Strategisches Gegengewicht zum Giganten China? Indien sucht eine neue Rolle in Asien

Nach jahrzehntelanger Zurückhaltung scheint Indien bereit, eine strategische Führungsrolle in der Region zu übernehmen. Verbündete wie die USA setzen grosse Hoffnungen in die erwachenden Ambitionen Delhis.

Ulrike Putz, Tokio
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Viele Hoffnungen für die Indopazifik-Region ruhen derzeit auf Indien. Der Bevölkerungsgigant scheint gewillt, nach Jahren der aussenpolitischen Passivität sein strategisches Gewicht zunehmend in die Waagschale zu werfen und eine aktivere Rolle in der Region einzunehmen.

Viele Hoffnungen für die Indopazifik-Region ruhen derzeit auf Indien. Der Bevölkerungsgigant scheint gewillt, nach Jahren der aussenpolitischen Passivität sein strategisches Gewicht zunehmend in die Waagschale zu werfen und eine aktivere Rolle in der Region einzunehmen.

Dhiraj Singh / Bloomberg

Indien wird in diesem Winter hofiert: Anfang Dezember reiste Russlands Präsident Wladimir Putin nach Delhi. Dass der Besuch erst seine zweite Auslandsreise seit Beginn der Pandemie war – die erste führte ihn nach Genf, wo er auf US-Präsident Joe Biden traf –, unterstrich die Bedeutung der Staatsvisite. In Delhi angekommen, schmeichelte Putin seinem Gastgeber Narendra Modi mit Ehrbezeugungen: «Wir sehen Indien als eine Grossmacht», so der Präsident.

Nur wenige Wochen zuvor hatten sich die USA ähnlich wertschätzend geäussert. Kurt Campbell, Bidens Koordinator für die Indopazifik-Region im Rat für nationale Sicherheit, bezeichnete Indien Ende November als einen der wichtigsten Staaten der Welt im 21. Jahrhundert. «Ich erwarte Grosses von Indien. Ich denke, wir alle erkennen, dass Indien das zentrale, wichtigste Mitglied der Quad-Gruppe ist», sagte Campbell im November in Washington. Quad ist die Abkürzung für den quadrilateralen Sicherheitsdialog zwischen den USA, Japan, Australien und Indien. Ziel des Zusammenschlusses ist es, eine «freie und offene» Indopazifik-Region zu gewährleisten.

Dass sowohl Russland als auch die USA sich derzeit explizit um Indien bemühen, liegt an der strategischen Bedeutung, die dem Bevölkerungsgiganten mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern zugesprochen wird. Indien gilt als das einzige Land in Asien, das China und seinem – zwar vehement abgestrittenen, aber tatkräftig vorangetriebenen – Anspruch, als Hegemonialmacht die Region zu dominieren, etwas entgegensetzen kann. Das macht den Subkontinent einerseits zum Wunschpartner für die Indopazifik-Politik der USA und ruft andererseits die Russen auf den Plan, die verhindern wollen, dass Delhi gar zu sehr unter den Einfluss Washingtons gerät.

Bisheriger Fokus auf Nichteinmischung und strategische Unabhängigkeit

Das Werben um Indien liegt darin begründet, dass Indien neuerdings gewillt scheint, die strategische Machtstellung, die andere dem Land schon länger zusprechen, für sich anzunehmen und auszufüllen. Dazu war ein grösserer Paradigmenwechsel in der indischen Aussenpolitik notwendig: Der Grundpfeiler, auf dem der erste Premierminister nach der Staatsgründung, Jawaharlal Nehru, die Aussenpolitik Indiens aufbaute, war es, die neu gewonnene Unabhängigkeit zu wahren und das Prinzip der Nichteinmischung hochzuhalten. Vor diesem Hintergrund vermied Delhi es, während des Kalten Krieges militärisch-strategische Bündnisse einzugehen. Statt sich auf eine Seite zu schlagen, unterhielt Indien gute Beziehungen sowohl mit dem Westen als auch mit der Sowjetunion – daher die nach wie vor guten Beziehungen zu Russland – und wahrte seine strategische Autonomie. Nehru initiierte die Gründung der Bewegung der blockfreien Staaten.

