Amanda Gorman stiehlt mit ihrem Gedicht bei der Amtseinführung Joe Bidens allen die Show. Der jungen Afroamerikanerin schwebt noch Grösseres vor

Sie ist die jüngste Dichterin, die je bei einer Amtseinführung eines amerikanischen Präsidenten aufgetreten ist. Von der 22-Jährigen dürfte man in Zukunft noch mehr hören.

Gian Andrea Marti
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Im farbenfrohen Outfit trägt Amanda Gorman ihr Gedicht bei der Amtseinführung Joe Bidens in Washington vor.

Im farbenfrohen Outfit trägt Amanda Gorman ihr Gedicht bei der Amtseinführung Joe Bidens in Washington vor.

Patrick Semansky / Imago

Als am Mittwoch der neue amerikanische Präsident Joe Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris in ihr Amt einberufen werden, sind alle Augen nur auf sie gerichtet. Im knallgelben Mantel, die dunkle Zopffrisur mit einem roten Haarreifen nach hinten gebunden, trägt Amanda Gorman ihr Gedicht «The Hill We Climb» («Der Berg, den wir erklimmen») am Rednerpult vor.

Nur gerade etwas mehr als fünf Minuten dauert ihr Auftritt. Doch in diesen – so sind sich die Kritiker einig – macht Gorman wett, was Bidens Rede an Energie und Dynamik fehlt. Ihr Werk handelt von den schweren Zeiten, welche die USA hinter sich und noch vor sich haben, und beschwört den Zusammenhalt der Nation.

«Even as we grieved, we grew» – «Selbst als wir trauerten, wuchsen wir»

«Its because being American is more than a pride we inherit, it’s the past we step into and how we repair it» – «Amerikaner zu sein, ist mehr als ein Stolz, den wir erben. Es ist die Vergangenheit, in die wir eintreten und wie wir sie reparieren.»

«A nation that isn’t broken but simply unfinished» – «Eine Nation, nicht gebrochen, aber unvollendet.»

Auch den Sturm auf das Capitol in Washington adressiert Gorman und stellt Anekdoten aus ihrer eigenen Lebensgeschichte in Zusammenhang mit der sozialen Realität Amerikas.

Das Gedicht «The Hill We Climb» von Amanda Gorman in voller Länge

Youtube

Die jüngste Poetin an einer Amtseinführung

In den sozialen Netzwerken wird Gormans Gedicht innert Kürze zum meistdiskutierten Thema rund um Bidens Amtseinführung. Der Auftritt bringt ihr viel Lob ein. Zitate aus ihrem Gedicht werden auf Twitter und Facebook geteilt. Mit gerade einmal 22 Jahren ist Gorman die bisher jüngste Poetin, die an einer Amtseinführung eines amerikanischen Präsidenten aufgetreten ist. Jill Biden, die Gattin des neuen Präsidenten, soll laut Medienberichten Gorman höchstpersönlich als Dichterin für die Amtseinführung angefragt haben.

Damit tritt die junge Frau in die Fussstapfen einer Reihe bekannter Dichterinnen und Dichter. John F. Kennedy war 1961 der erste Präsident, der mit Robert Frost einen Poeten bei seiner Amtseinführung auftreten liess. Weitere bekannte Vorgängerinnen sind Maya Angelou und Elizabeth Alexander. Gormans Outfit während der Amtseinführung – Ohrringe und ein Ring mit einem Vogel im Käfig – ist denn auch ein Tribut an Angelous Memoiren «Ich weiss, warum der gefangene Vogel singt». Talkshow-Legende Oprah Winfrey, eine enge Freundin der 2014 verstorbenen Autorin, hat laut Presseberichten den Schmuck Gorman geschenkt.

Diese zeigt sich begeistert: «Ich war nie stolzer, eine weitere junge Frau aufsteigen zu sehen», schreibt Winfrey kurz nach Gormans Auftritt auf Twitter. Und der frühere amerikanische Präsident Barack Obama twittert: «An einem Tag für die Geschichtsbücher präsentierte Amanda Gorman ein Gedicht, das mehr als nur den Moment traf.»

Amanda Gorman posiert mit dem früheren amerikanischen Präsidenten Barack Obama und dessen Frau Michelle.

Amanda Gorman posiert mit dem früheren amerikanischen Präsidenten Barack Obama und dessen Frau Michelle.

