Gastkommentar

«Germany first» – Deutschland fehlt der Wille zum strategischen Denken

Die Entfremdung in den transatlantischen Beziehungen liegt nicht allein an Trump und den USA. Auch die globalen Machtverschiebungen und insbesondere Deutschlands «Germany first»-Politik sind dafür verantwortlich.

Stephan Bierling 138 Kommentare
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Als die Selbstverständlichkeit der transatlantischen Kooperation schwand, hätten die USA und Europa alles daransetzen müssen, der Partnerschaft neues Leben einzuhauchen.

Als die Selbstverständlichkeit der transatlantischen Kooperation schwand, hätten die USA und Europa alles daransetzen müssen, der Partnerschaft neues Leben einzuhauchen.

Christian Hartmann / Reuters

Donald Trump war während seiner vierjährigen Präsidentschaft an vielem schuld, aber nicht an allem. In den transatlantischen Beziehungen sogar an weniger, als ihm die Politik und viele Medien in Europa zuschieben. Natürlich haben sein konfrontativer Stil, seine aggressive Sprache und sein Bruch mit diplomatischen Normen das Verhältnis unnötig belastet. Sein Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen und seine Kündigung des Atomdeals mit Iran waren Fehler, weil sie schwer erkämpfte Kompromisse zerstörten. Doch Trump machte es den Europäern und Deutschen auch leicht, weil er wegen seines selbstherrlichen Auftretens so verhasst wie keiner seiner Vorgänger war und sie deshalb die Verantwortung für alle negativen Entwicklungen auf ihn abwälzen konnten.

Dabei hatten sich die transatlantischen Beziehungen schon seit 1991 verschlechtert. Dies war keineswegs überraschend, denn die enge Zusammenarbeit in den Jahren des Kalten Kriegs ging auf die sowjetische Bedrohung zurück: Während vier Jahrzehnten verschmolz das globale Interesse der Weltmacht USA, Moskau einzudämmen, mit dem regionalen Interesse Westeuropas. Mit dem Kollaps der Sowjetunion ging diese Ausnahmephase zu Ende.

Fokus auf Binnenprobleme

Und so kam es: Die USA fokussierten sich auf neue weltpolitische Herausforderungen, nach Saddam Husseins Kuwait-Annexion und infolge der islamistischen Terrorattacken von 9/11 zunächst auf den weiteren Mittleren Osten, später mit dem rapiden Machtzuwachs Chinas auf Ostasien. Die EU und Deutschland konzentrierten sich darauf, ihre unmittelbare Nachbarschaft zu stabilisieren und die Union zu vertiefen. Die hohen Kosten der Interventionen im Irak und in Afghanistan, die Finanz- und Euro-Krise sowie die Massenmigration führten dazu, dass sich beide Seiten immer mehr auf ihre Binnenprobleme fokussierten. In einer gefährlichen und unübersichtlichen Welt kehrten Nationalismus und Isolationismus als treibende Kräfte der Innen- und Aussenpolitik zurück. Die Wahl Trumps war ebenso wie der Brexit Ausdruck, nicht Auslöser dieser Entwicklungen.

Als die Selbstverständlichkeit der transatlantischen Kooperation schwand, hätten die USA und Europa alles daransetzen müssen, der Partnerschaft neues Leben einzuhauchen. Dabei versagte insbesondere Deutschland. Washington stellt für die Bundesrepublik nämlich essenzielle «kollektive Güter» zur Verfügung: militärischen Schutz durch die bei ihr stationierten Truppen, die Organisation der kollektiven Verteidigung im Rahmen der Nato und den Nuklearschirm; offene Märkte und Sicherheit der globalen Transportwege ermöglichen es der Bundesrepublik zudem, mehr zu exportieren als jedes andere Land vergleichbarer Grösse, und garantieren damit einen enormen Wohlstand.

Klug wäre es also für Deutschland, sich den USA als verlässlicher Partner zu erweisen und aktiv am Erhalt der von ihnen etablierten internationalen Ordnung mitzuwirken. Deutschland verfolgte in vielen Fällen allerdings eine «Germany first»-Politik, lange bevor Trump 2015 den Begriff des «America first» zu seinem Motto machte. Damit stellte Deutschland enge wirtschaftliche und wahltaktische Interessen über multilaterales Vorgehen.

