Der andere Blick

Die Zahl der Krisen wächst – dennoch ist die Angst vor dem dritten Weltkrieg unbegründet

Noch sind Ukraine, Gaza und Taiwan regional begrenzte Konflikte. Zugleich wächst die Furcht vor einer weltweiten Eskalation. Ausgerechnet der Kalte Krieg ist jedoch ein Beispiel dafür, wie sich das Schlimmste verhindern lässt.

Eric Gujer 265 Kommentare 6 min
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Stacheldraht und Schützengraben: Die Lage in der Ukraine erinnert in vielem an den Ersten Weltkrieg, nicht zuletzt auch die Ausbildung der ukrainischen Soldaten, aufgenommen am 12. März dieses Jahres in der Zentralukraine.

Stacheldraht und Schützengraben: Die Lage in der Ukraine erinnert in vielem an den Ersten Weltkrieg, nicht zuletzt auch die Ausbildung der ukrainischen Soldaten, aufgenommen am 12. März dieses Jahres in der Zentralukraine.

Viacheslav Ratynskyi / Reuters

Wenn die Zeiten unübersichtlich sind, haben Endzeitpropheten Konjunktur. Das war im Mittelalter so, heute ist es nicht anders. Nur der Inhalt der Vorhersagen wechselt. Damals war es der Antichrist, der sein Erscheinen ankündigte. Heute steuern wir angeblich auf den dritten Weltkrieg zu. Eine Schwachstelle ist diesen Prophezeiungen gemeinsam: Der Weltuntergang tritt seltener ein als vom raunenden Propheten-Chor vorhergesagt.

Zwar ist die geopolitische Konstellation so düster wie schon lange nicht mehr. Putins Soldaten nutzen den Schwung nach der Eroberung von Awdijiwka. Sie haben die Initiative übernommen, die ukrainische Armee ist in die Defensive geraten.

Die Ukrainer wirken ratlos, ob sie auf Verteidigung umstellen oder eine Neuauflage der Sommeroffensive 2023 versuchen sollen. Es fehlt an allem: an Soldaten, an Munition, an Schützengräben und Minenfeldern. Man versäumte, diese anzulegen, weil man sich nicht vorstellen wollte, dass der Feind erneut ukrainisches Territorium besetzen würde.

Krieg in der Ukraine fordert weltweit die meisten Opfer

Anzahl der Todesopfer in gewaltsamen Konflikten seit Januar 2023

In dieser Lage braucht Kiew mehr denn je Unterstützung. Doch die Europäer sind wie immer uneins. Sie benötigen amerikanische Führung, aber in der Kulisse lauert Trump. Er bleibt im Vagen, ob er die Ukraine ihrem Schicksal überlässt und die Nato zerstört. Daran wird sich bis zum Wahltag nichts ändern. Wenn Putin in diesem Jahr den Durchbruch erzielt, wird er dann die Nato ins Visier nehmen – oder das, was von ihr noch übrig ist?

Wie man aus Blindheit und Draufgängertum in die Katastrophe stolpert

Der Nahe Osten steht an vielen Orten gleichzeitig in Flammen. Israel muss den Süden des Gazastreifens einnehmen, sonst bleibt der Krieg Stückwerk. Die militärische Logik ist zwingend trotz humanitärer Katastrophe und amerikanischem Druck. Das wiederum stachelt Iran, die Schutzmacht der Hamas, an, seine Nadelstiche zu intensivieren.

Die iranischen Hilfstruppen zündeln an vielen Fronten. Der Hizbullah attackiert von Libanon aus den Norden Israels. Die jemenitischen Huthi versuchen, die Route durchs Rote Meer und damit einen der wichtigsten Handelswege zu blockieren. Die Angriffe irakischer Milizen auf US-Stützpunkte beschwören die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen Washington und Teheran herauf.

Angesichts dieser Hiobsbotschaften ist Taiwan ein wenig in Vergessenheit geraten. Für China ist das eigentlich der ideale Zeitpunkt, um die Schraube der Eskalation anzuziehen. Pekings säbelrasselnde Propaganda dröhnt auf allen Kanälen. Kann man einen Krieg immer nur ankündigen, ohne ihn irgendwann zu führen? Das Missverhältnis in der Stärke zwischen den chinesischen und den taiwanischen Streitkräften wächst tagtäglich.

