Gastkommentar

Die Ukrainer verteidigen ihr Land und nehmen eigene Opfer in Kauf. Ein gerechter Grund für einen Krieg ist aber kein Freibrief

In Kriegen werden Menschen getötet. Und dennoch schliesst seit Jahrhunderten eine Theorie des gerechten Krieges eine moralische Rechtfertigung von Kriegen nicht aus. Überlegungen angesichts des ukrainischen Verteidigungskriegs.

Uwe Steinhoff 59 Kommentare
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Ukrainische Soldaten erweisen ihrem gefallenen Kameraden die letzte Ehre.

Ukrainische Soldaten erweisen ihrem gefallenen Kameraden die letzte Ehre.

Felipe Dana / AP

So erschreckend dies klingt: Menschen zu töten, kann gerecht sein, selbst in Friedenszeiten. Ein Auftragsmörder ist in keiner Position, sich gegenüber der tödlichen Notwehr eines Verteidigers zu beschweren. Der Angreifer hat eine Situation herbeigeführt, in der jemand sterben musste – er oder sein Opfer –, und damit sein eigenes Recht auf Leben in dieser Situation verwirkt. Diese Rechteverwirkungstheorie legitimer Notwehr hat eine lange Tradition (auch Kant vertrat sie) und ist unter gegenwärtigen sich mit diesem Thema befassenden Ethikern weithin anerkannt.

Die tödliche Verteidigung bleibt auch dann gerecht, wenn sie sich gegen einen «nur» auf Verstümmelung, Vergewaltigung oder Entführung gerichteten Angriff wendet. Der unschuldige Verteidiger muss gegenüber dem rechteverletzenden Angreifer nicht dessen Leben über die Verteidigung eigener fundamentaler Rechte stellen. Das Recht muss dem Unrecht nicht weichen, so lautet ein deutsches Rechtsprinzip. Zwar vertreten verschiedene Rechtssysteme, das deutsche eingeschlossen, dieses Prinzip nicht immer kompromisslos. So darf man einen flüchtenden Apfeldieb selbst dann nicht erschiessen, wenn dies die einzige Möglichkeit ist, ihn am Entkommen mit seiner Beute zu hindern. Freilich dürfen Polizisten sich ihm jedoch in den Weg stellen. Sollte er versuchen, den Widerstand mit Gewalt zu brechen, erlaubt dies wiederum auch tödliche Notwehr zwecks Verhinderung schwerer Rechteverletzungen.

Russische Soldaten bedrohen fundamentale Rechte

Die russischen Soldaten, die in einem von der Uno-Generalversammlung mit deutlicher Mehrheit verurteilten Angriffskrieg in die Ukraine eingefallen sind, bedrohen fundamentale Rechte. Und die ukrainischen Soldaten sind dem Gemeinwohl verpflichtete Vertreter der Staatsgewalt. Tödlicher Widerstand dieser gegen jene ist gerecht.

Aber gilt das auch für offensiven Widerstand, wenn Soldaten, auch einer ungerecht angegriffenen Nation, nicht warten, bis der Feind sich in Position gebracht hat und sich anschickt, das Feuer zu eröffnen? Soldaten versuchen, ihre Feinde möglichst zu überraschen und zu einer Zeit zu attackieren, in der diese selbst nicht angreifen, sondern zum Beispiel ihre Waffen warten, campieren, marschieren oder schlafen.

Ist dies moralisch – und nicht nur durch das Kriegsrecht – gerechtfertigt?

Es gibt zwei Argumentationsfiguren, die dies bejahen. Die eine beruft sich auf Notwehr. So ist es keineswegs Notwehr, wenn man ins Nachbarhaus schleicht und dessen Bewohner im Schlaf erschiesst, um dessen für morgen erwarteten Mordversuch zuvorzukommen. Notwehr richtet sich in der Tat nur gegen einen unmittelbaren Angriff. Anders aber sieht es aus, wenn ein Entführter seinen Entführer im Schlaf erschiesst, um ihm entkommen zu können. Der Entführer begeht so lange Freiheitsberaubung, wie er sein Opfer nicht freigelassen hat, also auch im Schlaf. Noch schlafend verletzt er die Rechte des Entführten, begeht also einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff. Gegen diesen ist Notwehr zulässig.