«Bad, very bad»

So scheiterte das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP, von Angela Merkel und Barack Obama 2013 lanciert, nicht primär an seinem komplexen Inhalt, sondern an mangelnder Führung der Bundesregierung. Damit verspielte Berlin die vielleicht letzte Chance für eine Generation, mit einem Freihändler im Weissen Haus einen solchen Vertrag zu schliessen und so gemeinsam einem zunehmend übermächtigen China entgegenzutreten.

Hinzu kommen die gigantischen Leistungsbilanzüberschüsse. 2019 sammelte Deutschland zum vierten Mal nacheinander das höchste Plus in der Welt an und lag mit 276 Milliarden Dollar weit vor Japan und China. Grund dafür ist die starke deutsche Exportindustrie, per se eine positive Sache. Normalerweise wären solche Überschüsse ökonomisch vernachlässigbar, weil sie in einem System freier Wechselkurse den Wert der eigenen Währung ansteigen liessen und sich in der Folge automatisch reduzierten. In einer Währungsunion ist dies allerdings unmöglich. Im Gegenteil hält die EZB mit ihrer hyperexpansiven Geldpolitik den Euro schwach und feuert damit deutsche Ausfuhren weiter an.

Die Folge: Die Bundesrepublik produziert mehr, als sie konsumiert, und schafft auf diese Weise zu Hause Arbeitsplätze auf Kosten der Defizitländer. Dies stiess nicht nur bei Trump auf massive Kritik, sondern auch beim Internationalem Währungsfonds, bei der Europäischen Kommission, bei Emmanuel Macron, Giuseppe Conte und Co. Der US-Präsident mag die Deutschen öffentlich als «bad, very bad» brandmarken, aber viele Staats- und Regierungschefs dürften das Gleiche denken. Trotzdem tut Berlin aus Rücksicht auf starke innenpolitische Interessengruppen zu wenig, um den Binnenkonsum durch Steuersenkungen und Deregulierungen anzukurbeln und das Problem damit abzumildern.

Noch deutlicher wird die «Germany first»-Politik im Verteidigungsbereich. In der Abschlusserklärung des Nato-Gipfels in Wales im Jahr 2014 verpflichteten sich die 28 Mitglieder der Allianz, angesichts neuer Bedrohungen den Anteil ihrer Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandprodukt innerhalb von zehn Jahren auf 2 Prozent zu erhöhen. Von den europäischen grossen drei – Frankreich, Grossbritannien, Deutschland – lag Berlin damals mit 1,1 Prozent auf dem letzten Platz; bis 2019 stieg der Wert auf gerade einmal 1,3 Prozent. Nach fünfzehn Jahren von einer CDU-Kanzlerin und fünf CDU/CSU-Verteidigungsministern befindet sich die Bundeswehr in einem desolaten Zustand und kann den Verbündeten im Ernstfall kein verlässlicher Partner sein. Auch hier gilt: In Anbetracht der geringen öffentlichen Unterstützung für Rüstungsausgaben ging Berlin den egozentrisch-nationalen, nicht den aufgeklärt-gemeinschaftlichen Weg.

Deutscher Trumpismus vor Trump

Schliesslich Nord Stream, die deutsch-russische Gaspipeline durch die Ostsee: Mit dem noch von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) nach seiner Abwahl 2005 unterzeichneten Projekt vertiefte Berlin über die Proteste wichtiger Partner hinweg Sonderbeziehungen zu Moskau. Anstatt sich von dieser kontroversen Politik zu verabschieden, hielten alle Nachfolgeregierungen unter Merkel daran fest. 2013 genehmigte eine CDU/CSU/FDP-Koalition sogar ein Verdoppeln der Pipeline-Kapazitäten. Damit unterlief Deutschland zum einen Bemühungen um eine integrierte europäische Energiepolitik. Zum anderen kompromittierte es die Sicherheit mittelosteuropäischer EU- und Nato-Mitglieder und schwächte die ohnehin prekäre Sicherheitslage der Ukraine weiter. Das war Trumpismus lange vor Trump: eigenen Firmen ökonomische Vorteile verschaffen, unangenehme bündnispolitische Fragen ignorieren, die legitimen Interessen von Partnern und schwächeren Staaten übergehen.

Wo der amerikanische Präsident jedoch sein Credo von «America first» hinausposaunt, verschleiert Berlin seinen Alleingang bis heute mit Begründungen wie: Es handele sich bei Nord Stream um ein reines Wirtschaftsprojekt, und man wolle Russland durch ökonomische Verflechtung an sich binden und nicht in die Arme Pekings treiben. Dies ist widersprüchlich und angesichts von Russlands Überfall auf die Ukraine, seiner Mordanschläge auf Dissidenten im Westen und seines Cyberkriegs gegen die Demokratie aus der Zeit gefallen.