Mahatma Gandhi (rechts) und Jawaharlal Nehru, Indiens erster Premierminister, waren massgeblich für die Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft 1947 verantwortlich.

Mahatma Gandhi (rechts) und Jawaharlal Nehru, Indiens erster Premierminister, waren massgeblich für die Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft 1947 verantwortlich.

Reuters

Der Kollaps der Sowjetunion und die damit einhergehende Neuordnung der politischen Weltkarte zwangen Delhi zumindest wirtschaftlich aus seiner Politik der Zurückhaltung heraus. Die Regierung von P. V. Narasimha Rao entwickelte 1991 die «Look East»-Politik. Die strategische und wirtschaftliche Bedeutung Südostasiens für die nationalen Interessen Indiens sollte anerkannt und Indien stärker ins rege Wirtschaftsleben Asiens eingebunden werden. So haben Indien und die Länder der Asean-Gruppe sich seit 1992 stetig angenähert, seit 2002 halten sie jährlich Gipfeltreffen ab.

Doch während Indien seine Wirtschaft vorsichtig gegenüber seinen Nachbarn öffnete, beharrte es auf seiner strategischen Unabhängigkeit. Analysten sagen, dass Indien in den Jahren nach seiner Öffnung zu sehr mit innenpolitischen Problemen beschäftigt war, um eine Vision für eine neue Aussenpolitik zu entwickeln. Tatsächlich verschliss der Subkontinent zwischen 1989 und 1999 sieben Premierminister. Während das autokratische China ein atemberaubendes Wirtschaftswachstum an den Tag legte und Tatsachen schuf, indem es Dutzende Abkommen für strategische Partnerschaften abschloss, betrieb das demokratische, aber ineffektive Indien Nabelschau.

Mit Modi vom blockfreien zum multialliierten Staat

Das änderte sich, als 2014 der Hindu-Nationalist Narendra Modi an die Macht kam. Durch einen überwältigenden Wahlsieg selbstbewusst gemacht, verkündete er 2014, dass er die «Look East»-Politik zur «Act East» ummodeln werde: Dem Blick nach Osten sollten nun Taten folgen. Fortan sollten nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die strategischen Beziehungen zu den Nationen Südostasiens gepflegt werden.

Mit der «Act East» manifestierte Delhi den Anspruch, in einem multipolaren Asien als das schwerste von mehreren Gegengewichten zur Volksrepublik China in Aktion zu treten. Modi, der seine Macht bei der Wahl 2019 noch ausbauen konnte, hatte seitdem die Zeit und den Rückhalt, diese Politik umzusetzen. «Indien ist in den vergangenen Jahren von einem blockfreien zu einem multialliierten Staat geworden», sagt Brahma Chellaney, Experte für geopolitische Strategie in Delhi.

Doch bevor es so weit habe kommen können, habe sich das Sicherheits-Establishment in Indien zunächst gänzlich umorientieren müssen, sagt Alexander Neill, Gründer der gleichnamigen, auf Geopolitik in der Indopazifik-Region spezialisierten Beraterfirma. Jahrzehntelang hätten Indiens Militärs vornehmlich in Richtung Westen, auf den Erzfeind Pakistan, geschaut. Die Bedrohung, die von dem atomar bewaffneten Nachbarn ausgehe, habe die Aufmerksamkeit der Strategen in Delhi vollends absorbiert. Doch von der Jahrtausendwende an drängte ein anderes Thema langsam, aber sicher ins Bewusstsein der Sicherheitspolitiker: China.

Unter Premierminister Narendra Modi rückt Indien militärisch wieder näher an Washington heran, nicht zuletzt wegen des jüngst resoluteren Auftretens Chinas. Im Bild die Parade der indischen Luftwaffe vom 8. Oktober in Uttar Pradesh.

Unter Premierminister Narendra Modi rückt Indien militärisch wieder näher an Washington heran, nicht zuletzt wegen des jüngst resoluteren Auftretens Chinas. Im Bild die Parade der indischen Luftwaffe vom 8. Oktober in Uttar Pradesh.

