Ukraine-Krieg, Mobilmachung und Annexion: Der russische Goliath ist irritiert und verschlechtert seine Zukunftsaussichten

Hunderttausende Zwangsrekrutierte und ähnlich viele gut qualifizierte Flüchtende: Der Krieg ist nicht nur eine humanitäre Katastrophe, er beschädigt auch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aussichten. Das zeigen persönliche Schicksale und nackte Zahlen auf beiden Seiten.

Peter A. Fischer
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In Russland befinden sich mehr als drei Mal so vielen Männer im wehrfähigen Alter als in der Ukraine.

In Russland befinden sich mehr als drei Mal so vielen Männer im wehrfähigen Alter als in der Ukraine.

AP

Wladimir Putin hat den Einsatz nochmals deutlich erhöht. Nachdem das Szenario «Putin verliert» immer wahrscheinlicher geworden war, konnte man hoffen, dass der Kremlherr aus der Not eine Tugend machen würde. Er hätte Hand zu Verhandlungen bieten können, die ihm vielleicht einen Teil seiner Beute gesichert und es ermöglicht hätten, dies gegenüber seinen Unterstützern als Sieg zu verkünden.

Doch Putin, der wohl nichts so sehr fürchtet wie ein Ende seiner Herrschaft, hat sich dazu entschieden, jetzt erst recht Angst und Schrecken zu verbreiten. Er hat eine (Teil-)Mobilisierung angeordnet und die vier zum Osten der Ukraine gehörenden Provinzen kurzerhand als zu Russland gehörig annektiert – obwohl sein Militär diese nicht vollständig kontrolliert.

Putin okkupiert einen grossen Teil der Ostukraine, den sein Militär noch nicht vollständig besetzt hält

Putin okkupiert einen grossen Teil der Ostukraine, den sein Militär noch nicht vollständig besetzt hält

Putin und seine Entourage haben sich um das Leben und Sterben des einfachen Volkes noch nie sonderlich gesorgt. Sie setzen offensichtlich darauf, dass der Goliath Russland mit genügend Einsatz von Menschenmaterial doch noch obsiegt. Der Westen soll eingeschüchtert und zermürbt werden, bis er seine Unterstützung für die geschundenen, nach Europa strebenden Ukrainer aufgibt.

Dem eigenen Volk hämmert die abwegige Propaganda nicht mehr «nur» ein, die Ukraine müsse vor einem «faschistischen» (weil Russland nicht gefügigen) Regime befreit werden. Nun geht es darum, in einem patriotischen Willensakt die Heimat gegen die Nato und den Westen zu verteidigen, der angeblich nicht weniger als Russland zerstören will. Wer nicht mitmacht, ist ein Landesverräter und gehört ins Straflager geschickt.

Es droht ein kalter, blutiger Winter. Weil beide Seiten militärisch gesehen ihre Stärken und Schwächen haben und nicht sicher ist, dass die ukrainische Offensive oder die russische Mobilisierung entscheidende Veränderungen bringt, könnte sich dieser Krieg in die Länge ziehen. Was aber bedeutet das für die gesellschaftliche, demografische und wirtschaftliche Entwicklung beider Länder?

Oleg will keine Ukrainer umbringen

Oleg (Name geändert) sympathisierte mit dem Oppositionellen Nawalny und hatte versucht, einem parteilosen Lokalpolitiker zu helfen. Doch als das Umfeld immer repressiver wurde und er zum Schluss kam, dass er doch nichts ändern konnte, resignierte er und schloss für sich mit der Politik ab. Den Überfall auf die Ukraine erachtet er als eine menschliche und wirtschaftliche Katastrophe. Er sagt: «Wir verlieren drei Jahrzehnte Entwicklung und Modernisierung.» Von der Mobilmachung erfuhr Oleg an seinem Arbeitsplatz in der Bank. Für ihn war klar: «Ich bin bereit, ins Gefängnis zu gehen, aber ich ziehe nicht in den Krieg und bringe keine Ukrainer um. Ich glaube, ich muss fliehen.»

