«Büschù ùmmi mit de Fabienne ga karysiere?» – wie eine einzigartige Schweizer Mischsprache ums Überleben kämpft

Geprägt von kultureller Vielfalt und Armut hat sich in Freiburgs Unterstadt der Soziolekt «Bolz» etabliert – und mit ihm stolze Bewohner, die sich selbst vor dem Armeechef nicht fürchten.

Antonio Fumagalli (Text), Roland Schmid (Bilder), Freiburg 8 min
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In der Freiburger Unterstadt wird Bolz, eine Mischung aus Schweizerdeutsch und Französisch, gesprochen – immer noch, aber immer weniger.

In der Freiburger Unterstadt wird Bolz, eine Mischung aus Schweizerdeutsch und Französisch, gesprochen – immer noch, aber immer weniger.

«Purggua chùschù ùmmi a so spaat a la Mesong, Ptyfreer? Büschù
ùmmi mit de Fabienne ga karysiere?» – «No noong, riäingn a wuaar! I bü i d Mess de Mynüit ggange!»

(«Warum kommst du so spät nach Hause, kleiner Bruder? Hast du wieder mit Fabienne geflirtet?» – «Nein, nein, ganz und gar nicht. Ich war doch in der Mitternachtsmesse!»)

Nun, der Dialog zwischen den Geschwistern ist frei erfunden. Aber er könnte sich in der Freiburger Unterstadt so zutragen. Dort, wo die «Bolz» wohnen, wo «Bolz» geredet wird, wo Sprache, Kultur, Identität und Stolz ineinander verschmelzen. Noch immer, zumindest ein wenig – aber wie lange noch?

Bis Mitte des 20. Jahrhunderts gehörte die «Basse-Ville» zu den ärmsten Gegenden der gesamten Schweiz. Aus dem Umland, insbesondere aus dem deutschsprachigen Sensebezirk, waren jahrzehntelang verarmte Bauern in die beiden Quartiere Au und Neustadt hinzugezogen. Bern war ihnen zu protestantisch und die anderen Freiburger Bezirke zu französisch. Sie schlugen sich durch, wie es gerade ging – als Handwerker, Lädeli-Besitzer oder Tagelöhner. Aus Angst vor sozialistischen Unruhen sorgte die damals noch allmächtige CVP dafür, dass sich keine nennenswerte Industrie ansiedeln konnte.

Die Bevölkerung lebte auf engstem Raum, bis zu fünfzehn Familienmitglieder manchmal in kleinen Wohnungen. Die Toilette befand sich im Treppenhaus, geduscht wurde – einmal wöchentlich – im öffentlichen Bad oder gleich direkt in der nahen Saane. Alkoholismus, Promiskuität, Krankheiten gehörten zum Alltag. Nur an Kindern mangelte es nicht.

Zwei Varianten – Bolz und «bolze»

Der Nährboden war ideal, um eine eigene Kultur mitsamt linguistischen Eigenheiten entstehen zu lassen. «Das Bolz ist ein klassischer Fall eines sogenannten Soziolekts, also einer Sprache, die innerhalb einer sozial definierten Bevölkerungsgruppe verwendet wird. Untypisch ist, dass sie einen Namen hat», sagt die Sprachwissenschafterin Claudine Brohy.

Sie hat das Bolz erforscht: die Sprachwissenschafterin Claudine Brohy.

Sie hat das Bolz erforscht: die Sprachwissenschafterin Claudine Brohy.

Zwei Varianten existieren von der Stadtfreiburger Mundart – das «bolze» mit der französischen und das Bolz mit der schweizerdeutschen Ausgangssprache.

«Elle se trouve où, ta moutr?», fragt die welsche Stéphanie. «Si isch mit iiras Ggopyna ga patyniere», antwortet der deutschsprachige Peter.

(«Wo ist deine Mutter?» – «Sie ist mit ihren Freundinnen eislaufen gegangen.»)

Weil Französisch in Freiburg die Mehrheitssprache darstellt, passen sich die Bewohner mit schweizerdeutschem Hintergrund eher an. Dies führe dazu, dass das deutsche Bolz kreativer sei, sagt die frühere Dozentin. Will heissen: Dem Französischen werden mehr Wörter entlehnt. Nicht selten werden dabei die Verb-Endungen eingedeutscht – «patiner» wird etwa zu «patyniere».