T. Narayan / Bloomberg

Chinas zunehmender Einfluss in der Region

«Der Paradigmenwechsel in Delhi ist als Antwort auf das muskulöse und revisionistische Auftreten Chinas zu verstehen», sagt der Analyst Chellaney. Dabei waren es zum einen chinesische Aktivitäten auf dem tibetischen Hochplateau, die in Indien für zunehmende Unruhe sorgten. Der Bau von – auch für militärische Zwecke nutzbaren – Strassen, Eisenbahnlinien und Siedlungen im Hochgebirge wurde als bedrohlich empfunden, zumal einige der Projekte in Rufweite von der umstrittenen Demarkationslinie zwischen China und Indien hochgezogen wurden. 1967 hatten Grenzstreitigkeiten zu einem kurzen Krieg zwischen Indien und China geführt. Die wachsende Spannung an der Grenze entlud sich in den vergangenen Jahren in mehreren Zusammenstössen zwischen Armeeangehörigen der beiden Nationen. Bei dem blutigsten Zwischenfall der jüngsten Zeit kamen im Juni 2020 Dutzende Soldaten beider Nationalitäten um.

Ein indischer Militärkonvoi transportiert im September 2020 Verstärkung und Material in die indisch-chinesische Grenzregion im Galwan-Tal, wo bei einem Zusammenstoss im vergangenen Jahr zwanzig indische Soldaten getötet wurden.

Ein indischer Militärkonvoi transportiert im September 2020 Verstärkung und Material in die indisch-chinesische Grenzregion im Galwan-Tal, wo bei einem Zusammenstoss im vergangenen Jahr zwanzig indische Soldaten getötet wurden.

Yawar Nazir / Getty

Auch abseits von Tibet beobachtete Delhi mit Sorge, wie China in Indiens Peripherie Fuss fasste. Durch grosszügige Investitionen im Rahmen der neuen Seidenstrasse vermochte es zwei direkte Nachbarn Indiens – Myanmar und Pakistan – eng an sich zu binden. In Pakistan, Myanmar und auch auf Sri Lanka baute China grosse Häfen am Indischen Ozean – ein Gewässer, als dessen Schutzmacht sich das namengebende Indien traditionell sieht. In den letzten Jahren sind chinesische Kriegsschiffe und U-Boote bis weit in den Indischen Ozean hinein vorgedrungen.

«Indien fühlt sich dadurch zunehmend eingeengt und hat in den vergangenen zwei, drei Jahren gemerkt, dass es nicht länger nur nach Westen schauen kann», so der Strategieexperte Neill. Tatsächlich hat Indien in der jüngsten Zeit militärisch die enge Kooperation mit Partnern in der Region gesucht. Im vergangenen Herbst lud es erstmals auch Australien zum jährlich stattfindenden Malabar-Manöver zur See ein. Ebenfalls im vergangenen Jahr unterzeichnete Delhi ein Abkommen zur gegenseitigen logistischen Unterstützung der Streitkräfte mit Australien und Japan.

Hoffnungen auf ein stärkeres Indien im Westen

Das neu erwachte Interesse der Inder, mit den Demokratien in der Region strategische Partnerschaften einzugehen und so den Machtanspruch Chinas einzudämmen, stösst bei potenziellen Partnern auf offene Ohren. Bereits US-Präsident Trump sah die Indopazifik-Region als zentralen Schauplatz der Auseinandersetzung mit China. Seit 2016 versuchen die USA und Japan, gleichgesinnte Staaten unter dem Dach des losen Bündnisses «Freier und offener Indopazifik» (Foip) zu versammeln, um ihre Eindämmungspolitik zu koordinieren. Dass der Koloss Indien sich endlich entschlossen zu haben scheint, in dieser Sache sein Gewicht in die Waagschale zu werfen, wird mit einer Mischung aus Wohlwollen und Erleichterung gesehen. Trump bezeichnete Indien im vergangenen Jahr als einen zentralen Pfeiler der Aussenpolitik der Vereinigten Staaten.

