Kommentar

Keller-Sutter agierte in der Flüchtlingskrise geschickt – Baume-Schneider darf die Solidarität der Bevölkerung nicht überstrapazieren

Die Schweiz hat den Ansturm von Schutzsuchenden aus der Ukraine gut bewältigt. Von der neuen SP-Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider ist in der Migrationspolitik Realismus gefragt.

Tobias Gafafer 4 min
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Elisabeth Baume-Schneider folgt im Justizdepartement auf Karin Keller-Sutter – Linke hoffen auf einen Kurswechsel.

Elisabeth Baume-Schneider folgt im Justizdepartement auf Karin Keller-Sutter – Linke hoffen auf einen Kurswechsel.

Peter Klaunzer / Keystone

Der Wechsel erfolgt in einem schwierigen Umfeld mit mehreren parallelen Krisen. Am Dienstag übergab Karin Keller-Sutter den Schlüssel zum Justizdepartement an Elisabeth Baume-Schneider. Auf der Linken sind die Erwartungen gross, dass die SP-Frau namentlich in der Asylpolitik einen Kurswechsel vollzieht. Im Wahlkampf für den Bundesrat sagte diese, die Schweiz solle Klimaflüchtlinge aufnehmen – oder den Schutzstatus S auf Menschen aus Iran ausweiten.

Auch Baume-Schneider wird jedoch auf dem Boden der Realität landen. An der Spitze des Justizdepartements braucht es eine dicke Haut. Das bekam im laufenden Jahr Karin-Keller Sutter zu spüren. Wegen der Asylpolitik war die FDP-Bundesrätin massiven Angriffen der SVP und der parteinahen Presse ausgesetzt. Noch schärfer war die Kritik nur bei Keller-Sutters Vorgängerin Simonetta Sommaruga: Die Rechte stempelte diese regelrecht zum Feindbild, obwohl die Sozialdemokratin eine pragmatische Asylpolitik verfolgte.

Seit der Stabübergabe von Sommaruga an Keller-Sutter vor vier Jahren hat sich die Situation dramatisch verändert. Damals waren die Asylzahlen tief. Der Bundesrat beschloss deshalb, regelmässig eine gewisse Zahl von Kriegsflüchtlingen aufzunehmen. Nun sind die Behörden am Anschlag. In diesem Jahr haben gegen 100 000 Menschen in der Schweiz Zuflucht gesucht. Zu den rund 70 000 Schutzsuchenden aus der Ukraine dürften rund 25 000 weitere Asylgesuche kommen. Keller-Sutter zog in Absprache mit den Kantonen die Notbremse: Sie setzt die Aufnahme mehrerer hundert besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge vorerst aus.

Der Aufschrei der Linken folgte prompt: Keller-Sutter sei kaltherzig. Die Kritik ist unfair. Selten war die Schweiz so grosszügig wie im laufenden Jahr. Mit der raschen Aktivierung des Status S nahm der Bundesrat Zehntausende Schutzsuchende aus der Ukraine unbürokratisch auf. Die Schweiz gehört zu jenen Ländern, die proportional zur Bevölkerungszahl überdurchschnittlich viele Ukrainerinnen beherbergen.

Keller-Sutter und ihr Departement machten Fehler. Die direkte Zuweisung an Gastfamilien aus den Bundesasylzentren sorgte in den Kantonen für ein Chaos. Noch im November schien es, als redeten die Verantwortlichen die Lage schön. Keller-Sutter wollte trotz den Asylzahlen, die parallel zu denen der Ukraine-Flüchtlingen stark stiegen, nicht von einer Krise sprechen. Am Folgetag rief der Kanton Luzern im Asylbereich die Notlage aus. Und einen Monat später beschloss der Bundesrat, dass bis zu 500 Armeeangehörige bei der Betreuung von Flüchtlingen helfen sollen.

Doch insgesamt hat die Schweiz die Herausforderungen gut bewältigt. Die Aufnahme einer so grossen Zahl von Schutzsuchenden ist überraschend geräuscharm erfolgt. Keller-Sutter steuerte ihr Departement meist mit sicherer Hand durch das schwierige Jahr. Im Asylbereich ist der Spielraum beschränkt, zumal die letzte Reform erst 2019 in Kraft trat. Die Justizministerin setzte sich aber beharrlich dafür ein, dass auch Rückführungen von weggewiesenen Asylbewerbern in Länder wie Algerien wieder möglich sind.

Geschickt agierte Keller-Sutter zudem auf der europäischen Ebene. Zwar kann die Schweiz nicht die Migrationsprobleme der EU lösen. Aber zu Recht brachte sich die Bundesrätin bei den Innenminister-Treffen der EU aktiv ein. Die Schweiz partizipiert mit den Abkommen von Dublin und Schengen ähnlich wie ein Mitgliedsstaat an der europäischen Asyl- und Sicherheitspolitik. Es ist in ihrem Interesse, Probleme anzugehen. Schengen und Dublin gewähren weitgehende Mitwirkungsrechte, auch wenn Bern nicht mitentscheiden darf. Auch der Schweiz ist es zu verdanken, dass Serbien auf Druck der EU seine lockere Visa-Praxis für gewisse Länder angepasst hat.

Wiederholt bewies Keller-Sutter, dass sie über ein gutes politisches Gespür verfügt. Die Transitmigration von primär jungen Afghanen von Österreich durch die Schweiz schlug in Deutschland Wellen. Vor kurzem einigten sich Bern und Berlin auf einen Aktionsplan gegen die irreguläre Migration. Ob das Papier viel Neues bringt, ist fraglich. Aber in der Politik geht es auch um Symbolik: Der Aktionsplan beruhigt die Gemüter auf der anderen Seite des Rheins. Die Alternative wäre, dass Deutschland Grenzkontrollen vornimmt. Das ist weder im Interesse der Schweiz noch des Bundeslandes Baden-Württemberg.

Baume-Schneider mag nun rhetorisch und in Details andere Akzente als Keller-Sutter setzen. So dürfte sie versuchen, die Aufnahme schutzbedürftiger Flüchtlinge rasch wieder aufzunehmen. Doch überzogene Erwartungen wird die neue Bundesrätin enttäuschen. Im Kern dürfte sich an der Asylpolitik, bei der die Kantone eine wesentliche Rolle spielen, wenig ändern.

Gerade im Wahljahr 2023 ist Realismus gefragt. Die Migration, die Zuwanderung und die Neun-Millionen-Schweiz dürften eine wichtige Rolle spielen. Die SVP plant eine neue Initiative, um die Einwanderung zu beschränken. Statt linke Postulate zu verfolgen, wird die neue Justizministerin stark damit beschäftigt sein, die bestehende Migrations- und Asylpolitik zu verteidigen. Sie darf die Aufnahmebereitschaft und Solidarität der Bevölkerung nicht überstrapazieren.