Frühgeborenes im Inselspital Bern. Die dortige Neonatologie-Station ist auf extreme Frühchen spezialisiert. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Frühgeborenes im Inselspital Bern. Die dortige Neonatologie-Station ist auf extreme Frühchen spezialisiert. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Frühchen – dem Tod näher als dem Leben

Wenn Babys viel zu früh zur Welt kommen, ist das Risiko gross, dass sie später mit schwersten Behinderungen leben müssen. Dann stellt sich die Frage, was höher gewichtet wird: das Leben an sich oder dessen Qualität?

Larissa Rhyn, Bern
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Das Handgelenk ist so dünn wie ein kleiner Finger eines Erwachsenen. Ein weisser Verband bedeckt es, daraus hervor schaut ein Infusionsschlauch. Vorsichtig bewegt das Frühgeborene seinen Kopf, greift ungelenk in Richtung der Hand, die ihm winzige Mengen an Nahrung einflösst. Es liegt in einem durchsichtigen Kasten, der Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Sauerstoff regelt.

Der Grat zwischen Leben und Tod ist für Frühgeborene schmal, vor allem direkt nach der Geburt. Wenn Babys über zehn Wochen zu früh zur Welt kommen, stehen sie an der Grenze zur Lebensfähigkeit. Eltern, Ärzte und Hebammen müssen dann eine Entscheidung treffen: Sollen sie das Leben des Frühgeborenen künstlich verlängern? Oder soll das Kind nur möglichst schmerzfrei sterben können?

Der Wille der Eltern ist zentral

Tilman Humpl ist oft mit solchen Entscheidungen konfrontiert. Er leitet die Neonatologie-Station des Berner Inselspitals – eines der wenigen Spitäler in der Schweiz, die auf extreme Frühchen spezialisiert sind. Zwar spricht man gemeinhin bis zur 36. Woche von einer Frühgeburt – doch die Babys, die hier liegen, waren noch deutlich weniger lang im Bauch der Mutter.

Prof. Dr. med. Tilman Humpl ist Chefarzt der Neonatologie des Inselspitals Bern. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Prof. Dr. med. Tilman Humpl ist Chefarzt der Neonatologie des Inselspitals Bern. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

In der Schweiz werden jährlich rund 350 Babys extrem früh geboren, also zwischen der 22. und der 27. Schwangerschaftswoche. Sie haben die Chance zu überleben. Doch dafür müssen sie meist künstlich beatmet werden, oft sind Operationen nötig. Ob ihr Leben gerettet werden soll, muss direkt nach der Geburt entschieden werden, wenn möglich von den Eltern.

Aber manchmal bleibt dafür keine Zeit. Kommt eine Mutter unerwartet mit akuten Wehen ins Spital, muss der Neonatologe handeln, ohne zu wissen, was die Eltern sich wünschen. Es ist ein wegweisender Schritt: «Wurden einmal lebenserhaltende Massnahmen getroffen, stellt man diese in der Regel später nicht mehr ein», sagt Humpl.

Was darf man dem Frühgeborenen zumuten?

Die Abwägungen, die Humpl und seine Kolleginnen und Kollegen machen müssen, sind komplex. Einerseits hat jeder Mensch Anspruch auf medizinische Versorgung und sind Ärzte verpflichtet, Leben zu retten. Andererseits stellt sich die Frage: Was will und darf man dem extrem Frühgeborenen zumuten? Lebenserhaltende Massnahmen kosten viel Kraft. Werden die Babys operiert, leiden sie. Und viele der Kinder müssen lebenslang mit einer schweren Behinderung leben.

Die grundsätzlichen Risiken kennen die Ärzte zwar, doch bei der Geburt sind viele spätere Probleme noch nicht absehbar. «Entscheidend sind vor allem die ersten Tage», sagt Chefarzt Humpl. Dann ist das Risiko für eine Hirnblutung oder eine Infektion, die erhebliche bleibende Schäden hinterlässt, besonders gross. Zahlen des Bundesamts für Statistik für 2017 zeigen, dass rund 32 Prozent der Babys, die extrem früh – aber lebend – zur Welt kamen, innerhalb der ersten Woche starben.