Trumps Aussenminister Mike Pompeo ermunterte Delhi, sich auch auf wirtschaftlichem Gebiet gegenüber Peking zu behaupten: Indien solle Wertschöpfungsketten von China abwerben und seine Abhängigkeit von chinesischen Waren in Feldern wie etwa der Telekommunikation oder der medizinischen Versorgung verringern. In Indien schürten solche Ermunterungen die Hoffnung, dass das heimische produzierende Gewerbe vielleicht doch demnächst der chinesischen Konkurrenz das Wasser reichen könnte. Modis «Make in India»-Kampagne war in dieser Hinsicht – gehemmt von Bürokratie und Korruption – bisher nur mässig erfolgreich. Indiens Aussenminister Subrahmanyam Jaishankar sah angesichts des grossen Zuspruchs aus Washington gar schon ein neues Zeitalter heranziehen: Amerika und Indien hätten «heute in der Zusammenarbeit die Möglichkeit, die Welt zu formen», sagte er 2020.

Präsident Biden, der die Einhegung Chinas mit Elan weiterbetreibt, will womöglich Indiens Schlagkraft im Kontext des Quad-Formats auch militärisch nutzen. In diesem Jahr hat er dem Dialog, der seit der Gründung der Gruppe ein wenig energetisches Dasein fristete, neues Leben eingehaucht. Bei gleich zwei Gipfeltreffen der Quad-Staatschefs – eines virtuell, eines persönlich – wurde deutlich, wie gross die Hoffnungen sind, die der Paradigmenwechsel in Indien geschürt hat. In der Vergangenheit habe Indiens Politik der strategischen Autonomie verhindert, dass die Quad-Staaten zu einer Art asiatischer Nato geworden seien, beklagte das US-Sicherheitsrats-Mitglied Campbell. Doch das müsse nicht so bleiben: «Der Moment ist gekommen, in dem man kreativ und strategisch darüber nachdenkt, was zwischen den USA und Indien möglich ist.»

Am 24. September trafen sich die Regierungschefs der USA, Indiens, Japans und Australiens im Weissen Haus zum ersten Mal physisch im Rahmen des quadrilateralen Sicherheitsdialogs («Quad»).

Am 24. September trafen sich die Regierungschefs der USA, Indiens, Japans und Australiens im Weissen Haus zum ersten Mal physisch im Rahmen des quadrilateralen Sicherheitsdialogs («Quad»).

Sarahbeth Maney / Bloomberg

Neue wirtschaftliche Dachorganisation im Indopazifik?

Auch die von Pompeo in Aussicht gestellte wirtschaftliche Abgrenzung von China soll unter Biden vorangetrieben werden. Die USA planten, eine neue wirtschaftliche Dachorganisation im Indopazifik zu gründen, kündigte die amerikanische Handelsministerin Gina Raimondo im November an. Details sind noch nicht bekannt, anzunehmen ist aber, dass es sich dabei um eine Art Gegenentwurf zu zweierlei Abkommen handeln soll: Da ist zum einen der Wirtschaftsverband RCEP, der per 1. Januar in Kraft treten wird und von China schon allein aufgrund der schieren Grösse und Wirtschaftsmacht dominiert werden dürfte. Bei RCEP sind fünfzehn Staaten des Indopazifiks zur weltweit grössten Freihandelszone zusammengeschlossen. Die USA sind nicht dabei, und auch Indien hatte es – aus Angst, seinen Markt von zollfreien chinesischen Produkten überschwemmt zu sehen – abgelehnt.

Auch bei der 2018 ins Leben gerufenen transpazifischen Partnerschaft CPTPP fehlen mit China, den USA und Indien derzeit noch die grössten Volkswirtschaften der Region. Doch Peking hat jüngst einen Aufnahmeantrag gestellt und könnte schon bald auch in diesem Netzwerk eine gewichtige Rolle spielen. Mit einem neuen, unter Führung der USA geschlossenen Abkommen, bei dem das Schwergewicht Indien mit an Bord wäre, würden die Karten in der Region neu gemischt.

Delhi scheint gewillt, seine Muskeln spielen zu lassen. Doch es muss bedenken, dass China in diesem Jahr die Vereinigten Staaten als Indiens wichtigsten Handelspartner abgelöst hat – wobei Delhi gegenüber Peking ein Handelsbilanzdefizit von etwa 60 Milliarden Dollar jährlich hat. Die Selbstbehauptung des riesigen Vielvölkerstaats muss also vorsichtig gestaltet werden, denn auch wenn sie sich nicht grün sind, verbinden viele Bande die Nachbarn Indien und China. Auf Narendra Modi wartet ein Drahtseilakt.

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