«Schauen Sie mal die Clan-Szene in Berlin an – alles ‹Dicke Michis›»

Sie sind die Schurken, die den schönen Helden das Leben zur Hölle machen: «In der Kinder- und Jugendliteratur ist das Dicksein die letzte Bastion der Diskriminierung», sagt die Literaturprofessorin Maren Conrad.

Elena Panagiotidis 6 min
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Dudley Dursley ist fies, eigensüchtig, faul – jede erdenkliche negative Charaktereigenschaft trifft auf ihn und seinen ebenso dicken Vater zu.

Dudley Dursley ist fies, eigensüchtig, faul – jede erdenkliche negative Charaktereigenschaft trifft auf ihn und seinen ebenso dicken Vater zu.

United Archives / Imago

«Dudley sah Onkel Vernon auffällig ähnlich. Er hatte ein breites, rosa Gesicht, nicht viel Hals, kleine wässrige blaue Augen und dichtes blondes Haar, das glatt auf seinem runden, fetten Kopf lag. Harry sagte oft, Dudley sehe aus wie ein Schwein mit Perücke.»

Mit dieser Beschreibung ist der Ton gesetzt, mit dem Dudley, der Cousin des Zauberschülers Harry Potter, in der gleichnamigen, weltweit über 500 Millionen Mal verkauften Jugendbuchreihe beschrieben wird. Dudley ist fies, eigensüchtig, faul – jede erdenkliche negative Charaktereigenschaft trifft auf ihn und seinen ebenso dicken Vater zu.

Weitere Beispiele für als fett beschriebene tyrannische Kinder sind Crabbe und Goyle, die ebenfalls in Harry Potter mitspielen. In «Charlie and the Chocolate Factory» von Roald Dahl ist es das «enorm fette» Kind Augustus Gloop, wie auch viele weitere negative Charaktere in den beliebten Büchern des britischen Schriftstellers «fett» sind. Im Disney-Zeichentrickfilm «Arielle» ist es die dicke Ursula, die der kleinen Meerjungfrau das Leben schwer macht.

«Dicksein ist eine Chiffre geworden für hässlich und dumm»

Umfragen und Studien zeigen immer wieder, dass dicke Menschen diskriminiert werden, in ihrem Umfeld, bei der Jobsuche oder auch von Medizinern. Das Phänomen, Menschen wegen ihres Äusseren abzuwerten, wird heute auch als «Fat-Shaming» oder «Body-Shaming» bezeichnet. Besonders übergewichtige Kinder leiden unter Mobbing und Hänseleien.

Die Darstellung von Dicken als dümmlich, komisch und gemein sei kein spezieller kinderliterarischer Topos, sondern in der Populärkultur sehr verbreitet, sagt auch Elisabeth Eggenberger, die am Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM) als Redaktorin für die Fachzeitschrift «Buch & Maus» arbeitet. Die Klischees und Vorurteile seien in den Köpfen vorhanden, und daher sei es nicht erstaunlich, dass sie auch in der Kinderliteratur zu finden seien. Allerdings werde bei Kinderliteratur sehr genau hingeschaut. «Sie soll pädagogisch wertvoll sein und mit Vorurteilen aufräumen, die im wirklichen Leben leider weiterhin vorhanden sind.»

Maren Conrad, Professorin für Kinder- und Jugendliteratur und ihre Didaktik an der Universität Köln, weist darauf hin, dass insbesondere bei «Harry Potter», aber auch in der Disney-Welt die Figuren stark von einer binären Vorstellung geprägt seien: Gut gegen Böse. Ähnlich wie in den Märchen der Brüder Grimm, wo immer klar sei, dass der Gute schön, der Böse dagegen hässlich und dumm sei.

Allerdings sei es nicht mehr opportun, sich über Menschen aufgrund ihres Alters, ihrer Ethnie, ihres Geschlechts oder einer Behinderung lustig zu machen. Daher sei insbesondere in der Kinder- und Jugendliteratur das Dicksein die letzte Bastion der Diskriminierung. «Da haben die Menschen das Gefühl, sie dürfen sich noch drüber lustig machen», sagt Conrad im Gespräch. «Dicksein ist eine Chiffre geworden für hässlich und dumm.»

«Schauen Sie mal die Clan-Szene an – alles ‹Dicke Michis›»

In der erfolgreichen Jugendbuchserie «Die wilden Kerle» ist es der «Dicke Michi», der die Protagonisten bedrängt: «Der stand plötzlich vor uns, in seinem Darth-Vader-T-Shirt, mit dem er mühsam versuchte, seine Speckschwarten am Weglaufen zu hindern. Sein Atem rasselte wie der eines uralten Pottwals, und seine Augen schossen wie glühende Laser aus den Fettfalten seines Gesichts . . .»

Warum hat ihn der Autor Joachim Masannek so beschrieben?

Am Telefon sagt Masannek dazu: «Die ‹wilden Kerle› gab es wirklich, die Jungs gab es in echt und den Michi auch. Der war einfach dick, warum sollte ich das in der Geschichte jetzt ändern?»