Drei Schauplätze, drei Bedrohungen. Die Befürchtung ist naheliegend, dass sich die Brandherde nicht isolieren lassen. Aus Unachtsamkeit oder mit voller Absicht könnte sich das Feuer ausbreiten. Am Ende steht der Globus in Flammen.

Gewaltsame Auseinandersetzungen

Anzahl der Gewaltereignisse seit Januar 2023, lineare Skala

So weit das Szenario, für das es überdies eine historische Vorlage gibt. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wollte keine der Grossmächte einen kontinentalen Konflikt, und doch stolperten sie in diesen hinein in einer fatalen Mischung aus Blindheit und Draufgängertum.

Die pessimistischen Prognosen betrachten nur eine Seite der Gleichung, nämlich die, die für eine Eskalation spricht. Gleichzeitig unterschätzen sie die hemmenden Faktoren, die eine Explosion verhindern. Geschichte ist keine Rutschbahn, wo alles auf die Katastrophe zurast. Politik kann dem entgegensteuern. Fatalismus entspringt dem Gefühl der Überwältigung durch die Vielzahl der Konflikte. Aber Vernunft kann Gefühle kanalisieren.

Putin hat ein geopolitisches Ziel, auf das er seit dem Georgien-Krieg 2008 hinarbeitet. Er will nicht die Sowjetunion auferstehen lassen, nur deren Einflusszone. Die Ukraine ist dafür der Schlüssel. Könnte er eine Marionettenregierung in Kiew installieren, käme er seinem Traum ein grosses Stück näher. Eine Konfrontation mit der Nato hingegen würde extreme Risiken bergen.

Der neue Zar hat beim Einmarsch in die Ukraine die Zähigkeit des Gegners unterschätzt. Er ist aber kein Zocker. Für seinen Masterplan einer sowjetischen Einflusszone 2.0 gibt es einfachere politische Ziele, nämlich Georgien, Armenien und Aserbaidschan und damit die Vorherrschaft über das Kaspische Meer.

Die Westeuropäer vernachlässigen die Region zwar, doch für Moskau ist sie von zentraler Bedeutung. Eine Hegemonie in der Bruchzone zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer stärkt die russische Position gegenüber der Türkei. Zugleich würde der Einfluss des Kremls in Zentralasien wieder wachsen, wo sich China breitmacht.

Die Nato kann sich nicht darauf verlassen, dass Putins Ehrgeiz nach Osten zielt. Er hat die Nato schon 2014 und 2022 überrumpelt. Der Allianz bleibt gar nichts anderes übrig, als sich auf eine langanhaltende Konfrontation einzustellen und aufzurüsten. Aber je mehr die Nato ihre Abschreckung stärkt, desto höher wird der Preis für Putin.

Noch ist Moskau im Vorteil, weil es sich leichter damit tut, Soldaten auszuheben. Auch die Produktion von Rüstungsgütern wird nochmals wachsen, dann aber stagnieren. Die westliche Rüstungsindustrie hingegen kommt jetzt in Fahrt. Sie wird die Materialschlacht gewinnen. Nicht nur Selenski, auch Putin befindet sich in einem Wettlauf gegen die Uhr.

Putin träumt davon, dass Trump die Hilfe einstellt. Er könnte sich täuschen. Trotz allem halbstarken Gerede kann ein Präsident Trump kein Interesse an einem russischen Sieg haben. Das nämlich würde ihn schwach aussehen lassen. «Who lost Europe?» Diese Debatte wäre schlechte PR, und nichts hasst Trump mehr.

Auch Schurken können vernünftig handeln

Der Gaza-Konflikt bleibt lokal, denn ein grosser Krieg nützt niemandem – auch Iran nicht. Seine Strategie hat drei Ziele: nie wieder einen blutigen Krieg auf eigenem Boden wie gegen den Irak, ferner eine regionale Hegemonie und die Vermeidung einer direkten Konfrontation mit den USA. Für die Drecksarbeit hat Iran Hilfstruppen. Sie kämpfen, und sie sterben – und das zu einem niedrigen politischen Preis. So errang Teheran die regionale Dominanz, ohne selbst in einen Krieg verwickelt zu werden.

Zugleich wirkt dort die Abschreckung durch das Atomprogramm. Keine US-Regierung hat ein Gegenmittel gefunden; nicht Obama mit dem Palmzweig Atomabkommen, nicht Trump mit der Kündigung. Warum sollte Teheran das aufs Spiel setzen? Auch Schurken können vernünftig sein.

