Erfolg haben aufrichtige Politiker nur in der Theorie

Figuren wie Henry Kissinger oder François Mitterrand haben es gezeigt: In der Politik gewinnt Verschlagenheit gegen Offenheit.

Paul Widmer (Gastkolumnist) 3 min
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Illustration: Gabi Kopp

Der griechische Historiker Thukydides war in seiner Darstellung des Peloponnesischen Krieges beim fünften Kriegsjahr angelangt. Da stellte er resigniert fest, dass Politik nichts als eine Abfolge von Eitelkeiten und Betrug sei. Woher das käme, fragte er sich und glaubte, die Antwort in der menschlichen Natur zu finden. «Im Allgemeinen gilt der Mensch lieber als verschlagen, aber hochgescheit, denn als redlich, aber nicht besonders gescheit. Des einen rühmt er sich, des andern schämt er sich.»

Hat sich seit der Antike viel geändert an diesem Befund? Nein – trotz Christentum, das den Gläubigen eine andere Moral beizubringen versuchte, trotz Aufklärung, die den moralischen Fortschritt der Menschheit verkündete.

Nehmen wir als zeitgenössisches Beispiel Henry Kissinger. Vielen gilt Nixons nationaler Sicherheitsberater und Aussenminister bis heute als Inbegriff aussenpolitischer Klugheit. Wohl zu Recht. Aber er hatte auch andere Seiten. Sosehr er professionell brillierte, charakterlich überzeugte er weit weniger. Als ich in den achtziger Jahren auf der Schweizer Botschaft in Washington arbeitete, wurde mir in Diplomatenkreisen hinter vorgehaltener Hand gesagt: «He is a political genius, but a human desaster.» Diese vernichtende Einschätzung seines Charakters nahm man achselzuckend zur Kenntnis. Seinem Prestige schadete sie nicht.

Ganz anders erging es Jimmy Carter. Er trat die Präsidentschaftswahlen mit dem Versprechen an, nie zu lügen. Nach den Kungeleien von Nixon und Kissinger sehnte sich die Nation nach einem Stilwechsel. Carter wurde denn auch gewählt und hielt, soviel ich weiss, sein Versprechen. Aber nach vier Jahren hatten die Wähler von seiner Ehrlichkeit und von seinem hausbackenen Auftreten genug. Sie schickten ihn in die Wüste.

Halten wir in Europa es anders? Keineswegs. Das Urteil über Angela Merkels Platz in der Geschichte könnte etwa so ausfallen, wie Barack Obama es in seinen Memoiren vorgespurt hat: «zuverlässig, ehrlich und intellektuell präzise» – also alles ganz schön brav, aber auch nicht mehr. Anders bei Frankreichs Staatspräsidenten François Mitterrand, der die Verschlagenheit zu seinem Markenzeichen machte. Sein Biograf Franz-Olivier Giesbert meinte, Mitterrand habe nie das gesagt, was er tat, und nie das getan, was er sagte.

Premierminister Jacques Chirac, der sich in einer langen Cohabitation mit ihm abquälte, warnte denn auch seine Umgebung: Passt auf! Ist er besonders freundlich, heisst das, dass er gerade zum nächsten Schlag anhebt. Wahrlich kein Kompliment, aber den Ruf schlauer Überlegenheit hat sich die Sphinx damit gesichert.

Sogar in der republikanisch imprägnierten Schweiz liess man bei einem brillanten Unterhändler wie Staatssekretär Edouard Brunner eher etwas Krummes durchgehen als bei einem biederen Durchschnittsdiplomaten. Mit einem derart raffinierten Taktiker wollte sich keiner anlegen.

Ja, Thukydides hat recht: Intelligenz wird im Allgemeinen mehr geachtet als Ehrlichkeit, wenigstens in der Praxis. In der Theorie allerdings will man es anders. Da fordert man rigoros Ehrlichkeit. Selbst Kissinger erhebt diese in seinen Memoiren zur Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Diplomatie. Nicht anders Talleyrand, der verschlagenste Aussenminister aller Zeiten. Wie ein Chamäleon wusste er sich erst den französischen Revolutionären, dann Napoleon und schliesslich dem Bourbonenkönig Ludwig XVIII. anzudienen.

Unter völlig gegensätzlichen Regierungen behauptete er seine Stellung. Sein Leitspruch war, der Mensch habe die Sprache, um seine Gedanken zu verbergen. Doch in seiner letzten Ansprache vor der Académie française zögerte er nicht, zu einem Loblied auf die Ehrlichkeit anzuheben. Zu List und Hinterlist hingegen sagte er nichts. Die hatte er praktiziert.

Was kann man daraus schliessen? Wir müssen uns auf die Sprache verlassen können. Sie ist unser wichtigstes Mittel zur Verständigung. Dennoch darf man nicht übersehen, dass Worte und Taten oft nicht übereinstimmen. Wenn man eine Kluft erkennt, sollte man die Taten höher bewerten als die Worte. Sie sind nicht verstellt, sind echter. Nicht umsonst heisst es schon in der Bibel: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Radikale Skeptiker, die zu viel mit Leuten vom Schlag eines Talleyrand zu tun hatten, könnten indes mit Dostojewski zur Überzeugung gelangen, das Wahre eines Menschen liege vor allem in dem, was er verbirgt oder zu verbergen versucht.

Paul Widmer war Diplomat und HSG-Dozent und schreibt Sachbücher.

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