Gastkommentar

Gesundes Selbstbewusstsein, gelebte Vielfalt – Identität und Diversität dürfen nicht zu Kampfbegriffen verkommen

Die Begriffe Identität und Diversität sind Schlüssel zum Verständnis der Gesellschaft. Wo alles immer uniformer wird, entsteht ein natürliche Drang zum Selbst- und Anderssein. Problematisch wird es da, wo Abgrenzung aggressiv auf Kosten der Verständigung geht.

Florian Coulmas 68 Kommentare 6 min
Drucken

«Identitär» ist heute ein Schimpfwort. Wieso? Nur die Endung macht das. Identität wird nach wie vor als etwas Positives, ja immer mehr als etwas Unabdingbares angesehen. In der individualistischen Gesellschaft der Gegenwart muss man wissen, wer man ist. Identitäre Bewegungen missbrauchen den Begriff, um andere auszuschliessen: Wir sind wir, und diese oder jene gehören nicht dazu.

Das Beharren auf der eigenen Identität beschäftigte die Gesellschaft nicht immer und nicht überall. In asiatischen Kulturen etwa war Identität lange kein Thema. In China wurde sie nie intensiv diskutiert. In Japan musste man das Wort aus dem Englischen entlehnen, um darüber zu reden. Und in Indien, wo Hindus und Muslime bis zur Teilung des Landes 1947 mehr oder weniger friedlich beieinanderlebten, kam Identität erst im Namen des Nationalismus in den öffentlichen Diskurs.

Damit ist einer der Pfeiler benannt, auf denen das ideologische Gebäude der Identität ruht. Man findet ihn praktisch überall, denn er betrifft die politische Weltordnung, ihre Einteilung in Nationalstaaten. 55 waren es bei der Gründung der Uno 1946, heute sind es 193.

Der Ausbau dieses Systems ist blutgetränkt. Wenn man nach Afrika (Kenya, Burundi, Südsudan), Asien (Bangladesh, Osttimor, Kambodscha) und auch nach Europa, etwa auf den Balkan, blickt, um jeweils nur einige Konflikte zu nennen, zeigt sich, dass neue Nationalstaaten nur selten gewaltfrei entstanden sind. Eingeräumt werden muss allerdings, dass Loyalität zum eigenen Land nicht zwangsläufig Gewalt gegen andere mit sich bringt.

Der Stolz der Herabgewürdigten

Zudem wird die Trommel der Identität nicht nur von Nationalisten geschlagen. Erinnern wir uns etwa an «Black is beautiful». Das war ein Slogan, der in den sechziger Jahren in den USA aufkam, als das Land noch sehr viel rassistischer war als heute. 1965 erst erhielten Schwarze (und andere Minderheiten) Wahlrecht.

Hautfarbe beziehungsweise Rasse war das damals prominenteste Kriterium der Diskriminierung. Um sich dagegen zu wehren, gaben Aktivisten dieses Motto aus, das dazu aufforderte, aus Scham Stolz zu machen. Dass man auf etwas stolz sein kann, wofür man nichts getan hat, kann man nur vor dem Hintergrund verstehen, dass Menschen wegen einer Eigenschaft herabgewürdigt werden, für die sie auch nichts getan haben.

Sprachlicher Purismus wird leicht zu einem Pendant von Rassismus.

Das macht die Diskussion über Identität kompliziert, denn Identität ist nicht gleich Identität. Für die Betonung der Identität der Unterdrückten kann man leichter Sympathie aufbringen als für die der Unterdrücker. Von menschlichen Rassen wissen wir, dass sie nur als soziale, aber nicht als biologische Phänomene existieren. Da sie sich aber dafür eignen, Menschen abzustempeln, kann man den Rassismus als weiteren Stützpfeiler des Identitätsdiskurses nicht einfach als lächerlich beiseiteschieben.

Und wieder gibt es hier Verwicklungen, die nicht leicht aufzulösen sind. Der Ausdruck «alte weisse Männer» – auch er kommt aus den USA – sieht zunächst nach umgekehrter Diskriminierung aus. Wenn man aber weiss, dass selbst Algorithmen Denkweisen und Handlungsmuster von Personengruppen reflektieren, die sie grösstenteils programmiert haben – zumeist eben weisse Männer –, ist er mehr als nur eine Beleidigung. Vielleicht ohne bösen Willen haben sie in manchen gesellschaftlichen Kontexten für Verzerrungen und Benachteiligungen im System gesorgt, die es zu korrigieren gilt.

