Kommentar

Gleichzeitig Angeklagter und Kandidat für die eigene Nachfolge: Ein «Fall Maudet» kann sich fast nur in Genf ereignen

Genfer sind «halbe Franzosen»? Surtout pas! Aber anders als in der übrigen Schweiz ist das Selbstverständnis schon. Mit dem Prozess gegen Pierre Maudet kommen stürmische Tage auf den untypischsten Kanton zu.

Antonio Fumagalli, Genf 8 Kommentare
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Zweifellos das bekannteste Wahrzeichen Genfs: der weitherum sichtbare Jet d’eau.

Zweifellos das bekannteste Wahrzeichen Genfs: der weitherum sichtbare Jet d’eau.

Salvatore Di Nolfi / Keystone

«Von allen Städten dieser Welt, von allen innigen Heimaten, die sich ein Mensch während seiner Reisen anzueignen versucht, scheint Genf für die Glückseligkeit am geeignetsten zu sein», schrieb Jorge Luis Borges einst. Fjodor Michailowitsch Dostojewski hingegen hielt fest: «Diese Stadt ist ein Graus. (. . .) Alles hier ist trübselig und düster. Und was für selbstgefällige Maulhelden!»

Dass zwei weltbekannte Literaten – mit einigem zeitlichem Abstand zwar – zu derart unterschiedlichen Einschätzungen kommen, erstaunt bei Genf etwas weniger, als wenn es sich um eine andere Schweizer Stadt gehandelt hätte. Genf wird verehrt, eckt an, gilt im nationalen Vergleich als untypisch, unter bösen Zungen gar als unschweizerisch. Kurz: Die Stadt, und mit ihr der von der Stadt dominierte Kanton, polarisiert zumindest in der Westschweiz wie keine andere. Nun stehen Wochen und Monate an, die all diese Charakteristiken offenlegen und weit über die Kantonsgrenzen hinaus Wellen schlagen werden.

Die bevorstehenden Turbulenzen sind eng mit einem Namen verbunden, der während Jahren als hellster Politstern Genfs, ja der ganzen Romandie galt: Pierre Maudet. Schon in Jugendjahren fiel er öffentlich auf, gründete das Jugendparlament, trieb mit aufsehenerregenden Aktionen den Stadtrat so lange vor sich her, bis er schliesslich selbst in diesen gewählt wurde. Er verhalf den staatstragenden Radikalen, die später in der FDP aufgingen, als Präsident zu neuem Schwung, wurde mit lediglich 34 Jahren in den Staatsrat gewählt, schaffte im Sommer 2017 als offizieller Bundesratskandidat ein überraschend gutes Ergebnis und wurde im Frühling 2018 sensationell im ersten Wahlgang in der Kantonsregierung bestätigt. Maudet befand sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere.

Er lässt sich nicht unterkriegen: Pierre Maudet vor dem Prozess und der Ersatzwahl.

Er lässt sich nicht unterkriegen: Pierre Maudet vor dem Prozess und der Ersatzwahl.

Salvatore Di Nolfi / Keystone

Dass dieser kometenhafte Aufstieg in Genf vonstattenging, ist kein Zufall. Während (zu) starke Persönlichkeiten anderswo skeptisch beäugt werden, hat die Genfer Bevölkerung durchaus Sympathien für diejenigen, die den grossen Auftritt suchen und dabei überzeugen. Fragt man in den übrigen Kantonen der Romandie nach, welche Eigenschaften mit Genf in Verbindung gebracht würden, kommt schnell das ausgeprägte Selbstbewusstsein zur Sprache.

Es ist dies natürlich ein reichlich klischierter Reflex gegenüber den «Grossen und Mächtigen», wie man ihn in der Deutschschweiz auch im Falle von Zürich kennt. Dennoch beinhaltet das Selbstverständnis am westlichsten Zipfel der Schweiz einen Urstolz auf die eigene Geschichte, auf die Errungenschaften und die Lebensumstände, die so anders sind als in der übrigen Schweiz. Die Republik und Kanton Genf, so die amtliche Bezeichnung, teilt mit der Restschweiz auf dem Landweg eine Grenze von gerade einmal vier Kilometern. Mit Frankreich sind es über hundert. Der Austausch mit dem grossen Nachbarn ist allgegenwärtig, der Blick über die Grenze ebenfalls. In keine andere Region der Schweiz pendeln täglich so viele Arbeitskräfte (was im Unterschied zum Tessin jedoch zu erstaunlich wenig politischen Verwerfungen führt). Und keine grosse Schweizer Stadt hat einen so hohen Ausländeranteil wie Genf.

