun nationalistisch.

In Veränderung befindet sich aber auch die Arbeitswelt als solche. Automation lässt einfache Jobs verschwinden. Und dies ganz besonders in Schweden, in einem Land, das technologisch an vorderster Front steht. Dienstleistungen werden vermehrt nicht mehr im Angestelltenverhältnis, sondern auf der Ebene von digitalen Vermittlungsplattformen erbracht. Diese neuen Strukturen verlangen nach mehr Flexibilität im Arbeitsmarkt. Doch gerade hier hatten die Sozialdemokraten unter Löfven eine starke Tendenz, mit Zähnen und Klauen ihre hergebrachte Vorstellung des «nordischen Modells» zu verteidigen. Jegliche Flexibilisierung wurde als Sozialabbau gebrandmarkt, der den «Anfang vom Ende» einläute.

Ein neues Kooperationsmodell

Wenn Löfvens Bilanz in seiner Herzensangelegenheit, der Erhaltung des Sozialstaats, auch durchzogen ausfällt: Auf parteipolitischer Ebene kann er durchaus Erfolge vorweisen. In seiner zweiten Amtsperiode stand er einer schwachen Regierung aus Sozialdemokraten und Grünen vor, die sich ihre Existenz durch Zugeständnisse an zwei liberale Mitteparteien teuer erkaufen musste. Das entfremdete sie weiter von einem Teil ihrer linken Stammwählerschaft. Doch dem geschickten Taktiker Löfven gelang es nicht nur, wider Erwarten an der Macht zu bleiben, sondern er sprengte auch gleich noch den bürgerlichen Block, dem die zwei Mitteparteien zuvor angehört hatten.

Das «klassische» parlamentarische Kräftespiel des 20. Jahrhunderts zwischen einem sozialdemokratisch dominierten und einem bürgerlichen Block ist durch das markante Erstarken der schwedischen Rechtsnationalisten durcheinandergebracht worden. Löfven erkannte das und hatte den Mut, über die alten Blockgrenzen hinweg zu kooperieren. Wenn die Sozialdemokraten diese Zusammenarbeit erfolgreich weiterführen möchten, muss ihre Führung allerdings zweierlei lernen: Das alte Selbstverständnis als eine Art Staatspartei ist abzulegen, Partner sind als gleichberechtigt zu akzeptieren. Der eigenen Basis ist zu erklären, dass das nicht ohne Kompromisse geht.

Das wird nun die Aufgabe von Löfvens wahrscheinlicher Nachfolgerin an der Parteispitze sein, der Finanzministerin Magdalena Andersson. Sie soll am Donnerstag vom Kongress der Sozialdemokraten berufen werden. Ob sie Löfvens Kurs, in einer schwierigen parlamentarischen Situation pragmatische Lösungen über ideologische Grundsatzpolitik zu stellen, fortsetzen will, hat sie allerdings noch nicht erkennen lassen.

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