Kommentar

Der Wolf ist auf dem besten Weg, zum Schädling zu werden

Tote Kühe, frustrierte Bergbauern, hilflose Behörden: Der Wolf ist zurück. Noch haben wir keinen Umgang mit ihm gefunden. Dabei ist klar, dass es ohne Regulierung nicht mehr funktionieren wird.

Andri Rostetter 158 Kommentare
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Abstand halten, Ruhe bewahren, nicht davonrennen: Noch wissen die wenigsten, wie sie sich bei einer Begegnung mit einem Wolf verhalten müssen. Das dürfte sich bald ändern. Der Wolf ist europaweit auf dem Vormarsch, die Population wächst jährlich um 30 Prozent. In fünf Jahren dürfte der Wolf gemäss Hochrechnungen der Gruppe Wolf Schweiz mit 800 Rudeln den gesamten Alpenraum besiedelt haben. Daran muss man sich zuerst einmal gewöhnen.

Über Jahrzehnte war der Wolf nicht mehr als eine Metapher, ein Präparat im Kabinett der Kulturgeschichte. Er war Projektionsfläche für Nazis, Charaktermaske für Wall-Street-Banker, Schablone für terroristische Tätertypologien. Aber er streifte nicht mehr als leibhaftiges Raubtier durch das Prättigau und das Obergoms. Er spielte keine Rolle mehr im Ökosystem.

Jetzt ist er wieder da. Er reisst Schafe und Kühe, knurrt Wanderer an, wagt sich immer weiter ins Flachland vor. Im Juli tötete er im Beverin-Gebiet zwei Mutterkühe, im August im Calfeisental ein Rind, in Osttirol einen 300-Kilo-Ochsen. Damit ist auch die alte Frage zurück, wie viel Wolf die moderne Welt verträgt.

Arrogante Sichtweise

Die Wiederansiedlung des Wolfes in Mitteleuropa ist einer der grössten Erfolge des Naturschutzes der vergangenen Jahrzehnte. Mitte des 19. Jahrhunderts galt er als ausgerottet. Für die Landwirtschaft war das ein zivilisatorischer Fortschritt. Zumindest mit dieser Plage mussten sich die Bauern nicht mehr herumschlagen.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts drehte der Wind. Mit dem Bundesgesetz über den Natur- und Heimatschutz von 1966 wurde der Artenschutz in der Schweiz auf Bundesebene verankert. Die Berner Konvention von 1979 stellte den Wolf international unter Schutz. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre wanderten die ersten Tiere von Italien in die Schweiz ein.

Dem Heimkehrer schlug Skepsis entgegen. Jahrzehntelang war es ohne ihn gegangen, nun wollte er seinen Platz in der Nahrungskette zurück? Schon 2004, Jahre vor der Bildung des ersten Rudels, verlangte der Bund von der Berner Konvention, den Wolf von der «streng geschützten» zur «geschützten» Gattung zu deklassieren. Man ahnte, dass der Räuber zum Problemfall werden könnte. Das Parlament machte sich an die Revision des Jagdgesetzes, das aus dem Jahr 1986 stammte. Der Wolf sollte reguliert werden können, wie andere Wildtiere auch.

Im September 2020 schickte das Volk das revidierte Gesetz bachab. Die politische Schweiz hatte einen neuen Graben – den Wolfgraben: Das Mittelland gewichtete den kompromisslosen Schutz des Wolfes höher als den Wunsch der Bergregionen nach raubtierfreiem Kulturland. Die Berggemeinden nahmen das Jagdgesetz praktisch ausnahmslos an, teilweise mit Zustimmungsraten von weit über 80 Prozent.

An der Stimmungslage haben die jüngsten Risse wenig geändert. Im urbanen Milieu kann die Alpwirtschaft nach wie vor kaum auf Verständnis hoffen. Die Branche gilt als volkswirtschaftlich vernachlässigbare Minderheit, ein Anachronismus, den man getrost dem Artenschutz opfern kann. Populär ist etwa die Forderung, die Alpwirtschaft müsse den Wolf endlich als neue Umweltbedingung akzeptieren. Diese Sichtweise ist nicht nur überheblich, sie zeugt auch von fehlendem Sachverstand.

In einem unberührten Ökosystem hat der Wolf als Spitzenprädator seinen festen Platz. Er erbeutet alte und kranke Tiere, hält so die Wildpopulationen gesund und beugt damit Schäden am Wald vor. Die Kadaver, die der Wolf bei seinen Beutezügen hinterlässt, ernähren zahlreiche andere Lebewesen wie Aasfresser.

