Braucht Europa jetzt eine Atombombe?

Kehren die Amerikaner Europa den Rücken, stehen wir allein Wladimir Putin und dem russischen Atomarsenal gegenüber. Der Ruf nach dem Aufbau einer europäischen Atomstreitmacht wird deshalb nun laut.

Markus Bernath 5 min
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Hans-Jörg Walter

Für Wladimir Putin ist es der Winter der tausend Raketen. Kinschal, Kaliber, Iskander – Hyperschallwaffen, Marschflugkörper, Kurzstreckenraketen, dazu Dutzende von Drohnen. Alles schickte der russische Präsident zu Beginn dieser Woche Richtung Kiew und Charkiw, die beiden grössten Städte der Ukraine.

Es war der zweite massive Luftangriff innerhalb weniger Tage. Verhandlungen über einen Waffenstillstand nach bald drei Jahren Krieg? Fehlanzeige. Putin will den Sieg, und er will ihn zu seinen Bedingungen.

Im Westen korrigieren sich die Militärexperten. Die russischen Raketenarsenale seien nicht erschöpft, heisst es jetzt. Im Gegenteil. Russland produziere mittlerweile an die 100 Raketen jeden Monat. Was, wenn er gewinnt? Wenn Putin am Ende die Ukraine bezwingt und nach Polen greift, nach der Moldau, Estland, Litauen und Lettland?

Dann braucht Europa die Atombombe. Der deutsche Historiker Herfried Münkler sagte das in einem Interview zu Beginn des neuen Jahres, Frankreichs ehemaliger Armeechef Jacques Lanxade, sein deutscher Kollege Klaus Naumann sowie eine Reihe von Sicherheitsexperten in Europa und in den USA äusserten sich zuvor ähnlich.

«Die europäische Atombombe wäre ein entscheidender Schritt hin zu einer strategischen Autonomie und zu einer eigenen Abschreckungskraft», erklärte Münkler in dem Interview mit der «Welt». Die EU wäre sicherer vor Putin. Aber stimmt das auch?

Das Arsenal der Briten und Franzosen

Atomwaffen europäischer Staaten gibt es ja bereits. Grossbritannien und Frankreich sind seit den 1950er und 1960er Jahren Nuklearmächte mit einem Arsenal an Atombomben. Es war ihr Beitrag zur Abschreckung im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion. Etwa 225 Gefechtsköpfe hat das eine Land noch heute, 290 das andere – nicht einmal ein Zehntel des russischen Arsenals. Die strategischen Atomraketen sind auf vier britische und vier französische U-Boote verteilt, Frankreich hat zudem Bomber, die mit Nuklearwaffen bestückt werden können.

Warum also noch europäische Atombomben? Noch dazu, wo Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den anderen EU-Staaten, insbesondere Deutschland, immer wieder eine Teilhabe an den Nuklearwaffen angeboten hat?

Die Antwort ist typisch europäisch: Die Deutschen wollen grundsätzlich nichts von Atomwaffen hören; auf den eigenen Besitz haben sie in internationalen Verträgen ohnehin verzichtet. Die Polen vor allem wollen lieber amerikanische Atomraketen im Land. Die Franzosen schliesslich meinen es nicht ganz so ernst mit der Teilhabe. An gemeinsamen Übungen mit französischen Atomstreitkräften sollen sich die Europäer beteiligen und «strategische Kultur» lernen, sagte Macron. Doch über die Atomwaffen und ihren Einsatz entscheidet natürlich der französische Präsident.

Die französische Armee testete im November 2023 erfolgreich eine neue ballistische, mit einem Atomsprengkopf bestückbare Rakete. Die M 51.3 soll eine Reichweite bis zu 10 000 Kilometer haben.

Die französische Armee testete im November 2023 erfolgreich eine neue ballistische, mit einem Atomsprengkopf bestückbare Rakete. Die M 51.3 soll eine Reichweite bis zu 10 000 Kilometer haben.

DGA /Französisches Verteidigungsministerium

Trumps Rückkehr und der China-Faktor

Doch um die Frage der Atombombe kommen die Europäer heute nicht herum. Wird Donald Trump im November gewählt und kehrt ins Weisse Haus zurück, dann mag er dieses Mal wirklich Ernst machen mit einer Abkehr von Europa. Mehrfach soll er mit einem Austritt der USA aus der Nato gedroht haben. Er sehe keinen Sinn in dieser Allianz, wo die Europäer auf Kosten der Amerikaner lebten, grummelte Trump in Gesprächen mit Mitarbeitern.

Der Nuklearschirm, den die USA seit dem Kalten Krieg über Westeuropa aufgespannt haben, könnte dann abgezogen werden. Ebenso wie die rund 100 taktischen Atomsprengköpfe, die noch in fünf Nato-Staaten gelagert werden. Die Europäer stünden allein Putins Atomarsenal gegenüber.

