Gastkommentar

Schockstarre und grosses Verstummen – wie kann es nach dem 7. Oktober mit dem interreligiösen Dialog weitergehen?

Der interreligiöse Dialog zwischen Christentum, Judentum und Islam war in seiner Substanz schon zuvor umstritten, mit dem Pogrom der Hamas gegen die israelische Zivilbevölkerung ist er gänzlich in die Krise geraten. Nun hängt ihm die Politik wie ein Klotz am Bein.

Christian M. Rutishauser 61 Kommentare 6 min
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Religion und Politik sind wohl nirgendwo so sehr verknäuelt wie im Nahost-Konflikt. – An der Klagemauer in Jerusalem.

Religion und Politik sind wohl nirgendwo so sehr verknäuelt wie im Nahost-Konflikt. – An der Klagemauer in Jerusalem.

Funke / Imago

Der Nahostkonflikt ist zunächst ein politischer Konflikt. Seit den siebziger Jahren wird er jedoch mehr und mehr religiös aufgeladen. So ist der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober auf israelische Bürger nicht nur politisch zu erklären. Er reiht sich in die Geschichte der Pogrome gegen die Juden ein und ist klar antisemitisch. Juden haben höchstens als muslimische Untertanen im Vorderen Orient zu leben. Darin ist die Hamas-Ideologie unzweideutig.

Auch auf jüdischer Seite wurde die Siedlungspolitik seit 1967 zunehmend religiös unterfüttert. Die nationalreligiöse Siedlerbewegung, die heute in der Regierung Netanyahu sitzt, ist jüdisch-messianisch ausgerichtet und bereit, im Westjordanland mit Gewalt gegen ansässige Palästinenser vorzugehen.

Im Nahostkonflikt kann das Zusammenspiel von Religion und Politik nicht geleugnet werden. Im Westen stellt sich zudem die Frage, welche Auswirkungen der Konflikt auf den Dialog zwischen Juden, Christen und Muslimen hat. Was bedeutet es, wenn die israelische Schriftstellerin Michal Govrin sagt, früher hätten die Juden einen gelben Stern tragen müssen, seit dem 7. Oktober aber würde ihnen weltweit ein blauer Stern aufgedrückt?

Harte Arbeit

Immer wieder seit der Jahrtausendwende ist der interreligiöse Dialog in die Kritik geraten: Er verwässere nicht nur die Glaubenssubstanz der Religionsgemeinschaften, sondern sei auch gesellschaftlich irrelevant. Der Dialog gebe sich mit dem billigen Konsens des kleinsten gemeinsamen Nenners zufrieden, benenne die Differenzen und die Schlagseite der Religionsgemeinschaften nicht und spreche einer naiven, multikulturellen Gesellschaft das Wort.

Dass Dialog zwischen Juden, Christen und Muslimen, wo er ernsthaft geführt wird, harte Kommunikations- und Vermittlungsarbeit auf zivilgesellschaftlicher Ebene darstellt, wird dabei übersehen. Vor allem ist aus dem Blick geraten, dass gerade die Shoah der Auslöser für den interreligiösen Dialog war. In den Jahrzehnten nach dem Krieg war er eng mit Bürgerrechtsbewegungen verknüpft, zumal in den USA.

Die Trennung zwischen interreligiösem Dialog und politischem Agieren darf als bewusstes, strategisches Vorgehen verstanden werden.

Auch die Seelisberg-Konferenz von 1947 war keine interreligiöse Konferenz, sondern diente der Bekämpfung des Antisemitismus. Ihr Zehn-Punkte-Programm zum Dialog von Juden und Christen, das berühmt werden sollte, entstammte der Kommission drei, während sich die anderen vier Kommissionen mit Fragen der Politik, der Erziehung, der Medien und der Kriegsflüchtlinge befassten.

Als das Zweite Vatikanische Konzil die Judenfrage aufnahm, entfesselte sich ein innerkirchliches Ringen, da die Bischöfe aus den arabischen Ländern befürchteten, die Kirche lasse sich von den Juden und vom Zionismus missbrauchen. Das Konzilsdokument «Nostra aetate» verurteilte schliesslich den Antisemitismus explizit, doch beschränkte sich darauf, das Judentum als Religion anzusprechen. Einzelne Theologen forderten jedoch, dass das jüdische Volk auch mit seinem Selbstbestimmungsrecht im Land Israel anerkannt werde.