Womit eine weitere Komponente der Identität benannt ist: Geschlecht. Ursprünglich getrieben von der feministischen Gleichberechtigungsbewegung, tritt sie heute vor allem unter der Regenbogenfahne der LGBTQ-Gemeinschaft in Erscheinung, die sich nicht mehr verstecken will, wozu sie in westlichen Gesellschaften lange gezwungen war.

Beide, die feministische und die LGBTQ-Bewegung, operieren an der Schnittstelle von natürlichen und kulturellen Unterschieden. Dass es ein natürliches Geschlecht gibt, stellen die meisten Feministinnen nicht infrage, aber sie betonen die soziokulturelle Rollenzuweisung einerseits und den fliessenden Charakter des Unterschieds zwischen den Geschlechtern und der geschlechtlichen Orientierung andererseits. Aus der in Stein gehauenen Identität wird dadurch eine Variable.

Nationales Symbol

Hinzu kommen dann noch Sprache und Religion. Die Stilisierung von Sprachen als Nationalsprachen, die in Europa im Zuge der Institutionalisierung der Schulpflicht vollzogen wurde, machte Sprache zu einem Lieblingsinstrument der Nationalisten. Sprache wird dabei nicht als Mittel der Verständigung verstanden, sondern als nationales Symbol, wie unlängst eine Initiative der rechten italienischen Regierung veranschaulichte. Ministerpräsidentin Meloni schlug vor, die Verwendung nichtitalienischen – speziell englischen – Wortguts in offiziellen Dokumenten mit Bussgeldern bis zu 100 000 Euro zu bestrafen und in der Verfassung Italienisch als Nationalsprache der Republik auszuweisen.

Sprachlicher Purismus ist hier das Pendant zu Rassismus. Man stösst vor allem in konfliktträchtigen Regionen darauf wie zum Beispiel in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, wo es einst eine Sprache gab, Serbokroatisch. Das berühmte Abkommen von Dayton von 1995, das der Gewalt nach Zerbrechen des jugoslawischen Staates (ein bisschen) Einhalt gebot, ist ausser auf Englisch auf Bosnisch, Serbisch und Kroatisch verfasst, obwohl die drei Sprachen interkommunikativ sind. Wiederum Abgrenzung statt Verständigung.

Religion schliesslich eignet sich dafür auch sehr gut. Obwohl sich Religionen in der Regel zum Frieden bekennen, kommt es nicht selten vor, dass Menschen im Namen Gottes – oder sollte man sagen: im Namen der Identität? – getötet werden, wie etwa die muslimischen Rohingya im mehrheitlich buddhistischen Myanmar.

Länder als politische Einheiten, Hautfarbe und Rasse, Geschlecht, Sprache und Religion gibt es schon länger, als wir zurückdenken können. Was haben diese Merkmale gemeinsam und macht sie heutzutage zu so wichtigen Erkennungszeichen von Identität?

Um das zu verstehen, muss ein weiterer Kampfbegriff in Betracht gezogen werden: Diversität. Vielfalt bedeutet dasselbe, hat aber keinen politischen Beiklang. Wie Identität kommt er im politischen Zusammenhang aus den USA, einem Einwanderungsland, das seit seiner Gründung mit Widersprüchen zwischen hohen Idealen und der rauen Realität ringt. Dass etwa die Gründerväter Sklaven hielten, hinderte sie nicht daran, in die Unabhängigkeitserklärung zu schreiben, dass «alle Menschen gleich geschaffen sind und von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräusserlichen Rechten ausgestattet sind».

Ein zweischneidiges Schwert

Heute kreist der politische Diskurs nicht mehr um Gleichheit, sondern um Diversität, die es im Interesse der Identität aller Gruppen und aller Individuen zu bejahen gilt. Das Gleichheitspostulat demokratischer Gesellschaften ist nicht vergessen, ist aber mit oftmals extremer wirtschaftlicher Ungleichheit offenkundig nicht vereinbar – auch wenn die britische Innenministerin Suella Braverman Obdachlosigkeit kürzlich als einen «gewählten Lebensstil» bezeichnete.