Die Verachtung machte sie zu Rebellen

Man geht davon aus, dass der Begriff «Bolz» etymologisch von «Bold» abstammt. Die deutsche Sprache hat daraus den Trunkenbold, den Raufbold oder den Witzbold gebildet – zumeist wenig schmeichelhafte Begriffe, die bestens zu dem Bild passen, das der Rest der Freiburger von den Unterstädtern hatte. «Bolz» ist der Sammelbegriff nicht nur für die Mischsprache, sondern auch für die Bevölkerung.

Die Saane: Der Grenzfluss zwischen der Deutsch- und der Westschweiz mäandriert durch die Freiburger Unterstadt.

Die Saane: Der Grenzfluss zwischen der Deutsch- und der Westschweiz mäandriert durch die Freiburger Unterstadt.

Denn unten zu sein, das war lange Zeit nicht einfach nur ein topografischer Fakt. Mit Verachtung schauten die wohlhabenderen Leute von den Quartieren rund um die Universität oder den Bahnhof auf «les Bolzes» hinunter. Spätestens als im 19. Jahrhundert die beiden hohen Brücken über die Saane gebaut waren, gab es kaum mehr einen Grund, in die Misere der «Basse-Ville» hinunterzusteigen. Lediglich das Freibad – die «Pissina» – und die 1941 erstellte, dem Hockey-Club Gottéron als erstes Heimstadion dienende Eisbahn lockten die Jugend dann und wann an. «Wir Mädchen ‹patinierten› jeweils im Kreis und warteten, bis uns ein Junge auf eine Runde einlud», sagt die in der Oberstadt aufgewachsene Claudine Brohy.

Die da unten wiederum entwickelten aus der erlittenen Segregation einen Stolz, ja eine Art Rebellentum. Niemand verkörpert diesen Habitus besser als Hubert Audriaz. Mit wehendem Haar flitzt er auf seinem Töffli über die Pflastersteine der mittlerweile herausgeputzten Altstadt. Einen Helm trägt er nicht, wieso auch. «Kluge Köpfe schützen sich. Ich habe keinen klugen Kopf», sagt er und lacht. In Freiburg ist er derart bekannt, dass «La Liberté» vor sieben Jahren prominent vermeldete, nunmehr fahre sogar Audriaz – der offiziell über einen medizinischen Dispens verfügt – behelmt. Es war an einem 1. April.

Künstler, Eishockey-Legende, Pädagoge, aber auch Freigeist und Charmeur: das Freiburger Stadtoriginal Hubert Audriaz. Einen Helm trägt er nie.

Künstler, Eishockey-Legende, Pädagoge, aber auch Freigeist und Charmeur: das Freiburger Stadtoriginal Hubert Audriaz. Einen Helm trägt er nie.

«Hubert», ausgesprochen «Übäär», kann keine hundert Meter fahren, ohne jemand zu grüssen. Er kennt hier alle, nur die Touristen nicht. Und ihn kennen sie sowieso alle, möglicherweise gar die Touristen. Der 83-Jährige ist das, was man ein veritables Stadtoriginal nennen kann: Künstler, Eishockey-Legende, Pädagoge, aber auch – oder mehr noch – Freigeist und Charmeur.

Bundesräte in Gummistiefeln

Als der Gesamtbundesrat 2004 bei seiner traditionellen «Schulreise» nach Freiburg kam, wurde selbstverständlich ihm die Stadtführung anvertraut – was zu ikonischen Bildern der Magistraten in Gummistiefeln führte. Selbst der damalige Armeechef Christophe Keckeis konnte Audriaz nicht davon abhalten, die Landesregierung durch die symbolbehaftete Saane schreiten zu lassen, obwohl er ihn im Vorfeld noch eigens aufgesucht und gewarnt hatte. Der König macht es in seinem Reich eben so, wie es ihm passt.

«As wettigs Ymaasch, üsersch Guwernemang zmits i de Saana! D Myschlynn hii si sogaar no a Blätz wyt triit.»