Mit der Realität hat diese alpenländische Serengeti-Version wenig zu tun. Die Schweiz ist ein Agrarland. 36 Prozent der Landesfläche werden landwirtschaftlich genutzt, ein Drittel davon von der Alpwirtschaft. 2020 wurden in der Schweiz 560 000 Kühe, Schafe und Ziegen auf 6700 Alpbetrieben gesömmert. Von Johanna Spyris «Heidi» bis zu Polo Hofers «Alperose» wimmelt es in der Schweizer Kultur von Bezügen zur Alpwirtschaft. Die älteste Schweizer Alpkorporation, die Oberallmeindkorporation Schwyz, wurde im Jahr 1114 erstmals urkundlich erwähnt. Der Schweizer war Älpler, bevor er Eidgenosse wurde.

Wer eine Alp bewirtschaftet, ist Widrigkeiten gewohnt. Die Arbeit ist hart, die Bezahlung dürftig, die Ressourcen knapp. Das Haushaltseinkommen eines Betriebs ist im Schnitt 36 Prozent tiefer als im Tal. Die Suche nach Hilfspersonal ist jedes Jahr ein Kraftakt. Nur wenige sind bereit, monatelang auf fliessend Wasser, Freizeit und soziale Kontakte zu verzichten.

Ein mehrfacher Verlust

In den letzten Jahrzehnten ist die Alpwirtschaft zusätzlich unter Druck geraten. Der Rückzug lässt sich am Wachstum des Waldes ablesen. Von Mitte der 1980er Jahre bis 2018 hat die Waldfläche auf Alpgebieten um 29 Prozent zugenommen. Je weniger leistungsstark ein Betrieb ist, desto rascher wird er aufgegeben.

Für die betroffenen Regionen ist die Aufgabe einer Alp ein mehrfacher Verlust. Tradition und Wissen gehen verloren, die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen werden geschwächt. Ohne Bewirtschaftung verschwinden Pflanzen- und Tierarten, die Bergwiesen verwalden. 2012 mahnte die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete: «Auch wenn die Landwirtschaft alleine die dezentrale Besiedlung nicht mehr sichern kann, so ist eine dezentrale Besiedlung ohne Landwirtschaft nicht denkbar. Ihr Beitrag in dieser Hinsicht ist dafür entscheidend, ob es in Zukunft noch ein besiedeltes Berggebiet gibt.»

Bis jetzt konnte der Wolf nur deshalb nicht mehr Schaden anrichten, weil der Herdenschutz mit grossem Aufwand ausgebaut wurde. Die Hirten müssen in unwegsamem Gebiet zusätzliche Zäune installieren, über Nacht die Herden zusammentreiben, Schutzhunde anschaffen.

Zusätzlicher Druck kommt aus dem Tal: Nur wer den Herdenschutz buchstabengetreu umsetzt, wird bei einem Riss entschädigt. Das entscheidende Kriterium, die «Zumutbarkeit», wird von den Ämtern häufig anders ausgelegt als von den betroffenen Tierhaltern.

Verengter Blick

Die Frustration in den Berggebieten ist mittlerweile unüberhörbar. An einem Naturparkfest Anfang August im bündnerischen Tenna kaperten Bauern die Bühne und störten den Auftritt eines Vertreters des Bundesamtes für Umwelt. In Tirol experimentieren Tierhalter mit Elektroschock-Halsbändern für Schafe, um den Wolf zu vergrämen. Hirten verlassen ihre Alpen frühzeitig, weil sie trotz Schutzmassnahmen tote Tiere einsammeln mussten.

Man kann den Behörden nicht vorwerfen, dass sie untätig geblieben seien. 2021 hat der Bund die Schwellenwerte für die Eliminierung von schadenstiftenden oder verhaltensauffälligen Wölfen herabgesetzt. Für dieses Jahr wurde noch mehr Geld für Herdenschutzmassnahmen zur Verfügung gestellt.

Der Alpwirtschaft hilft das nur bedingt. Die Rechnung ist einfach: Je mehr Herdenschutz, desto mehr Kompromisse. Hundertprozentiger Schutz ist auch mit den besten Massnahmen nicht zu haben. Denn der Wolf ist gelehrig. Findet ein Leittier Gefallen an Mutterkühen, eifern ihm die Jungtiere nach. Er gewöhnt sich an Schutzmassnahmen, wechselt das Gebiet. Ein ausgewachsenes Exemplar kann in einer Nacht gut und gern 60 Kilometer zurücklegen. Im Juli wanderte ein Wolf innert weniger Tage von Graubünden ins Pitztal.