Oleg ging nach Hause und besprach sich mit seiner Frau. Er wollte Russland den Rücken kehren, über die Grenze nach Georgien fliehen. Doch seine Frau fand, ihr Sohn müsse weiter zur Schule gehen, flüchten sei sehr schwer, niemand würde Russen wie sie mehr aufnehmen und ihnen helfen wollen, sie jedenfalls bleibe, er müsse alleine gehen, wenn er unbedingt wolle.

Seither ist Oleg hin- und hergerissen. Bei der Bank haben sie ihm gesagt, dass man IT-Leute wie ihn am Arbeitsplatz brauche; er werde bestimmt nicht eingezogen. Von der Grenze hat er Gerüchte gehört, dass Männer wie er, die ins Ausland flüchten wollten, gleich eingezogen und in den Krieg geschickt würden. Nun bleibt Oleg vorerst bei seiner Familie und schwankt zwischen Hoffnung und Resignation. Aber in den Krieg ziehen will er ganz bestimmt nicht.

Denis versteht seine Mutter nicht mehr

Anders sieht das Denis (Name geändert), der mit seiner Familie ebenfalls in einer Grossstadt wohnt. Mit der Politik hatte er bisher nicht viel am Hut. Er sagte sich, Hauptsache sei, es herrsche Stabilität, und die Politik störe ihn nicht. Aber seine Frau arbeitet beim Zoll, und er ist wie sie der Ansicht, dass Putin recht hat: Russland soll der Welt zeigen, dass man ihm nicht auf der Nase herumtanzen darf. Mit seiner Mutter, die im Internet ukrainische und westliche Informationen liest und sehr regimekritisch eingestellt ist, spricht er nicht mehr über das Thema, seit er ihr gesagt hat, sie sei eine Landesverräterin. Angst, eingezogen und von seinem jungen Sohn getrennt zu werden, hat Denis dennoch. Aber sollte es dazu kommen, will er sich nicht wehren.

David gegen Goliath

Anzahl Männer pro Altersgruppe, in Tausend
Ukraine
Russland

Ein Grossteil der Russen hatte noch zu Jahresbeginn nicht geglaubt, dass Putin die Ukraine angreifen würde. Als es dennoch geschah, unterstützten das vielleicht 15 bis 20 Prozent aktiv, 15 bis 20 Prozent wünschten sich nichts sehnlicher als ein Ende von Putins Regime, und der grosse Rest tat, was er gewohnt ist zu tun: Er versuchte die Politik möglichst zu ignorieren und steckte den Kopf in den Sand. Zumindest dieser Teil erwartete auch keine Mobilmachung. Nun hat sich für diese Gruppe die Situation fundamental geändert.

Die Reaktion von Oleg und Denis darauf dürfte nicht untypisch sein. Von aussen schwer zu beurteilen ist, wohin die Mehrheit neigt. Motivierte Kämpfer werden beide Typen nicht werden. Im Kampf zwischen Russland und der Ukraine ist Russland zwar aufgrund seiner mehr als drei Mal so vielen Männer im wehrfähigen Alter der Goliath. Doch für den Riesen ist nicht nur die fehlende Motivation eines Grossteils seiner Soldaten, sondern auch seine im Vergleich zur Wirtschaftskraft längst überdimensionierte Armee ein Problem.

Der Einsatz wird hoch und höher

Mobilisierte im Ukraine-Krieg im Vergleich zu den vorher erwerbstätigen Männern, in Prozent
Minimum
Maximum

Russland hat in der Geschichte immer wieder seine besten jungen Leute verloren. Die Schätzungen über die Zahl der im Ukraine-Krieg bisher Getöteten und Verwundeten gehen weit auseinander; die gewöhnlich gut informierten USA rechnen mit 60 000 bis 80 000 Mann. Das würde einer Ausfallrate von rund einem Drittel der eingesetzten Truppen entsprechen.