Deshalb spricht man heute lieber über Diversität. Alle sollen so leben können, wie sie wollen, und sich dabei gern auf ihre Identität besinnen. Dabei darf der Unterschied zwischen der Identität der Schwachen und derjenigen der Starken nicht übersehen werden, was Identität zu einem zweischneidigen Schwert macht.

Im Zusammenhang mit der Identitätspolitik betont der differenzierte Diskurs die veränderlichen Aspekte von Identität, die in soziohistorischen Kontexten immer wieder neu ausgeformt werden, während der plakative Diskurs unser unwandelbares Erbe aus uralten Zeiten betont, das es gegen Verunreinigung zu beschützen gilt. Letzterer eignet sich für Populismus, der hinter der Pflege einer wertvollen Tradition, gegen die ja niemand etwas haben kann, Xenophobie und Rassismus verbirgt.

Populisten kümmert es wenig, dass menschliche Gesellschaften, solange sie noch ausserhalb der Archive existieren, sich immer verändern, namentlich durch Bevölkerungsbewegungen. In dem Masse, wie die ethnische, sprachliche, religiöse Vielfalt westeuropäischer Länder im Zuge des demografischen Wandels im letzten halben Jahrhundert zugenommen hat, ist Identität ein immer prominenteres politisches Thema geworden, sowohl unter jenen, die für ihre Kultur, ihre Sprache und ihre Religion einen Platz in der Mehrheitsgesellschaft suchen, als auch bei jenen, die sie draussen halten wollen.

Appelle, diese Differenzen hinzunehmen beziehungsweise sich im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens über sie hinwegzusetzen, hört man im Zeitalter der Identität bedauerlicherweise immer seltener.

Florian Coulmas ist emeritierter Professor für japanische Gesellschaft an der Universität Duisburg-Essen.

68 Kommentare
A. H.

Wieso ist denn "identitär" erst entstanden und damit die Erstarkung der Rechtspopulisten vor allem in Europa? Das ist ja absolut nachvollziehbar, weil immer mehr Menschen sich in diesem ganzen Multikulti, Genderfludidität, Wirtschaftsmigration und Islamisierung nicht mehr zurechtfinden und sich zurecht auch als Dumme vorkommen. Dazu kommt die Pervertierung unseres Rechtsstaates, der einerseits stringent gegen die "alteingesessenen" Bürger angewandt wird, ohne wenn und aber! Andererseits bei Asyl- und Wirtschaftsmigration oft beide Augen zudrückt und abgewiesene Asylanten nicht wegweist, bei Kleinkriminalität und Verbechen von Asylsuchenden wegschaut, gleich Sozialleistungen an Migranten zahlt, wie jemand der Jahrzehnte hier gearbeitet hat, die Islamisierung zulässt und Mehrfachehen, auch mit Minderjährigen, öfters toleriert. usw.  Die Politik versucht nun verzweifelt den unaufhaltsamen Trend hin zu den Rechtsnationalen aufzuhalten, indem sie endlich gecheckt hat, was die Menschen entfremdet und wütend zurückgelassen hat! Ob das gelingt, ist eher fraglich, da die "Linksidentitären" (oder Grünlinken) sich leider zu stark etabliert haben und dieser Trend der Zuarbeitung für die Rechtspopulisten kaum mehr gestoppt werden kann. 

Achim Meister

Wenn Gesellschaften durch Massenimport anderer Ethnien, Religionen oder vergleichbarer Massenidentitäten quantitativ verändert werden, werden sie auch qualitativ verändert. Damit steigt das Konfliktpotenzial und die Gefahr gewaltsamer Auseinandersetzungen. Auch Resentiment, Ablehnung und Ausgrenzung werden nicht etwas abgebaut, sondern kumulieren bis zur Instabilität der Gemeinwesen. Jeder, der Diversität in einer Gesellschaft befürwortet, sollte deshalb darauf achten, dass die Einwanderung auf kleine Zahlen begrenzt wird und vor allem auch keine größeren homogenen Gruppen von anderen ethnischen oder religiösen Gemeinschaften zugelassen werden, um Parallelgesellschaften zu vermeiden.