Die Bischofskonferenzen von Frankreich und den USA äusserten sich zudem vorsichtig positiv zum Zionismus. Doch der Vatikan unterstrich in seiner Instruktion von 1985, Land und Staat Israel dürften nur völkerrechtlich und profan-geschichtlich gedeutet werden. Der interreligiöse Dialog wurde klar von der aktuellen Politik abgekoppelt, auch wenn die Aufarbeitung der Shoah weiterhin am Horizont blieb. Diese Position lag im Trend mit der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung, die mit einer Verselbständigung von gesellschaftlichen und religiösen Diskursen in jenen Jahren einherging. Auch die Antisemitismusforschung löste sich vom religiösen Kontext.

Israel als Chefsache

Gerade die Trennung von Religion und Politik ermöglichte es dem Vatikan, mit Israel eine diplomatische Beziehung aufzunehmen und auch mit der palästinensischen Autonomiebehörde zu verhandeln. Der Heilige Stuhl agiert dabei als Völkerrechtssubjekt. Die Beziehung zu Israel/Palästina wurde zur Chefsache. Seit dem Schuldbekenntnis von Johannes Paul II. angesichts des christlichen Antijudaismus an der Klagemauer in Jerusalem sind denn auch Papst Benedikt und Papst Franziskus jeweils kurz nach Amtsantritt zu einem Staatsbesuch nach Israel aufgebrochen. Beide haben auch Auschwitz besucht.

Doch spätestens seit dem 50-Jahr-Jubiläum von «Nostra aetate» stellt sich die Frage erneut, wie der jüdisch-christliche Dialog mit der aktuellen politischen Situation in Nahost zusammengeht. 2015 veröffentliche der Vatikan nämlich ein wichtiges Dokument zur jüdisch-christlichen Beziehung, nahm dabei jedoch mit keinem Wort auf Land und Staat Israel Bezug. Drei Jahre später schob Papst emeritus Benedikt einen Aufsatz nach, in dem er das zionistische Projekt weiterhin als Phänomen der Säkulargeschichte deutete, die Diaspora aber theologisch als Ort des Judentums in der Geschichte bestimmte.

Die vatikanischen Bemühungen um Vermittlung seit dem 7. Oktober liegen beim Papst und beim Staatssekretär Parolin. Beide haben den Antisemitismus wiederholt verurteilt und zu Frieden durch Gerechtigkeit aufgerufen. Die humanitäre Lage steht für sie im Vordergrund. Papst Franziskus führte mit Angehörigen der jüdischen Geiseln wie mit Vertretern der palästinensischen Bevölkerung in Gaza Gespräche. Im Hintergrund laufen auch diplomatische Bemühungen. Dabei schimmert ein grösseres Verständnis für die Palästinenser durch.

So wurde in den Medien diskutiert, ob Papst Franziskus tatsächlich das Wort Genozid für Israels Vorgehen im Gazastreifen verwendet habe. Parolin hat den Hamas-Terror aufs Schärfste verurteilt, die Bombardierung Gazas durch Israel aber drastischer als Blutbad und Gemetzel bezeichnet, ohne den Konnex zwischen der Hamas-Terror-Strategie und der Selbstverteidigung der Israeli zu thematisieren. Auffallend ist auf jeden Fall, dass sich Kardinal Koch, zuständig für die religiösen Beziehungen zum Judentum, nicht äussert. Theologische und religiöse Reflexionen sollen wohl bewusst keine Rolle spielen. Die Trennung zwischen interreligiösem Dialog und politischem Agieren darf als bewusstes, strategisches Vorgehen verstanden werden.

Auch die zahlreichen Akteure im interreligiösen Dialog mussten sich in den letzten Monaten positionieren. Die dominante postkoloniale Interpretation in linksintellektuellen Kreisen wie auch der muslimische Antisemitismus sorgten für Spannungen.

«Ausgesetzt und vogelfrei»

Das Gespräch zwischen Muslimen und Juden ist vielerorts verstummt. Austritte und Ausschlüsse aus Dialog-Gremien sind zahlreich. Juden und Christen fanden in ihren Dialogstrukturen nach einer ersten Schockstarre eher zusammen. Doch fragen gerade die jüdischen Partner, was die religiösen Bande von Christen und Juden, die in den letzten Jahrzehnten im Dialog oft betont und argumentativ untermauert wurden, nun bedeuteten. Und war die gemeinsame Arbeit zur Bekämpfung des Antisemitismus der letzten Jahrzehnte vergeblich?