Geht man davon aus, dass mit der Mobilisierung tatsächlich «nur» die angekündigten zusätzlichen 300 000 Mann in den Krieg geschickt werden, entspricht das Aufgebot zusammen mit den bereits eingesetzten Truppen rund 6 Prozent der männlichen Erwerbstätigen, die jünger als 30 sind, oder 3 Prozent der unter 40-Jährigen. Doch einiges deutet darauf hin, dass Russland noch deutlich mehr Männer in den Krieg schicken könnte. Pro Jahr wird in Russland rund eine Viertelmillion Männer zu Soldaten ausgebildet. Nähme man die vergangenen zwei Jahrzehnte als Grundlage, könnten bis zu 3 Millionen Menschen mobilisiert werden. Das würde dann deren Anteil bereits auf 40 Prozent der bis 29-Jährigen bzw. 17 Prozent der unter 40-Jährigen erhöhen.

Dazu kommen die bereits jetzt Hunderttausenden ins Ausland Geflüchteten. Bei ihnen handelt es sich in der Mehrheit um besonders unternehmerische, gut ausgebildete junge Männer und Frauen, die ihr zynisches Regime nicht nur durchschaut haben, sondern auch über die Mittel und Fähigkeiten zu einer Flucht verfügen (wäre der Westen weitsichtig, müsste er sie eigentlich mehr unterstützen und willkommen heissen, statt die Grenzen dichtzumachen).

Verheerende Kriegswirtschaft

Wenn auch seriöse Schätzungen schwierig sind, so ist doch klar, dass der Ukraine-Krieg die Zahl der für die Zukunft Russlands wichtigsten Erwerbstätigen substanziell zu reduzieren droht. Dazu kommt ein zweiter Effekt: Der Kreml will das Land auf Kriegswirtschaft umstellen. Statt Landwirtschaftsmaschinen und Zukunftstechnologie sollen wieder Panzer und Munition hergestellt werden. Putin wiederholt geradewegs die Fehler, die zum Untergang der Sowjetunion geführt haben: Russland schottet sich ab, und seine Rohstoffressourcen werden verpulvert für eine überdimensionierte, veraltete Rüstungsindustrie und eine grösstenteils staatlich kontrollierte Kriegswirtschaft; das private Unternehmertum wird marginalisiert.

Das führt zwar nicht geradewegs in den Untergang. Der Internationale Währungsfonds (IMF) prognostiziert Russland für dieses Jahr einen Wirtschaftseinbruch um 6 Prozent. Es dürfte etwas mehr werden. Doch es sind vor allem die Zukunftsaussichten, die sich mit der Eskalation im Ukraine-Krieg verdüstern. Der irritierte Goliath sorgt derzeit selbst dafür, dass er in Zukunft schwach und schwächer wird. Die entscheidende Frage ist, wie lange Elite und Bevölkerung noch zusehen und aus lauter Furcht vor dem immer ruchloser repressiven Regime mitmachen. Solange es zu keinem Wandel kommt, entwickelt sich Russland rasant rückwärts.

Schlimmere Schäden, aber eine andere Gesellschaft in der Ukraine

Noch um einiges schlimmer ist die Situation in der Ukraine. Die rund eine Million eingezogenen Wehrpflichtigen entsprechen zwei Drittel der unter dreissigjährigen Männer, die zuvor erwerbstätig waren, und knapp einem Drittel der unter vierzigjährigen. Allerdings sind in der Ukraine auch mehr Frauen und Ältere im Einsatz. Der Fokus der Armeeführung liegt nun darauf, sie mit westlicher Hilfe besser auszurüsten und auszubilden.

Die Ukrainer zahlen einen schrecklichen Blutzoll dafür, dass sie keine Kremlherrschaft wollen, für mehr Freiheit und Rechte als in Putins Russland kämpfen und ihre Zukunft in Europa sehen. Die Zahl ihrer im Krieg Verstorbenen und Verwundeten bewegt sich wohl in ähnlichen Dimensionen wie bei den Russen. Wichtige Teile der Infrastruktur sind im ganzen Land beschädigt oder zerstört; Schätzungen gehen von Wiederaufbaukosten von 350 bis 750 Milliarden Dollar aus – bei einer Wirtschaftsleistung von derzeit schätzungsweise noch 100 Milliarden Dollar pro Jahr.