Ob ein Baby gerettet wird, hängt auch vom Geburtsland ab

Jedes Land hat eigene Richtlinien, die festlegen, ab wann bei Frühchen lebenserhaltende Massnahmen getroffen werden sollen. In der Schweiz lag die Grenze in den 1970er Jahren noch bei etwa 28 Schwangerschaftswochen, nun sind es 24 – wobei der Arzt einen gewissen Ermessensspielraum hat. Humpl erklärt: «Es ist eine Guideline, kein Gesetz.»

Manchmal ist ein Baby schwerer, als es der Ultraschall vorausgesagt hat. Oder ein kleines Frühgeborenes zeigt enormen Kampfgeist. Darum sei es wichtig, dass die Grenze nicht zu starr angesetzt werde. Grundsätzlich gilt: Unter 24 Wochen ist der Arzt nicht zu lebenserhaltenden Massnahmen verpflichtet. Zwar kann er sich in Ausnahmefällen dafür entscheiden, grundsätzlich werden jedoch Palliativmassnahmen empfohlen.

Anders in Japan, Schweden oder Deutschland, wo schon ab der 22. beziehungsweise der 23. Woche alles getan werden sollte, um das Kind zu retten. Oder in Kalifornien, wo dieses Jahr ein Frühchen überlebt hat, das nur 245 Gramm wog, als es geboren wurde – ein Rekord. Das Mädchen kam in der 23. Schwangerschaftswoche zur Welt, war aber deutlich leichter als andere Babys im gleichen Alter. Solche Fälle zeigten, dass Ärzte in der Schweiz Frühgeborene unnötig sterben liessen, argumentieren manche.

Tanja Krones, die leitende Medizinethikerin der Universität Zürich, sagte letztes Jahr in einem Interview mit der «Sonntags-Zeitung»: «Es ist absolut nicht okay, wenn Kinder an der Grenze der Lebensfähigkeit grundsätzlich palliativ oder lebensverlängernd behandelt werden – ohne dass die Eltern einbezogen werden.» Ihr Argument: Selbst Kinder, die ab der 22. Woche geboren würden, könnten überleben, wenn sie die richtige Versorgung erhielten. Manchmal sogar ohne schwere Beeinträchtigungen.

Pflegerinnen versorgen ein Frühgeborenes, das im Brutkasten liegt. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Pflegerinnen versorgen ein Frühgeborenes, das im Brutkasten liegt. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Leben nicht um jeden Preis erhalten

Thomas Berger hat die Schweizer Richtlinie mit erarbeitet und sagt, man müsse wegkommen von einer Diskussion, die nur auf die Schwangerschaftswoche fokussiere. Neben dem sogenannten Gestationsalter des Babys, also der Zeit im Bauch der Mutter, müssten noch weitere Faktoren berücksichtigt werden. Dazu gehören beispielsweise das Gewicht, die Lungenreife des Kindes oder der Verlauf der Geburt. All diese Aspekte sollen Ärzte wenn möglich einbeziehen, um Chancen und Risiken für ein Kind abzuschätzen.

Zwar seien diese Faktoren heute schon erwähnt, doch die Richtlinien müssten noch klarer definiert werden. Deshalb werden sie zurzeit überarbeitet. Beteiligt sind Geburtshelfer, Ethiker, Kinderärzte und Neonatologen – unter ihnen auch Berger. Bis Ende Jahr soll die neue Version in die erweiterte Vernehmlassung geschickt werden, wo auch Elternverbände sich dazu äussern können. Einen Grundsatz werde man beibehalten, ist Berger überzeugt: «Auch in Zukunft werden wir in der Schweiz ein Leben nicht um jeden Preis erhalten.» Ausschlaggebend müsse vielmehr sein, im besten Interesse des Kindes zu handeln.

«Eine Geburt um die 27. Woche ist 2019 kein Grund mehr, ein gesundes Frühgeborenes sterben zu lassen – auch wenn die Eltern anderer Meinung wären.»

