Kommentar

Von wegen Politikverdrossenheit! Für die Wahlen vom Herbst kandidieren so viele Personen wie noch nie

Politiker in der Schweiz fühlen sich gemäss einer Umfrage bedroht, angefeindet und schlecht bezahlt. Gleichzeitig drängt es immer mehr Leute ins nationale Parlament. Wie geht das zusammen?

Daniel Fritzsche 24 Kommentare 3 min
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Für Bundesbern gibt es einen Überschwang an Kandidaten, auf lokaler Ebene hapert es vielerorts.

Für Bundesbern gibt es einen Überschwang an Kandidaten, auf lokaler Ebene hapert es vielerorts.

Gian Ehrenzeller / Keystone

Der schlimmste Beruf der Schweiz? Das muss jener des Politikers sein. Zu diesem Schluss kommt man, wenn man diese Woche die Berichterstattung über eine Umfrage der Tamedia-Zeitungen gelesen hat.

Über 20 000 Parlamentarier auf lokaler, kantonaler und nationaler Ebene wurden angeschrieben, 2000 von ihnen beteiligten sich an der Befragung. Repräsentativ ist das nicht, trotzdem reichte es für dicke Schlagzeilen: «Morddrohungen, Hausbesuche, Hassmails: Parlamentsmitglieder werden schweizweit im grossen Stil angefeindet», hiess es da. Ein Viertel der Volksvertreter habe schon persönliche Angriffe erlebt.

Die gehässigen Rückmeldungen sind das eine, die offenbar miserablen Arbeitsbedingungen das andere. Die Löhne der Parlamentarier seien mager, die Wertschätzung für ihre Tätigkeit sei gering, die zunehmende Polarisierung belastend. Kein Wunder, machten sich allmählich Nachwuchssorgen breit. Tatsächlich fragte man sich nach der Lektüre: Wer will sich einen solchen Knochenjob noch antun?

Die Antwort: sehr, sehr viele. Das zeigen keine Umfragen, sondern offizielle Zahlen. Zumindest das nationale Parlament scheint ein äusserst begehrtes Ziel zu sein. Im Kanton Zürich beispielsweise bewerben sich bei den Nationalratswahlen vom Herbst nicht weniger als 1341 Kandidatinnen und Kandidaten für gerade einmal 36 Sitze. Das ist ein Höchstwert.

Die dicke Haut gehört zum Jobprofil

Auch in anderen Kantonen ist die Rede von einem regelrechten «Ansturm auf Nationalratssitze». In Bern sind es 776 Kandidaturen für 24 Sitze, im Aargau 713 für 16. Rekordhohe Werte gibt es auch in kleineren Kantonen. Auch wenn die Listenflut vor allem wahltaktische Gründe hat, wäre es angesichts dieser Zahlen völlig falsch, von einer generellen Politikverdrossenheit zu sprechen.

Auch die Sorge, dass sich die Jungen von der institutionellen Politik abwenden, scheint mit Blick auf die Wahllisten unbegründet. In Zürich beispielsweise ist rund ein Zehntel der Kandidaten im 21. Jahrhundert geboren. Für Nachwuchs sollte also gesorgt sein.

Begrüssenswert für eine lebhafte Demokratie ist es auch, dass neue Gruppierungen hinzugekommen sind, die sich zum Teil an Personen richten, die sich zuvor selten aktiv eingebracht haben. Zu erwähnen wären etwa die Corona-Massnahmen-Kritiker von Mass-voll oder Aufrecht – was immer man von deren Positionen halten mag.

Trotz dieser generell positiven Entwicklung darf man Gewisses nicht verschweigen und verniedlichen: Angriffe auf Amtspersonen sind eine Tatsache und gehören ab einem gewissen Schweregrad resolut und strafrechtlich verfolgt. Die Instrumente dafür sind vorhanden. Mit einfachen Beleidigungen, mit Kritik – auch wenn sie unflätig formuliert ist – müssen Parlamentarier aber umgehen können. Die dicke Haut gehört zum Jobprofil.

Mit Interesse wird zu verfolgen sein, wie die Zürcher Justizdirektorin Jacqueline Fehr das vermeintliche oder tatsächliche Problem anzugehen gedenkt. Diese Woche kündigte sie ein «Projekt» an, mit dem Politikerinnen und Politiker unterstützt werden sollen. Wer ständig Zeit aufwenden müsse, um für die eigene Sicherheit zu sorgen, habe weniger Musse für die politische Arbeit und ermüde rascher, sagte Fehr. Dagegen müsse man etwas unternehmen. Was genau, wird man sehen. Zu befürchten ist, dass eine weitere staatliche, teure Lösung resultiert, die es nicht wirklich braucht.

Weiter unten wird es schwieriger

Bedenkenswert ist auch, dass es für die gut bezahlten, nationalen Ämter zurzeit zwar einen Überfluss an willigen Kandidaten gibt. Je tiefer die Staatsebene, desto schwieriger wird es aber. Das zeigte zuletzt das Gemeindemonitoring 2021, wonach die Hälfte aller Schweizer Gemeinden ernsthafte Mühe hat, Kandidatinnen und Kandidaten für ihre Ämter zu finden. Auch die Horte der direkten Demokratie – die Gemeindeversammlungen – verlieren kontinuierlich an Bedeutung; sie werden anteilsmässig von immer weniger Personen besucht.

Anstatt nach den vermeintlichen Sternen in Bundesbern zu greifen, die für die allermeisten ohnehin nicht erreichbar sind, sei manchem Neuling auf den Wahllisten vom Herbst daher empfohlen: Lanciert eure Politkarriere in eurer Wohngemeinde! Dort werdet ihr gebraucht.

24 Kommentare
Jürg Keller

Das geht durchaus zusammen: Politik hat ihre Seriosität verloren, damit ihren Anspruch auf Kompetenz, womit die Hemmschwellen für Kandidierende vermutlich ganz wegfielen. Man muss ja nur noch eine Meinung  haben, die Begründung wird entweder von der Parteizentrale geliefert oder ist auch gänzlich überflüssig!  Nein, Herr Fritzsche, diese Kandidatenschwemme ist ein weit schlimmeres Zeichen als Politikverdrossenheit, nämlich ein Hinweis auf eine galoppierende Inflation bei unserem Politikniveau. Quo vadis Helvetia?

Marcel Truffer

CHF 12'000 monatlich für einen Teilzeitjob würde die Mehrheit unserer Parlamentarier in der Privatwirtschaft mangels Qualifikation niemals bekommen. Das ist der einzige und wahre Grund, weshalb so viele nach Bern drängen. Sich dann bei der Presse über Kritik "ausweinen", ist nur noch peinlich.