Mit einem Drittel der Bevölkerung, die ins Ausland oder in den Westen der Ukraine geflohen ist, und mit grossen Teilen der wirtschaftlichen Infrastruktur, die von den Russen und durch den Krieg lahmgelegt wurden, wirkt es schon fast wie ein Wunder, dass die Verwaltung und die Wirtschaft in der Ukraine nicht völlig zusammengebrochen sind und auch das Sozialsystem noch einigermassen funktioniert. Der IMF rechnet für dieses Jahr mit einem Rückgang der ukrainischen Wirtschaftsleistung um einen Drittel.

Olexandra kämpft

Was das heisst, weiss auch Olexandra. «Wir versuchen hier in Kiew nach dem Schock im Frühling wenigstens einigermassen so zu tun, als könnten wir wieder fast normal leben», erzählt sie.

Olexandra ist russischsprachig in Simferopol auf der Krim aufgewachsen. Die Familie ihres Vaters lebte schon seit sechs Generationen dort. Als 12-Jährige habe sie gemerkt, dass ihre Geschichtslehrer sie angelogen hätten, als sie Moskau als ihre Hauptstadt bezeichnet hätten, erzählt Olexandra. Das fand sie empörend. Daraufhin habe sie auch Ukrainisch gelernt. Ihren Eltern erzählte sie nichts, als sie während des Studiums in Kiew einen Monat lang die erste orange Revolution aktiv unterstützte. Als Putin 2014 die Krim okkupiert habe, sei sie schon in Kiew gewesen. Dann seien die Eltern zu ihr nach Kiew geflüchtet. Der Vater habe das Haus in Simferopol noch verkaufen können; mit Abschlag zwar, aber immerhin.

Die gut Dreissigjährige erzählt, sie habe gehofft, dass die Krim wieder ukrainisch werde, wenn die Leute sähen, dass ein Leben unter einem ukrainischen Regime, welches den Rechtsstaat achte und die Menschen schütze, viel besser und humaner sei als Putins Gewaltherrschaft. Inzwischen sei aber so viel Schreckliches passiert, dass sie jedes Mal zusammenzucke, wenn irgendwo auf ihrem Mac-Laptop oder auf einer Verpackung eine russische Flagge auftauche. Im Angesicht des jederzeit möglichen Todes seien sie halt alle in einem psychischen Ausnahmezustand, seufzt sie und unterdrückt eine Träne. Doch dann fügt sie resolut an, sie wolle kämpfen wie alle anderen auch. Sie wisse nun: «Dieser Krieg ist erst dann wirklich zu Ende, wenn der Anfang rückgängig gemacht und die Krim wieder befreit ist.»

Olexandra arbeitet für die ukrainische Verwaltung. Sie tue dabei auch viel fürs Militär und fühle sich deswegen auch etwas mobilisiert, obwohl sie dies nicht sei, erzählt sie. «Wenn dem nicht so wäre, würde ich mich sofort zum Dienst melden», betont die Mutter eines jungen Sohnes. «Für die Zukunft meines Landes und die meines Sohnes.»

Auf den Westen kommt es an

Anders als die russische hat die ukrainische Armee kein Motivationsproblem, auch nicht bei ihrer russischsprachigen Bevölkerung. Doch wenn das Land wirtschaftlich nicht zusammenbrechen und die Armee die Invasoren zumindest zum grössten Teil zurückdrängen soll, ist es auf (mehr) Unterstützung aus dem Westen angewiesen.

Mit der Mobilisierung und den Anspielungen auf sein atomares Potenzial versucht Putins irritierter Goliath dem Westen zu drohen. Geschwächt wie er ist, ist dieser Goliath gefährlich. Aber Olexandra und Oleg haben es verdient, dass der Westen gegenüber Putin klug und standhaft bleibt und sie jetzt nicht im Stich lässt.