So hat auch die Autorität der Eltern ihre Grenzen. Der Berner Chefarzt Humpl erklärt: «Wenn die Reifezeichen bei 22 Wochen liegen, helfen uns die Richtlinien, auch wenn die Eltern möglicherweise wollen, dass wir alles für das Kind tun.» Das heisst im Klartext: Das Kind kann Unterstützung erhalten, um schmerzfrei zu sterben. Auf der anderen Seite können die Eltern medizinische Massnahmen auch nicht unbeschränkt ablehnen. «Dank den Fortschritten in der Neonatologie ist eine Geburt um die 27. Woche im Jahr 2019 kein Grund mehr, ein gesundes Frühgeborenes sterben zu lassen – auch wenn die Eltern anderer Meinung wären.»

Wenn sich in der Schwangerschaft Komplikationen ankündigen, müssen Ärzte und Hebammen möglichst schnell das Gespräch mit den Eltern suchen. Dabei sei es wichtig, den Eltern auf Augenhöhe zu begegnen, damit sie abschätzen könnten, was auf sie und ihr Kind zukomme, so Humpl. Doch nicht immer wollen sich werdende Mütter und Väter mit der Frage auseinandersetzen, wie sie im Notfall entscheiden würden. «Das ist ja auch verständlich, denn jeder hofft, dass sein Kind gesund und ohne Komplikationen zur Welt kommt.»

Wenn jedes Gramm ein Erfolg ist

Neben einem Bettchen auf der Berner Neonatologie-Station hängt ein Bild eines Bären, angeschrieben mit«Kilobär». Das Frühchen hat ihn erst kürzlich erhalten: Nach mehreren Wochen im Brutkasten hat es endlich ein Kilo Gewicht auf die Waage gebracht. Noch immer ist es an eine Infusion angeschlossen, wird rund um die Uhr überwacht.

Die Eltern dürfen das Baby besuchen, wann sie wollen. Denn es wird noch lange im Spital bleiben müssen. Extrem Frühgeborene verbringen hier manchmal bis zu vier Monate. Trotzdem – oder genau deshalb – halten sich Eltern und Pflegepersonal auch an kleinen Fortschritten fest. Denn wenn ein Kind bei der Geburt nur etwas mehr wiegt als ein Päckchen Butter, ist jedes Gramm ein kleiner Erfolg.

Eltern dürfen ihr Kind in der Neonatologie-Station des Inselspitals rund um die Uhr besuchen. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Eltern dürfen ihr Kind in der Neonatologie-Station des Inselspitals rund um die Uhr besuchen. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

War der Entscheid richtig?

Am Inselspital arbeiten Medizinethiker, welche die Eltern, Ärzte und Hebammen in besonders heiklen Situationen unterstützen. Beispielsweise, wenn sich die Eltern nicht einig sind. Oder wenn das Baby schon auf der Welt ist und es plötzlich erhebliche Komplikationen gibt. Dann sind auch Ärzte mal mit dem Entscheid überfordert, ob die lebenserhaltenden Massnahmen eingestellt werden sollen – obwohl sie regelmässig mit dem Tod konfrontiert sind.

«Für mich ist es ein Unterschied, ob ich ein Kind vor mir habe, das noch sein ganzes Leben vor sich haben könnte, oder einen älteren Menschen, der bereits ein erfülltes Leben hatte», sagt Humpl. Manchmal bleibe jedoch kaum Zeit für solche Überlegungen: «Im Geburtssaal muss ich einfach funktionieren und schnell handeln – Gedanken kann ich mir häufig erst später machen.»

Als dieses Jahr die Nachricht um die Welt ging, dass in den USA das leichteste Frühgeborene überlebt hat, kamen beim Neonatologen Erinnerungen hoch. Er musste an das kleinste Kind denken, bei dem er je lebenserhaltende Massnahmen getroffen hat. 330 Gramm war es schwer, die Mutter in der 23. Schwangerschaftswoche. Es hat es nicht geschafft. Humpl weiss aber auch: Für andere Kinder, die heute am Leben sind, hat er vielleicht die falsche Entscheidung getroffen.

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