Sie ist die jüngste Dichterin, die je bei einer Amtseinführung eines amerikanischen Präsidenten aufgetreten ist. Von der 22-Jährigen dürfte man in Zukunft noch mehr hören.
Als am Mittwoch der neue amerikanische Präsident Joe Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris in ihr Amt einberufen werden, sind alle Augen nur auf sie gerichtet. Im knallgelben Mantel, die dunkle Zopffrisur mit einem roten Haarreifen nach hinten gebunden, trägt Amanda Gorman ihr Gedicht «The Hill We Climb» («Der Berg, den wir erklimmen») am Rednerpult vor.
Nur gerade etwas mehr als fünf Minuten dauert ihr Auftritt. Doch in diesen – so sind sich die Kritiker einig – macht Gorman wett, was Bidens Rede an Energie und Dynamik fehlt. Ihr Werk handelt von den schweren Zeiten, welche die USA hinter sich und noch vor sich haben, und beschwört den Zusammenhalt der Nation.
«Even as we grieved, we grew» – «Selbst als wir trauerten, wuchsen wir»
«It’s because being American is more than a pride we inherit, it’s the past we step into and how we repair it» – «Amerikaner zu sein, ist mehr als ein Stolz, den wir erben. Es ist die Vergangenheit, in die wir eintreten und wie wir sie reparieren.»
«A nation that isn’t broken but simply unfinished» – «Eine Nation, nicht gebrochen, aber unvollendet.»
Auch den Sturm auf das Capitol in Washington adressiert Gorman und stellt Anekdoten aus ihrer eigenen Lebensgeschichte in Zusammenhang mit der sozialen Realität Amerikas.
In den sozialen Netzwerken wird Gormans Gedicht innert Kürze zum meistdiskutierten Thema rund um Bidens Amtseinführung. Der Auftritt bringt ihr viel Lob ein. Zitate aus ihrem Gedicht werden auf Twitter und Facebook geteilt. Mit gerade einmal 22 Jahren ist Gorman die bisher jüngste Poetin, die an einer Amtseinführung eines amerikanischen Präsidenten aufgetreten ist. Jill Biden, die Gattin des neuen Präsidenten, soll laut Medienberichten Gorman höchstpersönlich als Dichterin für die Amtseinführung angefragt haben.
Damit tritt die junge Frau in die Fussstapfen einer Reihe bekannter Dichterinnen und Dichter. John F. Kennedy war 1961 der erste Präsident, der mit Robert Frost einen Poeten bei seiner Amtseinführung auftreten liess. Weitere bekannte Vorgängerinnen sind Maya Angelou und Elizabeth Alexander. Gormans Outfit während der Amtseinführung – Ohrringe und ein Ring mit einem Vogel im Käfig – ist denn auch ein Tribut an Angelous Memoiren «Ich weiss, warum der gefangene Vogel singt». Talkshow-Legende Oprah Winfrey, eine enge Freundin der 2014 verstorbenen Autorin, hat laut Presseberichten den Schmuck Gorman geschenkt.
Diese zeigt sich begeistert: «Ich war nie stolzer, eine weitere junge Frau aufsteigen zu sehen», schreibt Winfrey kurz nach Gormans Auftritt auf Twitter. Und der frühere amerikanische Präsident Barack Obama twittert: «An einem Tag für die Geschichtsbücher präsentierte Amanda Gorman ein Gedicht, das mehr als nur den Moment traf.»
Mit ihrem Talent erregt die junge Afroamerikanerin bereits als Jugendliche Aufmerksamkeit. Bereits im Alter von 16 Jahren gewinnt sie ihren ersten Lyrik-Preis. Nur drei Jahre später wird sie von der amerikanischen Kongressbibliothek mit dem Titel «National Youth Poet Laureate» – der besten jungen Dichterin des Landes – geehrt. Zu diesem Zeitpunkt studiert sie Soziologie an der Harvard-Universität in Cambridge.
1998 geboren, wächst Gorman mit ihrer alleinerziehenden Mutter, einer Mittelschullehrerein, und zwei Geschwistern – eine davon ist ihre Zwillingsschwester – in Los Angeles auf. Bereits in jungen Jahren interessiert sie sich für Bücher und fürs Schreiben. Der Beruf ihrer Mutter hat einen nicht unerheblichen Einfluss darauf, wie sie der «Los Angeles Times» erzählt. «Ich konnte beobachten, wie meine Mutter fähig war, junge Menschen durch Sprache zu stärken.» Ihre Begeisterung für Lyrik führt Gorman auf einen Moment als Drittklässlerin zurück, als ihre Lehrerin Ray Bradburys Roman «Dandelion Wine» (deutscher Titel: «Löwenzahnwein») in der Klasse vorliest. Sie erinnere sich zwar nicht mehr, welche Metapher damals ihre Aufmerksamkeit erregt habe. Doch das Buch hat eine nachhaltige Wirkung auf sie.
Gormans Werdegang ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass sie in ihrer Kindheit lange unter einem Sprachfehler leidet. Bestimmte Laute korrekt auszusprechen, bereitet ihr Mühe, vor allem der Buchstabe R. Sie selbst schreibt ihre Sensibilität für Sprache aber gerade diesem Umstand zu. Durch ihren Sprachfehler habe sie sich schon früh vor allem durch das Schreiben ausgedrückt. Der «Los Angeles Times» erzählt sie: «Ich betrachte meine Einschränkung nicht als Schwäche.» Ihr Sprachfehler habe sie zu der Künstlerin gemacht, die sie heute sei. «Wenn du dir selber beibringen musst, wie bestimmte Laute klingen sollen, die für andere selbstverständlich sind, bekommst du ein besonderes Bewusstsein dafür.»
Heute setzt sich Gorman in ihren Werken mit Themen wie Unterdrückung, Feminismus und Rassismus auseinander. 2015 erschien ihr erster Gedichtband «The One for Whom Food is Not Enough». Ausserdem gründete sie die Aktion «One Pen One Page», die Jugendlichen kostenfreie Programme für kreatives Schreiben anbietet. Für die «New York Times» schreibt sie für den Studenten-Newsletter «The Edit». Zudem sollen noch in diesem Jahr zwei Bücher erscheinen: ein Kinderbuch mit dem Titel «Change Sings» und eine weitere Gedichtsammlung.
Doch für die weitere Zukunft hat Gorman höhere Pläne. Bereits 2017 erklärte sie, im Jahr 2036 für das amerikanische Präsidentenamt kandidieren zu wollen. «Sie können das in Ihrem Kalender eintragen», sagte die damals 19-Jährige. An diesem Plan scheint die mittlerweile 22-Jährige festhalten zu wollen, wie sie gegenüber der «Los Angeles Times» sagt. Kamala Harris, die neue Vizepräsidentin der USA, habe diesen Traum für sie wiederbelebt.
«The Hill We Climb» von Amanda Gorman lesen Sie in voller Länge hier.