Nichts jedoch wäre falscher, als die Genfer als «halbe Franzosen» zu bezeichnen. Man mag sich von der französischen Grandeur inspirieren lassen – die rhetorisch überdurchschnittlich beschlagenen Genfer Politiker, Anwälte und Lobbyisten sind ein Beispiel dafür –, aber mit dem Nachbarn tauschen wollen? Surtout pas! Genf lebt ganz gut in seinem eigenen Kosmos und fuhr damit, über alles gesehen, ganz passabel in den vergangenen Jahrzehnten. Der Kanton verfügt zwar mit Abstand über die höchsten Schulden der Schweiz und hat im Herbst aufgrund der Corona-Krise ein rekordhohes Defizitbudget präsentiert. Dank dem starken Finanz- und Rohstoffsektor ist er gleichzeitig aber einer von lediglich sieben Geberkantonen beim nationalen Finanzausgleich – notabene der einzige aus der Westschweiz.

Von «fabelhaft» bis «Bananenrepublik»

Die langjährige Journalistin Valérie Bierens de Haan hat kürzlich ein Buch mit dem kaum treffend zu übersetzenden Titel «Lettres d’amour et de désamour à Genève» herausgegeben, aus dem auch die beiden eingangs erwähnten Zitate stammen. 67 Persönlichkeiten richten darin in Briefform ihre Gedanken an Genf.

Das Bild, das diese Schreiben zeichnen, ist so kontrastreich, wie es der Kanton ist: Die Stadträtin schwärmt davon, dass das multikulturelle Genf «allen eine Chance gibt», wie etwa das aufsehenerregende Sans-Papiers-Legalisierungsprogramm «Papyrus» gezeigt habe. Die Altstadtbewohnerin lässt sich darüber aus, dass ihr Quartier zu einem Museum verkommen sei, das lediglich noch für Touristen attraktiv sei. Der Künstler bedauert, dass aufgrund der galoppierenden Gentrifizierung kaum mehr Freiräume existierten. Die pensionierte Dozentin freut sich darüber, dass der Kanton den Schulkindern schon vor Jahrzehnten Gratis-Musikunterricht offeriert habe. Der Soziologe analysiert, dass die Genfer Politelite zuweilen das Gefühl habe, sie würde besser ganz alleine Bundesrat und Parlament stellen. Der ehemalige Uno-Kadermitarbeiter lobt die «fabelhafte Konzentration von Wissen und Kultur», die dank der engmaschigen Struktur von internationalen Organisationen vorhanden sei. Und der langjährige Kulturredaktor wettert schlicht und einfach über die «Bananenrepublik», zu der Genf in den letzten Jahren verkommen sei.

Worauf er sich abstützt, führt er nicht explizit aus. Zwischen den Zeilen ist jedoch unverkennbar, dass der Schreiber insbesondere auch die Affäre Maudet und ihre Implikationen vor dem inneren Auge hatte. Denn das, was auf Maudets brillante Wahl im Frühling 2018 folgte, erschütterte die politischen Institutionen Genfs und erst recht den einst stolzen Freisinn in ihren Grundfesten. Das in unzähligen Akten aufgeführte Drama sorgte landesweit für Aufsehen und zeigte weitere Facetten der Genfer Eigenart: den Hang zur Theatralik, die Lust an der Auseinandersetzung, ja zuweilen gar an der Selbstzerfleischung. Genf wäre nicht Genf, wenn es dafür keinen Begriff gäbe: die «Genevoiseries», sogar auf Französisch allerdings besser als «Genfereien» bekannt. Der Begriff stammt aus dem 19. Jahrhundert, hat jedoch nichts an Aktualität eingebüsst. Selbstironisch verleihen lokale Journalisten jährlich sogar den Preis für die «beste» Genferei.