Die Gruppe Wolf Schweiz geht davon aus, dass sich das Raubtier ab einer Populationsgrösse von 800 Rudeln im Alpenraum selber regulieren wird. Woher die Experten diese Gewissheit nehmen, bleibt schleierhaft. Die Bedingungen für den Räuber sind so gut wie schon lange nicht mehr. Er ist in ganz Europa geschützt, kann sich frei bewegen und hat keine natürlichen Feinde mehr. Er dringt immer weiter in die Zivilisation ein – und ist damit auf dem besten Weg, zum Schädling zu werden.

Das hat auch die International Union for Conservation of Nature (IUCN) erkannt. Die Organisation, der unter anderem das Bundesamt für Umwelt angehört, setzte 2018 den Gefährdungsstatus des Wolfs um zwei Stufen herab – von «critically endangered» (vom Aussterben bedroht) auf «vulnerable» (gefährdet). Es ist auch ein Eingeständnis, dass Artenschutz nicht nur die Wahl zwischen bedingungslosem Schutz und Ausrottung lässt.

Das löst aber das Problem der Alpwirtschaft nicht. Im Juli forderten Interessenvertreter der Berglandwirtschaft aus der Schweiz, Deutschland, Österreich und Italien mit einer Resolution die Herabstufung des Schutzstatus des Wolfes und eine «wirksame Bestandesregulierung». Die Wolfspopulation habe sich in den letzten Jahren im ganzen Alpenraum exponentiell vermehrt und stelle damit die Existenz der Alpwirtschaft infrage.

Auch das Parlament spricht wieder über den Wolf. Im September wird sich der Ständerat über eine neue Vorlage zur Regulierung beugen. Die Behörden sollen künftig den präventiven Abschuss des Wolfes bewilligen können. Damit soll ausgerechnet jener Teil des Jagdgesetzes reanimiert werden, der 2020 zur Niederlage an der Urne geführt hatte. Demokratiepolitisch lässt sich damit kein Schönheitspreis gewinnen. Aber es bleibt der verantwortungsvolle Mittelweg. Die Alternativen sind eine unkontrollierte Ausbreitung – oder die erneute Ausrottung. Beides wäre eine Niederlage für den Artenschutz.

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Stephan Hegglin

Danke Herr Rostetter. Hatte die Gelegenheit mit betroffenen Bergbauern im Kanton Uri und Bündnerland zu sprechen und merkte, dass die Verletzung dieser Leute sehr gross ist, da die Konzepte zwar dem Bürotisch nicht weh tun, die Realität vor Ort aber nicht berücksichtigen. Ein Älpler, der die schwer verwundeten Schafe findet, darf seine Tiere nicht schiessen, sondern muss warten, bis ein Veterinär oder Wildhüter kommt. Nachts wecken einem die Herdenschutzhunde, weil sie ihre Aufgabe erfüllen und halten damit im dümmsten Fall den Älpler wach, weil er dann nachschauen muss, was los ist. Das kann mehrere Nächte so gehen. Sind Schafe gerissen worden in der Nähe eines Berghäimets, dann müssen die Kinder trotzdem zu Fuss zur Schule, vorbei an der besagten Weide, wo der Wolf gewütet hat. Sie müssen ja keine Angst haben, weil der Wolf nur Rinder, Kühe und Schafe reist und keine Erstklässler, bis jetzt. Erklären sie das Kindern. Wenn Wölfe nicht möglichst unmittelbar zu spüren bekommen, was geht und was nicht, werden sie keinen Zusammenhang sehen zwischen ihrem Wildern in einer Herde und dem Abschuss eines Artgenossen. Der zeitliche Abstand ist meist so gross, das man Wölfen vielleicht zuerst unsere bürokratischen Abläufe erklären sollte. Spass beiseite. Die Bergbevölkerung und die betroffenen Kantone müssen verstärkt gehört werden, wenn es um die Umsetzung von Schutzmassnahmen  und die Regulierung des Wolfsbestands geht.

Jürg Simeon

Was auffällt, es werden keine Bilder gezeigt von den von Wölfen getöteten Schafen und Kühen. Dafür meistens putzige jüngere Wölfe. Die NZZ macht hier leider keine Ausnahme. Es wird Zeit der Realität ins Auge zu sehen.