Es fällt auf, dass die gegenwärtigen Diskurse zu Friedens- und Sozialethik in Bezug auf den Nahostkonflikt ohne die spezifisch religiösen Implikationen auskommen, die das Heilige Land für Juden, Christen und Muslime je beinhaltet. Juden werden im Land der Bibel als Fremdbevölkerung gesehen. Glaubenszusammenhänge spielen keine Rolle, wenn ethische und humanitäre Fragen diskutiert werden. Davon unabhängig ringen Juden und Christen im Dialog um Interpretationen der biblischen Landverheissung. Sie diskutieren Theologien des Landes, die gerade gegen eine messianische, gewaltbereite und nationale Ideologie stehen.

Doch diese Stimmen werden weder gehört noch mit den sozialethischen Debatten in Verbindung gebracht. Das allgemeine Phänomen, dass sozialethische und theologische Debatten auseinandergebrochen sind, wirkt sich eklatant negativ aus. Dabei fragen sich israelische Juden im Dialog, wie lange sie noch mitreden können, wenn ihnen persönlich mit dem Staat Israel das Existenzrecht entzogen wird. So brachte es die israelische Theologin Karma Ben Johanan kürzlich auf den Punkt: «Wir waren am 7. Oktober einen Tag ohne Staat. Ausgesetzt und vogelfrei kann ich keinen interreligiösen Dialog führen.»

Der interreligiöse Dialog ist ein Phänomen einer offenen, pluralen und demokratischen Gesellschaft. Ob er sich unter veränderten gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen halten kann, ist unsicher. Unabsehbar sind auch noch die Auswirkungen des 7. Oktobers und des Gaza-Kriegs. Sie werden tiefgreifend sein.

Ob und wie sich der noch junge jüdisch-muslimische Dialog entwickelt, wird von starken Protagonisten abhängen. Für den jüdisch-christlichen Dialog wird fortan nicht mehr die Aufarbeitung der Shoah der erste Bezugsrahmen sein, sondern der vielgestaltige Antisemitismus des 21. Jahrhunderts sowie die Frage nach der jüdischen Existenz, die auf globaler Ebene in der polemischen Auseinandersetzung um Israel Urständ feiert. Zudem käme es drauf an, den interreligiösen Dialog und seine theologischen Fragen mit den sozialethischen Diskursen und einer politischen Theologie ins Gespräch zu bringen.

Christian M. Rutishauser ist der Delegat für Hochschulen der Zentraleuropäischen Provinz der Jesuiten. Zusammen mit Barbara Schmitz und Jan Woppowa hat er beim Verlag BTB herausgegeben: «Im Gespräch. Studienhandbuch zum jüdisch-christlichen Dialog».

NZZ Live-Veranstaltung: Wo bist du, Abraham? – Nahost: Krieg und kein Ende
Israels Gründung barg für Juden das Versprechen, dass nach Äonen der Verfolgung eine sichere Heimstatt entstünde. Das Pogrom vom 7. Oktober zeugt vom ewigen Vernichtungswillen nicht nur der Islamisten.
10. April 2024, 18:30 Uhr, NZZ-Foyer, Zürich, und online
Tickets und weitere Informationen finden Sie hier

61 Kommentare
Jürg Keller

Der entchristlichte Westen ist religiös naiv geworden. Er hat die Türe zum Religiösen zugeschlagen und weiss nicht mehr, wie es hinter der Türe zu und her geht. Vom alten Polen her weiss man aber: Juden und Christen können einander in Ruhe lassen, können sachliche Kontakte pflegen,  aber lieben werden sie einander nie. Kommt der Islam noch dazu, wird alles um eine Dimension schwieriger, weil damit das Rechthaberische jeder monotheistischen Religion leicht in Aggression (z.B. bei jungen Männern ) umschlagen kann. Der interreligiöse Dialog ist deshalb entweder ganz oberflächlich oder von der christlichen Seite her ganz naiv. Mehr als ein allgemein gültiger Waffenstillstand ist nicht erreichbar, wobei auch damit der Islam immer seine Mühe haben wird: Er ist in seiner Entwicklung um Jahrhunderte hinter unserer  Zeit geblieben , will aber diesen Rückstand  in die Gegenwart retten. Eine Reformation scheint ihm unmöglich zu sein, und deshalb bleibt er gefährlich. 

Ralf-Raigo Schrader

Ich wüsste nicht, wozu es 'interreligiöse(n) Dialog zwischen Christentum, Judentum und Islam' braucht. Wir müssen uns nicht gern haben, nicht einmal verstehen. Der Konflikt darf gern das Charakteristische sein. Religionen tragen nicht die Schuld daran, politisch instrumentalisiert zu werden. Es wurde noch kein Krieg aus anderen als ökonomischen Gründen geführt, auch wenn Religion als Vorwand diente.