Nimmt man an, dass ein Staatsvolk das moralische Recht hat, Soldaten einer aggressiven Invasionsarmee von seinem Territorium auszuschliessen, begehen diese eine fortdauernde notwehrfähige Rechteverletzung, solange sie hier als Teil der Armee anwesend sind. Eine zweite Argumentationsfigur ergänzt die Berufung auf die Notwehr um jene auf den sogenannten rechtfertigenden Notstand. Dieser existiert nicht nur im deutschen Strafrecht, sondern hat, wie auch das Recht zur Notwehr, eine moralische Entsprechung.

Die Soldaten eines angreifenden Staates stellen für die Soldaten und Zivilisten der Gegenseite – und für hohe Güter wie die politische Selbstbestimmung – eine ungerechte gegenwärtige Gefahr dar, auch dann, wenn sie schlafen oder ihre Waffen reinigen, statt einen Angriff durchzuführen. Ist diese Gefahr nicht anders abzuwenden, können sie gerechterweise getötet werden.

«Nicht anders abzuwenden» ist dabei ähnlich zu interpretieren wie das «erforderlich» des Notwehrparagrafen. Können in einer bestimmten Situation Aggressorsoldaten in nichttödlicher Weise überwältigt werden, ohne dabei das Risiko für die Verteidiger zu erhöhen, müssen die Verteidiger dieses Mittel anwenden. Sonst nicht. Sie sind nicht verpflichtet, die eigene Sicherheit dem Wohl ungerechter Angreifer zu opfern.

Das Töten von Zivilisten

Im Krieg werden jedoch nicht nur angreifende und verteidigende Soldaten getötet, sondern auch Zivilisten, inklusive Frauen und Kinder. Es ist dies, was die Rechtfertigung von Kriegen offensichtlich ungleich schwieriger macht als die Rechtfertigung von zielgenauer Notwehr gegen einen ungerechten Angreifer.

Ein gerechtfertigter Krieg muss proportional sein: Sein vernünftigerweise erwarteter Nutzen muss seine erwarteten Kosten sowie die erwarteten Kosten alternativer Kriege oder Widerstandsformen aus moralischer Sicht überwiegen. Wie man Krieg führt, ist auch eine Entscheidung darüber, welche Art von Krieg und damit welchen konkreten Krieg man führt. Unter Umständen kann diese Proportionalitätsbedingung nicht erfüllt werden und Kapitulation die gebotene Alternative sein. Schliesslich kann Widerstand in Form eines Verteidigungskrieges den Angreifer zu grösserer Brutalität provozieren, den Krieg verlängern und damit auch das Ausmass und die Zahl der Kollateralschäden erhöhen, das heisst der zerstörten zivilen Einrichtungen und getöteten Zivilisten (Schädigungen der Natur sind ebenfalls relevant). Hinzu kommt, dass die militärischen Handlungen des Verteidigers auch seine eigenen Zivilisten direkt töten können.

Kriegerischer Widerstand auch gegen einen ungerechten Angreifer wird von der Theorie des gerechten Krieges nicht automatisch legitimiert.

Unheil abwenden

Nichtsdestoweniger kann die Proportionalitätsbedingung auch erfüllt werden. Denn die Theorie des gerechten Krieges argumentiert (und empirische Untersuchungen zeigen, dass viele Menschen diese Sichtweise teilen), dass die wissentliche Tötung unschuldiger Menschen verhältnismässig und gerechtfertigt sein kann, wenn diese Nebenfolge einer Handlung ist, welche ein weitaus grösseres Unheil abwendet.

Das klassische Beispiel ist eine ausser Kontrolle geratene Strassenbahn, die von zehn Menschen, die sonst durch sie getötet würden, auf einen einzigen Menschen umgeleitet wird. Man tötet den einzelnen Menschen hier wissentlich, aber nicht absichtlich, nicht als Mittel zu einem Zweck (sein Tod nützt niemandem). Das Ziel war, eine Bedrohung von den unschuldigen zehn abzuwenden; dieses Abwenden kostet das Leben eines anderen Unschuldigen, und dieser Preis ist gemäss vielen verhältnismässig.

In gleicher Weise kann ein Verteidiger darin gerechtfertigt sein, ein militärisches Ziel selbst dann zu vernichten, wenn dies zu unschuldigen Opfern auf der eigenen Seite führt. Die Vernichtung des Ziels zur Verteidigung der fundamentalen Rechte vieler kann die Verletzung der Rechte weniger überwiegen. Insofern kann es paradoxerweise gerechtfertigte Rechteverletzungen geben.