Der Unwille zu strategischem Denken ist das Grundübel der deutschen und damit zwangsläufig der europäischen Aussenpolitik seit dem Ende des Kalten Kriegs. Die Bundesrepublik brüskiert die USA, den Dreh- und Angelpunkt ihrer Sicherheit, aber auch ihren engsten Verbündeten Frankreich. Der Preis dafür steigt täglich: Für keines der vier erwähnten selbstgeschaffenen Probleme gibt es heute leichte Lösungen, zu lange und zu tief haben sie sich ins Gewebe der deutschen Aussenpolitik gefressen. Bleibt die Frage: Wer kann mit den Auswüchsen einer «Germany first»-Politik brechen, wenn Merkels Amtszeit 2021 endet?

Stephan Bierling lehrt Internationale Politik an der Universität Regensburg. Zuletzt erschien von ihm «America First. Donald Trump im Weissen Haus. Eine Bilanz» (Verlag C. H. Beck, München 2020).

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M. M.

Die Fähigkeit zum klaren realpolitischen und strategischen Denken ist in Deutschland durch ideologische Scheuklappen der handelnden Personen verhindert. Warum bezeichnete Außenminister Steinmeier Trump als einen Ha..prediger? Das war kein Schnitzer. Es war tiefste Überzeugung. Das Beispiel zeigt, dass Steinmeier kein kühler Realpolitiker ist, der seine Emotionen im Griff hat, sondern ein Ideologe. Trump vertritt diametral gegenüberliegende Werte zu Steinmeier. Steinmeier wurde bekanntlich in den 70er Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet. Aus Gründen… Warum nahm Steinmeier die unselige Tradition wieder auf (die Köhler abgeschafft hatte), den Mullahs jährlich zur islamischen Revolution zu gratulieren und zeigte sich bockig, als er kritisiert wurde? Ich vermute, weil die Mullahs die Intimfeinde der Amerikaner sind… Warum hat Merkel dem neu gewählten amerikanischen Präsidenten Trump in einem Telefongespräch die Demokratie „erklärt“? So ein Affront auf höchster politischer Ebene kann nur aus einer tiefen inneren Gewissheit entstehen, weil man sich ideologisch/moralisch in einer höheren, „besseren“ Liga wähnt. Warum schweigen die deutschen Medien? Merkel hat sich während ihrer langen Herrschaft eine Hofberichterstattung aufgebaut. Wer als Journalist nicht spurt (nicht „brav“ ist) fliegt raus. Hinzu kommen Geldmittel (1 Mrd. Euro) für den „Kampf gegen Rechts“. Da wollen die finanziell gebeutelten Medien auch was abhaben vom Kuchen. Also, was macht man dann? Etwa Kritik üben?

K. M.

Es gibt wirklich kein Land dieser erde, dass seine eigenen Interessen derartig mißachtet und gegen das eigene Volk und die Landesinteressen regiert wird, wie Deutschland. Daraus ein "Germany First" zu konstruieren, ist fast schon absurd komisch, wenn es nicht so traurig ist. Die deutsche Weigerung, endlich den vereinbarten Natobeitrag zu leisten und die Verteidigung selbst zu leisten, ist kein Germany First, sondern ein Germany Last, weil damit andere über die Sicherheit und Handlungsfähigkeit dieses Landes bestimmen und nicht die deutsche Regierung. Auch das ist im Sinne der grünen Ideologie. Die Bundeswehr wird auch mit viel Geld nicht einsatzbereiter, weil das politisch nicht gewollt ist. Die wenigen guten Verbände, wie KSK oder ähnliches, die werden mit der Nazikeule zerschlagen. Der Rest erstickt an sinnfreien Regeln für Beschaffung, Betrieb und Einsatz. Eine Regierung, die es zuläßt, dass deutsche Versorgungswege in Afghanistan nicht durch Scharfschützen verteidigt werden dürfen, setzt bewußt und gezielt die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr und das Leben unserer Soldaten auf´s Spiel. Überall, wo man Führung beweisen müsste, läßt sich Deutschland abhängen oder verheddert sich unrettbar in hypermoralisierender Empörung. Deutschland ist alles andere als "First".

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