Einige Verlage sind in den letzten Jahren über die Bücher gegangen, um Textstellen zu identifizieren, die anstössig und diskriminierend sind. So wurde beispielsweise aus Pippi Langstrumpfs Vater der «Südseekönig», das N-Wort wurde gestrichen. Die Erben der Schriftstellerin Astrid Lindgren hatten sich einverstanden gezeigt.

Auch Masannek erzählt, dass der Verlag das Team der wilden Kerle diverser habe machen wollen. Er hätte dann noch einen «Ausländer» und ein «Mauerblümchen» hineinschreiben sollen. «Ich hab mich da aber stur gestellt. In Wirklichkeit mögen sich Freunde oft, weil sie sich eben ähnlich sind.»

Masannek verweist auf sein Aufwachsen im Ruhrgebiet der 1960er Jahre: Da seien die Leute einfach ruppiger und härter und nicht so politisch korrekt gewesen wie heute. Da sei man aufgrund seines Aussehens erst mal in eine Schublade gesteckt worden.

Mit dieser Argumentation dürfte Masannek wohl diejenigen auf seiner Seite haben, die sich gegen die Überarbeitung von Kinderbüchern aussprechen und den Versuch, diese rückwirkend zu zensieren. Der Autor argumentiert denn auch: «Der ‹Dicke Michi› war ein Tribut an die Authentizität, ich habe die Bücher so geschrieben, wie es damals war.»

Von übertriebener Wokeness hält Masannek nicht viel: «Man hilft niemandem, wenn man versucht, keinem auf die Füsse zu treten.» Man müsse Grenzen überschreiten, dicke Kinder gebe es nun mal. «Schauen Sie sich mal die Clan-Szene an in Berlin, die sehen so aus, das sind kräftige, böse Männer, alles ‹Dicke Michis›. Und die fühlen sich gar nicht so unwohl dabei.»

Der Autor sagt, dass in den Hunderten von Lesungen, die er in den vergangenen Jahren in Schulen gehalten habe, sich kein Kind über den «Dicken Michi» beschwert habe, ebenso wenig die Lehrer. «Auch die dicken Kinder im Publikum identifizieren sich mit den «wilden Kerlen», glaubt Masannek. «Denn die Werte, die die Bücher vermitteln, sind elementar wichtig.»

Fraglich ist natürlich, ob ein vielleicht ohnehin gehänseltes Kind den Mut aufbringt, sich auch noch öffentlich zu positionieren. Die amerikanische Autorin und Illustratorin Phoebe Wahl, die sich selbst als «fette Person» bezeichnet, schreibt in einem Essay: «Als pummeliges Kind sehnte ich mich in den Büchern, die ich konsumierte, nach der Darstellung von Körpern wie meinem eigenen. Und allzu oft blieb mein Hunger entweder ungestillt oder wurde mit Scham gestillt.»

Dicke Figuren werden unterkomplex dargestellt

Dicke Personen werden in der Literatur oft nicht nur als äusserlich abstossend und eben böse beschrieben, sondern auch sehr eindimensional. «Ganz oft haben dicke Figuren keinen komplexen Charakter, sondern sind die Witzfigur. Literaturgeschichtlich hatte diese Funktion zuvor die schwarze Figur inne», sagt die Professorin Conrad. Sie sei später durch die dicke Figur ersetzt worden. Durch ihre Anwesenheit stünden alle anderen Figuren viel besser da. «Tarzan aus ‹TKKG› sieht doppelt so sportlich aus, wenn das dicke Klösschen neben ihm nicht über die Mauer kommt.»

Nun ist das Klösschen, das eigentlich Willi heisst, keine unsympathische Figur. Ebenso wenig wie Justus Jonas aus «Die drei ???». Allerdings werden ihr Gewicht und ihr Essverhalten dauernd thematisiert, sie werden dargestellt, als ob ihre Gedanken nur ums Essen kreisten, sie werden belächelt und erhalten ständig Ratschläge für Diäten und Sport.

Identifikation statt Ideale

Dennoch habe sich viel getan in den vergangenen fünfzehn Jahren, was die Diversität angehe, erläutert Elisabeth Eggenberger vom SIKJM. «Bei Geschlechterstereotypen bewegt sich schon länger etwas, auch die Antirassismusdiskussion hat sich niedergeschlagen.» Was die Thematisierung von Körperformen und Behinderungen angehe, komme ebenfalls langsam etwas in Gang. Nicht immer seien die gutgemeinten Bücher zu diesen Themen aber auch die literarisch und künstlerisch interessantesten. «Da gibt es manchmal eine grosse Diskrepanz.»

Maren Conrad merkt an, dass es auch sehr schwer sei, Illustratoren zu finden, die Körpervielfalt zeichneten. «Schauen Sie sich mal die gängigen Wimmelbücher an, da sind alle Figuren gleich gross und normiert.» Sie sieht die Hauptaufgabe der Kinder- und Jugendliteratur darin, Identifikation zu bieten statt Ideale. «Will ich ein Ideal darstellen, dem sich alle annähern? Oder stelle ich Lebensrealität und Vielfalt dar?»

Conrad plädiert dafür, diverse Kindergruppen selbstverständlich in die Literatur zu integrieren. «Einfach mal ein dickes Kind oder ein schwarzes Kind oder eins mit Behinderung darzustellen, ohne dass es als anormal thematisiert wird.»

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