(«Was für ein Bild, unsere Regierung mitten in der Saane! Micheline Calmy-Rey haben sie sogar noch ein Stück getragen.»)

Heute ist Audriaz das Gesicht der Unterstadt. Doch einer hat es noch viel weiter als zur Lokalprominenz geschafft: Jo Siffert. Wie kein Zweiter verkörperte er ab Mitte des letzten Jahrhunderts den Kampf der Freiburger Unterschicht zu Erfolg und Anerkennung.

Seppi, wie er von allen nur genannt wurde, war schon in der Schule klar, was er werden wollte: Rennfahrer. Die Eltern hatten kein Geld, um ihm den kostspieligen Sport zu finanzieren. Im Gegenteil – der Junge und seine Schwestern mussten mit kleinen Arbeiten selbst zum Unterhalt der Familie beitragen.

Jo Siffert – live fast, die young

Doch dickköpfig, wie die Unterstädter gemäss Klischee sind, verwirklichte Siffert seinen Traum allen Widrigkeiten zum Trotz. 1968 wurde er zum ersten Schweizer Grand-Prix-Sieger in der höchsten Automobilklasse. Nur drei Jahre später liess er sein Leben auf der Rennstrecke von Brands Hatch. «Live Fast, Die Young» hiess später ein Dokumentarfilm über ihn.

Rund 50 000 Personen säumten bei seiner Beerdigung die Strassen Freiburgs, es war eine der grössten Trauerfeiern, welche die Schweiz je erlebt hatte. Und alle wussten: Sie hatten Seppi auch darum ins Herz geschlossen, weil er es aus einfachsten Verhältnissen an die Spitze schaffte. Weil er ein Bolz war.

Er schaffte es aus einfachsten Verhältnissen an die Spitze: der 1971 verstorbene Rennfahrer Jo Siffert.

Er schaffte es aus einfachsten Verhältnissen an die Spitze: der 1971 verstorbene Rennfahrer Jo Siffert.

Rainer Schlegelmilch / Imago

«Isch mù i de Ùnderstadt geboore, tuet mù rede, ggomm ssa wiäingj.
Giit di tütschi Pyschta vùrloore, ret mù wäutsch, e ssa fe riäingj!»

(«Ist man in der Unterstadt geboren, spricht man, wie es gerade kommt. Geht die deutsche Piste verloren, spricht man Französisch – und das macht nichts!»)

Ersonnen hat den Reim Fränzi Kern-Egger. Oder Françoise. Die 77-Jährige ist perfekt zweisprachig – und sie hat sich zur Lebensaufgabe gemacht, eines der kreativsten Erzeugnisse des Bilinguismus zu bewahren. Wohl niemand hat sich mit dem Bolz so auseinandergesetzt wie sie. Denn niemand hatte den Soziolekt jemals in dieser Tiefe schriftlich festgehalten.

Wie schreibt man das nur auf?

Kern-Egger ist in der Freiburger Unterstadt aufgewachsen, allerdings in «vergleichsweise privilegierten» Verhältnissen, wie sie sagt. «Im Haus lebten nur meine Familie und der Besitzer.» Als sie später am Lehrerseminar tätig war, fragte der Direktor eines Tages, ob sie nicht eine Bolz-Geschichte für einen Sammelband schreiben könnte. So entstand «De Foppalmatsch» (Das Fussballspiel).

Es folgten zahlreiche weitere Kurzgeschichten und zwei Bücher. Auf die Bestsellerlisten gelangt man damit nicht, aber eine gewisse Anhängerschaft, notabene unter Heimweh-Freiburgern, hat Kern-Egger durchaus gefunden. Besonders erfolgreich ist die Übersetzung des «Petit Prince». Wenn es Saint-Exupérys Klassiker gar auf Bolz gibt – ja dann glaubt man, dass es nach der Bibel und dem Koran als das meistübersetzte Werk der Weltliteratur gilt.