Das Szenario einer Abkehr des Trump-Amerika von Europa wird noch plausibler mit Blick auf China und Taiwan. Kommt es wegen der Inselrepublik zum militärischen Konflikt mit China, müssen die USA abwägen – Pazifik oder Europa und die Ukraine? Zwei Kriege könnten die USA nicht führen, sagte Trumps früherer Verteidigungsminister James Mattis. Die Entscheidung der Amerikaner ist dann klar: Sollen die Europäer doch selbst für ihre Verteidigung sorgen. Das Geld dafür haben sie ja.

Militärisch nutzlos, psychologisch wirkungsvoll

Doch was ist die Atombombe militärisch tatsächlich wert? Würde sie Putin wirklich davon abhalten, weitere europäische Staaten zu bedrohen oder gar anzugreifen? An der Bombe scheiden sich seit je die Geister: unmoralisch wegen ihrer auf die Zivilbevölkerung keine Rücksicht nehmenden, ungeheuren Zerstörungskraft; aus ebendiesem Grund aber auch nutzlos für die Armeen. Wer einen nuklearen Schlag ausführt, muss selbst mit Vernichtung durch einen Gegenschlag rechnen. Niemand gewinnt, alle verlieren.

Aber ganz so klar ist es dann doch nicht. Die Bombe ist eine wirkungsvolle psychologische Waffe. Sie setzt den Gegner unter Druck. Der russische Präsident drohte vor allem im ersten Kriegsjahr mehr oder minder offen mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gegen die Ukraine. Er konnte dies tun, weil die Ukraine keine Atombomben mehr besitzt. Geschehen ist es nicht. Bisher. Eine Garantie, dass Putin nicht doch taktische Atomwaffen an der Front einsetzt oder am Ende eine ukrainische Stadt auslöscht, gibt es nicht.

Ähnlich verhält es sich mit der Bedrohung der Nato- und EU-Staaten durch Russland. Erwägen die USA einen Rückzug aus Europa, beginnen Putins Generäle zu kalkulieren. Wäre ein Atomkrieg auf dem Kontinent nun gewinnbar, das britische und französische Nukleararsenal überwindbar? Oder wichtiger noch: Können wir die Europäer glauben machen, dass wir bereit sind, Atomwaffen einzusetzen? Denn was zählt, ist schon die Furcht.

Ein Atomkoffer, der wandert

Überlegungen zum Aufbau einer europäischen Atomstreitmacht gibt es. Briten, Franzosen und Deutsche könnten innerhalb der Nato einen europäischen Atomschirm aufbauen mit einem Kommandostab, der vom stellvertretenden Oberbefehlshaber für Nato-Operationen, einem Europäer, geführt wird. Deutschland würde keine eigenen Nuklearwaffen haben, aber Piloten und Kampfjets stellen, die Raketen mit atomaren Sprengköpfen tragen könnten.

Ein solches Arrangement würde wohl einigen europäischen Nato-Staaten nicht passen, weil sie sich in einer so existenziellen Frage übergangen fühlen. Die nukleare Planungsgruppe der Nato (NPG) böte sich als Alternative an. Ihr gehören alle Nato-Staaten an, allerdings nicht Frankreich, das bisher auf die Unabhängigkeit seiner Atomstreitmacht pochte. Selbst wenn sich die Franzosen der NPG anschlössen, scheint es schwierig, dass 28 europäische Nato-Staaten einen Konsens über den Einsatz von Atomwaffen finden.

Der Historiker Münkler stellt sich eine andere Konstruktion für eine europäische Abschreckungsmacht vor. Sie geht von der EU aus und lässt die Briten aussen vor.

Münkler schlägt vor, dass Frankreich, Deutschland und Polen – das «Weimarer Dreieck» – sowie zwei südeuropäische Staaten – Spanien und Italien – in gemeinsamer Entscheidungsgewalt über Atomwaffen verfügen: «Der Koffer mit dem roten Knopf zirkuliert zwischen den genannten Staaten.»

Besser eine Bombe als keine

Eine europäische Atomstreitmacht würde wohl einen Rüstungswettlauf mit Russland auslösen. Putin, der bereits taktische Atomwaffen nach Weissrussland, näher an die EU- und Nato-Grenzen, gebracht hat, könnte neue Mittelstreckenraketen auf Europas Städte richten. Vor allem in der deutschen Gesellschaft würde dies ungute Erinnerungen an die Aufrüstung der 1980er Jahre wecken.

Aber diese verschärfte die wirtschaftlichen Probleme der Sowjetunion und führte am Ende zu Abrüstungsvereinbarungen. Das ist auch eine Perspektive für die Europäer heute. Mit Putins Nachfolgern könnten sie vielleicht zu einer Verständigung über eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa nach dem Krieg in der Ukraine gelangen.

Bis dahin aber gilt eine unangenehme Tatsache: Es ist besser, eine Atombombe zu haben als keine. Die Europäer werden ihre konventionellen Truppen zweifellos aufrüsten und sich auch mit Abwehrsystemen – dem vom deutschen Kanzler Olaf Scholz lancierten European Sky Shield – gegen russische Raketen wappnen.

Doch ohne die USA und ohne eigene Atomstreitkräfte sind sie erpressbar. Wladimir Putin und seine Kreml-Riege würden dies selbstverständlich ausnützen. Die Ukrainer können davon erzählen.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»