Kriege – wohl die allermeisten –, welche auf diese Rechtfertigungsfigur angewiesen sind, können bestenfalls gerechtfertigt, nicht gerecht sein; sie verletzen Rechte, aber womöglich gerechtfertigterweise.

Gefahr der Brutalisierung und Verlängerung

Es lässt sich jedoch auch noch grundsätzlicher fragen, ob die Tötung Unschuldiger auf der eigenen Seite im Zuge eines von breiter öffentlicher Unterstützung getragenen und verantwortlich durchgeführten Verteidigungskrieges die Rechte dieser Unschuldigen tatsächlich verletzt. Schliesslich liesse sich argumentieren, dass das Volk durch Unterstützung der militärischen Verteidigungsmassnahmen implizit zugestimmt hat, den Preis für diese zu entrichten, einschliesslich des Risikos, das Leben zu verlieren. Dieses eher tentative zusätzliche Argument wird überzeugender in Anwendung auf die Inkaufnahme der Brutalisierung und Verlängerung des Krieges durch den Feind.

Wenn die Bevölkerung im Wissen darum, dass dieser Effekt eintreten kann, die militärischen Verteidigungsmassnahmen unterstützt, so signalisiert sie damit ihre eigenen Proportionalitätsurteile. Anders gesagt: Dass die Bevölkerung diese moralischen Kosten des kriegerischen Widerstands als proportional erachtet, macht ihn proportional.

Den Ukrainern wird Unrecht getan

Die Analyse führt hier zu dem Ergebnis, dass ein ukrainischer Verteidigungskrieg gegen die russische Invasion gerecht oder zumindest gerechtfertigt sein kann. Die Ukrainer haben einen gerechten Grund zum Krieg, was nicht lediglich bedeutet, dass ihnen ein Unrecht angetan wurde, sondern dass die kriegerische Abwehr dieses Unrechts nicht notwendigerweise unverhältnismässig wäre.

Das Vorliegen eines gerechten Grundes in diesem Sinne ist kein Freibrief. Es bedeutet lediglich, dass der Verteidiger berechtigt ist, einen Krieg (nämlich einen proportionalen) gegen die Angreifer zu führen. Es bedeutet nicht, dass der tatsächlich geführte Verteidigungskrieg tatsächlich proportional ist. Wie schon angemerkt, können auch Verteidigungskriege disproportional sein. Die Berichterstattung aus der Ukraine gibt im Augenblick aber keinen Anlass für die Befürchtung, dass dies dort der Fall ist. Der ukrainische Verteidigungskrieg erscheint somit gerechtfertigt, wenn nicht gar gerecht.

Uwe Steinhoff ist Professor am Department of Politics and Public Administration der Universität Hongkong. Zuletzt erschien von ihm das Buch «Zur Ethik des Krieges und des Terrorismus».

59 Kommentare
C. Z.

Tut mir leid. Dies ist ein Artikel eines weltfremden Ethikers, der seinen deontologischen Ansatz versucht zu erklaren.  Der kategorische Imperativ hat in Kriegszeiten nichts zu suchen, da sein Ansatz wohl intellektuell faszinierend, aber in der Anwendung komplett naiv ist.  Und um noch eins nachzulegen: Moral muss man sich leisten konnen, was die wohlstandsverwohnten Ethikprofessoren immer wieder zu vergessen scheinen. 

Andreas Abplanalp

Der Kommentar bez. gerechtfertigter Notwehr wird ,vom moralischen Standpunkt  ausgehend, korrekt, aber wirklichkeitsfremd formuliert. Was zusätzlich interessant wäre, die Meinung des Verfassers zum "Tyrannenmord" zu erfahren, da sich eine derartige Strategie angesichts eines unnötigen, von einem EINZELNEN vom Zaun gerissenen Aggressionskrieges, als eines der vermutlich wenigen Mittel in Anbetracht der vielen Opfer und des unsäglichen Unglücks UNZÄHLIGER als Mittel zum Zweck quasi aufdrängte. In diesem Sinne kann ich die vielbeachtete, aber auch kritisierte Rede J.Bidens nur positiv einschätzen.