Doch wie schreibt man eine Sprache, die eigentlich nur gesprochen wird? «Es gibt keine festen Regeln, und vor mir hat es niemand gewissenhaft gemacht. Also habe ich mich entschieden, die germanische Phonetik zu verwenden», sagt Kern-Egger. Die aus dem Französischen stammende, im Bolz verwendete «habitation» (Wohnung) wird somit zur «Abytassiong». Der «hoquet» (Schluckauf) zum «Hogge». Das macht es für Deutschschweizer einfacher – sie können lesen, wie es geschrieben ist. Romands hingegen sind verloren.

«Ds Lääbe isch nid liechts gsyy. Me meem sy ong le puwe: Ma wettis nid andersch haa – pu riängj ùù Mongd.»

(«Wir hatten ein schwieriges Leben. Aber auch wenn wir könnten: Wir würden nichts ändern wollen – um nichts in der Welt.»)

Trägt dazu bei, dass das Kulturgut nicht ausstirbt: Josef Bossart singt auf Bolz.

Trägt dazu bei, dass das Kulturgut nicht ausstirbt: Josef Bossart singt auf Bolz.

Für die welsche Bolz-Version wurde bis anhin kein vergleichbares Standardwerk geschaffen. Was passiert, wenn die Mischsprache eines Tages verschwunden sein sollte? Angesichts der andauernden Gentrifizierung ist der sprachliche Wandel längst im Gang. Ab den 1960er Jahren, als die Hochkonjunktur selbst die Freiburger «Basse-Ville» erreichte, zogen viele Familien in Neubauten, insbesondere ins nahe Schönberg-Quartier. Die renovationsbedürftigen, bauhistorisch aber wertvollen Unterstadt-Häuser wurden wiederum von Leuten aufgekauft, die sich nicht mehr vor den einst verrufenen Quartieren fürchteten.

Strassentafeln abgeschraubt

Doch ausgestorben ist das Bolz nicht. Setzt man sich in eines der zahlreichen Bistrots in der Freiburger Unterstadt, kann man mit etwas Glück noch immer Einheimischen lauschen, die miteinander «bolzern». Manche Eltern pflegen den Mischmasch mit ihren Kindern bewusst.

Und dann gibt es eine Vielzahl von künstlerischen Initiativen, die sich mit dem Kulturgut auseinandersetzen. Josef Bossart singt Lieder auf Bolz, in denen «ruschiirt» (errötet, von «rougir»), «eschofiirt» (ereifert, von «échauffer») oder «etrangliirt» (erdrosselt, von «étrangler») wird. Jean-Théo Aeby ist mit seinem Dokumentarfilm «Ruelle des Bolzes», für lokale Verhältnisse, gar ein veritabler Kassenschlager gelungen.

Aeby porträtierte knapp zwei Dutzend Personen, welche die Unterstadt ausmachen. Hauptperson ist, wie könnte es anders sein, Hubert Audriaz. Mit breitem Lachen hebt er auf dem Coverbild das titelgebende Strassenschild in die Kamera – eine augenzwinkernde Anspielung auf eine seiner Nacht-und-Nebel-Aktionen. Vor Jahren schraubte Audriaz kurzerhand mehrere Tafeln ab und ersetzte sie durch den Namen des ältesten Bewohners oder der ältesten Bewohnerin der Strasse. Bis die Obrigkeit den ursprünglichen Zustand wiederhergestellt hatte, dauerte es, zumindest gemäss seiner Erzählung, mehrere Wochen.

Mit einem König legt man sich nur an, wenn es nicht mehr anders geht. Und sei er noch so lokal.

Sein Dokumentarfilm über die Unterstädter – auch sie werden Bolz genannt – wurde zum Kassenschlager: Jean-Théo Aeby.

Sein Dokumentarfilm über die Unterstädter – auch sie werden Bolz genannt – wurde zum Kassenschlager: Jean-Théo Aeby.

Startschuss zur Bolzenfasnacht

fum. Am Samstag beginnt in Freiburg die viertägige Bolzenfasnacht, besser bekannt als «Carnaval des Bolzes». Seit einem guten halben Jahrhundert ziehen verkleidete Kinder und Erwachsene durch die Gassen der historischen Unterstadt, Guggenmusiken sorgen für die akustische Begleitung. Der «Grand Cortège» vom Sonntag gilt als Höhepunkt.