Greg Nash / Imago

Ein Werdegang mit Chancen und Hindernissen

Mit ihrem Talent erregt die junge Afroamerikanerin bereits als Jugendliche Aufmerksamkeit. Bereits im Alter von 16 Jahren gewinnt sie ihren ersten Lyrik-Preis. Nur drei Jahre später wird sie von der amerikanischen Kongressbibliothek mit dem Titel «National Youth Poet Laureate» – der besten jungen Dichterin des Landes – geehrt. Zu diesem Zeitpunkt studiert sie Soziologie an der Harvard-Universität in Cambridge.

1998 geboren, wächst Gorman mit ihrer alleinerziehenden Mutter, einer Mittelschullehrerein, und zwei Geschwistern – eine davon ist ihre Zwillingsschwester – in Los Angeles auf. Bereits in jungen Jahren interessiert sie sich für Bücher und fürs Schreiben. Der Beruf ihrer Mutter hat einen nicht unerheblichen Einfluss darauf, wie sie der «Los Angeles Times» erzählt. «Ich konnte beobachten, wie meine Mutter fähig war, junge Menschen durch Sprache zu stärken.» Ihre Begeisterung für Lyrik führt Gorman auf einen Moment als Drittklässlerin zurück, als ihre Lehrerin Ray Bradburys Roman «Dandelion Wine» (deutscher Titel: «Löwenzahnwein») in der Klasse vorliest. Sie erinnere sich zwar nicht mehr, welche Metapher damals ihre Aufmerksamkeit erregt habe. Doch das Buch hat eine nachhaltige Wirkung auf sie.

Gormans Werdegang ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass sie in ihrer Kindheit lange unter einem Sprachfehler leidet. Bestimmte Laute korrekt auszusprechen, bereitet ihr Mühe, vor allem der Buchstabe R. Sie selbst schreibt ihre Sensibilität für Sprache aber gerade diesem Umstand zu. Durch ihren Sprachfehler habe sie sich schon früh vor allem durch das Schreiben ausgedrückt. Der «Los Angeles Times» erzählt sie: «Ich betrachte meine Einschränkung nicht als Schwäche.» Ihr Sprachfehler habe sie zu der Künstlerin gemacht, die sie heute sei. «Wenn du dir selber beibringen musst, wie bestimmte Laute klingen sollen, die für andere selbstverständlich sind, bekommst du ein besonderes Bewusstsein dafür.»

Das Präsidentenamt im Visier

Heute setzt sich Gorman in ihren Werken mit Themen wie Unterdrückung, Feminismus und Rassismus auseinander. 2015 erschien ihr erster Gedichtband «The One for Whom Food is Not Enough». Ausserdem gründete sie die Aktion «One Pen One Page», die Jugendlichen kostenfreie Programme für kreatives Schreiben anbietet. Für die «New York Times» schreibt sie für den Studenten-Newsletter «The Edit». Zudem sollen noch in diesem Jahr zwei Bücher erscheinen: ein Kinderbuch mit dem Titel «Change Sings» und eine weitere Gedichtsammlung.

Doch für die weitere Zukunft hat Gorman höhere Pläne. Bereits 2017 erklärte sie, im Jahr 2036 für das amerikanische Präsidentenamt kandidieren zu wollen. «Sie können das in Ihrem Kalender eintragen», sagte die damals 19-Jährige. An diesem Plan scheint die mittlerweile 22-Jährige festhalten zu wollen, wie sie gegenüber der «Los Angeles Times» sagt. Kamala Harris, die neue Vizepräsidentin der USA, habe diesen Traum für sie wiederbelebt.