Bleibt der dritte Schauplatz. Einige pensionierte US-Generäle wissen genau, dass Peking bis 2027 Taiwan überfallen wird. Aber wieso? China will die Hegemonie im westlichen Pazifik. Mit anderen Worten: Es möchte Amerika aus seiner Einflusszone vertreiben. Dafür braucht es langen Atem und kein waghalsiges Militärabenteuer. Geht die Strategie auf, gehört Peking Taiwan – ob durch formelle Herrschaft oder durch Einschnürung.

Die USA wollen sich das nicht bieten lassen, auch Japan und Australien rüsten auf. Das Eskalationspotenzial ist real, aber eben auch die Drohung einer nuklearen Konfrontation. Die Gefahr des atomaren Armageddon unterscheidet unsere Zeit grundlegend von 1914. Keine der Mächte ist blind oder draufgängerisch, selbst Moskau nicht. Die Chance, dass sich ein Gleichgewicht einstellt, ist daher mindestens so gross wie die Gefahr einer Verschärfung.

Auch wenn es derzeit nicht so wirkt, haben selbst China und Russland ein defensives Interesse. Beide fordern ein «Interventionsverbot für raumfremde Mächte» (Carl Schmitt). Sie wollen in ihrer Einflusszone die Regeln bestimmen und andere Grossmächte fernhalten. Der Westen hingegen verlangt die Offenheit der Räume. Er setzt auf die Anziehungskraft seines Modells und die Selbstbestimmung der kleineren Staaten. Aber er verfolgt damit letztlich eine offensive Geopolitik.

Die konkurrierenden Ordnungsvorstellungen führen unvermeidlich zu Spannungen. Dennoch ist es möglich, gemeinsame Schnittmengen zu identifizieren. Aus dem Kalten Krieg wurde nie ein heisser Krieg, weil alle Seiten ein Interesse an Stabilität und Berechenbarkeit hatten. Das allerdings ist an Voraussetzungen geknüpft: Der Westen darf nicht im Hochgefühl moralischer Überlegenheit einen Kreuzzug für universelle Werte führen. China darf bei seinen Provokationen den Bogen nicht überspannen.

Gelingt es, den zentralen amerikanisch-chinesischen Gegensatz einzuhegen, schrumpft der Popanz Putin auf Normalmass. Der Kalte Krieg ist eine Drohung, weil die Welt stets am Rande einer Katastrophe balancierte. Aber er ist auch ein Vorbild für gelungenes Konfliktmanagement.

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John Kangal

Das ist so nicht ganz richtig, täglich wandern über 1000 Menschen nach EU-Europa ein, die Meisten wolle nach Deutschland. Diese Leute kommen aus den kaputten Ländern der Welt und wurden in Kulturen sozialisiert, die Gewalt und menschenverachtende religiöse Regeln als Grundlagen haben. Gerade Deutschland wird immer mehr zu einer Ansammlung von Parallelgesellschaften und diese Parallelgesellschaften wollen ihre religiösen und auf Gewalt basierenden Gesetze hier einführen und zur Grundlage für alle machen. Die multikulturellen Gesellschaften der Vergangenheit sind alle gescheitert und am Ende standen blutige Kriege. Wir sind längst Opfer unserer Toleranz geworden, denn andere sehen uns nur als Beute an. 

A. M.

Gedankenspiel: die moralisch morsche Grand ol Party mit ihrem Immobilienmogul stellt den nächsten US Präsident.  Die Europäer, nicht Willens jetzt zu handeln, müssen dann die stark verschlechterte Situation in  der Ukraine retten oder sich mit 5-8 Millionen ukrainischen Flüchtlingen auseinandersetzen. Aufhalten werden sie diesen Strom nicht. Es wäre an der Zeit auf die östlichen NATO und EU Mitglieder  zu hören welche die "Liebe" des russischen Brudervolkes 50 Jahre genießen durften. Diese agieren verdeckt und leise. Zwar zum eigenen, aber eben auch zum Vorteil der Ukraine. Hätte man vor zwei Jahren den Geldbeutel und die Arsenale geöffnet, wäre der Schrecken schon vorbei. Den Putinstreichlern sei gesagt,man kann  mit ihm verhandeln. Er wird alles unterschreiben und dann das Gegenteil tun. Siehe Minsker Abkommen, Annektion der Krim, Unfalltod Navalnys, Fenstersturz von Kritikern, Tiergartenmord... die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.