Der Preis, den niemand will

Pierre Maudet erhielt diese «Auszeichnung» 2019. Wegen der fremdfinanzierten Luxusreise und vor allem des darauffolgenden Lügengebildes wurde er damals innert kurzer Zeit zur Verkörperung des Sprichworts «Wer hoch fliegt, fällt tief». Eine Instanz nach der anderen liess ihn fallen, doch Maudet gab nie auf. Erst nachdem ihm die Regierungskollegen im vergangenen Oktober auch noch die letzten Funktionen entzogen hatten, tat er schliesslich, was man nach all den Querelen nicht mehr für möglich hielt: Er trat als Staatsrat zurück, kandidiert nun aber sogleich als sein eigener Nachfolger bei der Ersatzwahl im März. Der Schritt erlaubt, endlich Gewissheit darüber zu haben, was die Bevölkerung – und nicht nur die Politiker, die Medien und die Umfrageinstitute – von der leidigen Geschichte und von Maudets Regierungsfähigkeit hält. Das ewige Stehaufmännchen selbst hat derweil nichts an Elan und Kampfeslust eingebüsst, wie der bereits angelaufene Wahlkampf zeigt.

Man darf also davon ausgehen, dass sich die Wogen nach der Wahl etwas glätten werden. Zuvor wird die Republik Genf aber nochmals durchgeschüttelt: Mitte Februar muss sich Pierre Maudet vor Gericht verantworten, die Staatsanwaltschaft wirft ihm Vorteilsannahme im Zusammenhang mit einer Luxusreise nach Abu Dhabi vor. Seine Anwälte plädieren auf Freispruch. Eine Prognose ist schwierig, Maudets Chancen bei der Ersatzwahl dürften jedenfalls wesentlich vom Ergebnis des Prozesses abhängen.

Ein Mann, der gleichzeitig Angeklagter in einem laufenden Strafprozess sowie Kandidat für ein hohes Regierungsamt ist – das hat es in der Schweiz wohl noch nie gegeben. Aber Genf ist eben anders, im Guten, wie im Schlechten. Unabhängig davon, ob Pierre Maudet verurteilt, freigesprochen, gewählt oder definitiv in die politische Verbannung geschickt wird: Es ist dem Kanton zu wünschen, dass der Ausgang der bevorstehenden Ereignisse dazu führt, eines der turbulentesten, schmerzlichsten und irgendwie doch typischsten Kapitel der jüngeren Politgeschichte hinter sich lassen zu können. Das nächste dürfte nicht lange auf sich warten lassen.

8 Kommentare
Werner Moser

Im Kleinstaat Genf ist das gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische, cochon-et-frère-hafte derart ineinander verschlungen, wie das mit der "Causa Maudet"  nicht besser dargestllt werden kann. Gleichzeitig ein Angeklagter und Kandidat für die eigene Nachfolge im Staatsrat sein zu können, ist tatsächlich fast nur in Genf möglich. Ein Selbstverständnis, dass in anderen Kantonen der Schweiz so nicht vorstellbar ist. Alleine, auch Genf könnte gut und gerne auf die besagten stürmischen Tage verzichten. Und Zeit und Umstände für Konstruktiveres nutzen, als dies nun in der Causa Maudet der Fall sein wird. Staatspolitisch ärgerlich!

Erich Heini

Genf ist zwischen der Eidgenossenschaft und Frankreich hin- und hergerissen. Bei ausgewählten Gelegenheiten können Genfer ihre amour fou pour la Conféderation Suisse kaum verbergen. Die Auftritte ihrer Gendarmerie und weiterer Uniformierter sind dann von einer feierlichen Rigorosität, die allenfalls noch von Waadtländern und Wallisern egalisiert werden. Deutschschweizer haben da keinen Stich. Auf der andern Seite darf nicht unterschlagen werden, dass sich Genf durch übermächtige Gewerkschaften in der aufgeblasenen (im zweifachen Wortsinn) Fonction publique in Geiselhaft nehmen lässt.