Feuerwerk über dem Weissen Haus als Abschluss der Vereidigungszeremonie von US-Präsident Joe Biden.
35 Bilder
Präsident Joe Biden and Firstlady Jill Biden auf dem Balkon des Weissen Hauses. Für die nächsten vier Jahre wird dies ihr Zuhause sein.
Sängerin Katy Perry (im weissen Kostüm vorne) tritt vor Feuerwerk und dem Lincoln Memorial auf.
Mitglieder der U.S. Army Old Guard Fife und des Trommel Corps waren Teil des Vereidigungs-Programms von Joe Biden.
US-Präsident Joe Biden und First Lady Jill Biden winken vor der Tür des Weissen Hauses.
Die Autokolonne von Vizepräsidentin Kamala Harris während der Parade zum Tag der Amtseinführung der neuen US-Regierung.
Joe Biden und Kamala Harris legen kurz nach der Inaugurationszeremonie einen Kranz am Grab des unbekannten Soldaten nieder.
Ein Paar verfolgt Joe Bidens Antrittsrede auf dem Mobiltelefon.
Der neue Präsident Joe Biden unterzeichnet als erste Amtshandlung drei Dokumente, darunter die Nominierungen für sein Kabinett.
Joe Biden beschwört in seiner ersten Rede als US-Präsident die Einigkeit der Nation.
Der 23-jährigen Amanda Gorman kommt die Ehre zuteil, als jüngste Autorin der Geschichte das traditionelle Gedicht vorzutragen.
Joe Biden legt den Eid ab und ist damit der 46. Präsident der USA. Der 78-Jährige schwört dabei auf eine Bibel, welche schon lange in Familienbesitz ist.
Sängerin Jennifer Lopez nutzte ihre Performance, um auf Spanisch eine politische Botschaft in die Welt zu senden: «Eine Nation unter Gott, unteilbar und mit Freiheit und Gerechtigkeit für alle», rief sie in die Kameras.
Die US-Sängerin Lady Gaga singt während der Amtseinführung die Nationalhymne.
Kamala Harris legt ihren Amtseid auf einer Bibel, die von ihren Ehemann Doug Emhoff gehalten wird, ab.
Bei der Zeremonie zur Amtseinführung von Joe Biden und Kamala Harris werden die «Social Distancing»-Regeln eingehalten.
Auch der ehemalige Präsident Barack Obama ist bei der Zeremonie vor dem Capitol zugegen.
Der scheidende Vizepräsident Mike Pence trifft mit seiner Frau Karen Pence beim Capitol ein.
Joe Biden, seine Frau Jill (Mitte) sowie Kamala Harris und ihr Ehemann Doug Emhoff (links) treffen beim Capitol in Washington ein.
Während der Amtseinführung wird mehrmals gebetet. Die Bibel, auf der Joe Biden seinen Amtseid ablegt, ist seit mehr als 125 Jahren im Besitz seiner Familie.
Die Sicherheitsvorkehrungen bei Bidens Amtseinführung sind gigantisch.
Trump-Supporter verabschieden den abtretenden Präsidenten, der mit der Air Force One in Richtung Florida abhebt.
Zuschauerinnen und Zuschauer filmen die Abschiedsrede von Donald Trump.
Der letzte Auftritt des abtretenden Präsidenten bei seiner Abschiedsrede.
Donald und Melania Trump verlassen das Weisse Haus und gehen an Bord der «Marine One».
Der scheidende Präsident Donald Trump und die First Lady Melania Trump verlassen das Weisse Haus und sind auf dem Weg nach Florida.
Kurz vor Beginn der Zeremonie wird noch an den Details für die Vereidigung Bidens gearbeitet.
Vizepräsidentin Harris und Präsident Biden gedenken am Vorabend der Vereidigung gemeinsam mit ihren Partnern der Covid-Toten.
Über 200 000 amerikanische Flaggen wurden vor dem Capitol aufgestellt, als Symbol für alle Amerikanerinnen und Amerikaner, die wegen der Corona-Pandemie nicht bei der Inauguration dabei sein können.
Die Amtseinführung von Präsident Joe Biden soll ohne Zwischenfälle über die Bühne gehen. Dafür sorgt die Nationalgarde.
Ein Blick auf die National Mall am Tag vor der Vereidigung.
Die Nationalgarde bereitet sich auf Joe Bidens Amtseinführung vor, ihre Ausrüstung stets in der Nähe.
Bereits am Tag vor der Inauguration stehen Soldaten der Nationalgarde in der Nähe des Weissen Hauses bereit.
Die Corona-Pandemie bestimmt auch die Feierlichkeiten zu Bidens Amtseinführung.
Die 56 Lichtsäulen am Himmel über der National Mall und dem Capitol stehen für die 50 Gliedstaaten und die Aussengebiete der Vereinigten Staaten.

Feuerwerk über dem Weissen Haus als Abschluss der Vereidigungszeremonie von US-Präsident Joe Biden.

Andrew Kelly / Reuters

«The Hill We Climb» von Amanda Gorman lesen Sie in voller Länge hier.