Jositsch in der Blocher-Falle: Wie die Parteien die Kontrolle über die Bundesratswahlen übernommen haben

Theoretisch kann das Parlament in den Bundesrat wählen, wen es will. Der Druck, den die SP auf Daniel Jositsch ausübt, zeigt jedoch: In der Realität ist die Macht auf die Bundeshausfraktionen übergegangen. Wie konnte es so weit kommen?

Daniel Gerny, Fabian Schäfer 7 min
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2003 wurde er in einem spektakulären Wahlkrimi in den Bundesrat gewählt, vier Jahre später in einer ebenso turbulenten Wahl wieder aus der Regierung entfernt. Christoph Blocher bei einer Ansprache nach seiner Abwahl aus dem Bundesrat.

2003 wurde er in einem spektakulären Wahlkrimi in den Bundesrat gewählt, vier Jahre später in einer ebenso turbulenten Wahl wieder aus der Regierung entfernt. Christoph Blocher bei einer Ansprache nach seiner Abwahl aus dem Bundesrat.

Peter Klaunzer / Keystone

«Die Bundesversammlung wählt die Mitglieder des Bundesrates», so heisst es in Artikel 168 der Bundesverfassung. Würde sich das Parlament tatsächlich so frei fühlen, wie es die Formulierung vorgibt, so wäre Daniel Jositsch schon heute so gut wie gewählt: Vielen Bürgerlichen gilt der Zürcher Ständerat als der fähigste, verlässlichste und politisch pragmatischste Bundesratskandidat der SP. Unter Laborbedingungen wäre Jositsch im Wettlauf um die Nachfolge von Alain Berset am 13. Dezember der klare Favorit.

Doch in der Realität gibt nicht das Parlament den Takt vor, sondern die SP. Genauer: die Bundeshausfraktion der SP, bestehend aus allen neu oder wieder gewählten National- und Ständeräten der Partei. Sie entscheiden am Samstag, wen sie für die Bundesratswahl nominieren. Im Jargon spricht man vom «Ticket»: Wenn Jositschs Name nicht auf dem Ticket steht – was angesichts seiner vielen parteiinternen Gegner und vor allem Gegnerinnen gut möglich ist –, darf er nicht Bundesrat werden. Sagt die SP. Sagt auch Jositsch selbst. Schon mehrfach hat er den Treueeid geleistet: Sollten ihn die bürgerlichen Parteien als «wilden» Kandidaten, ohne offizielle Nomination, in den Bundesrat wählen, werde er die Wahl ablehnen.

Also ist das Parlament doch nicht so frei?

«Früher wäre es völlig undenkbar gewesen, dass eine Partei einen unliebsamen Parlamentarier vom Format eines Daniel Jositsch einfach so ausschalten kann», sagt Urs Altermatt, Historiker und Herausgeber von Standardwerken über die Bundesräte. «Nie im Leben hätte ein Otto Stich sich von seiner Partei dazu drängen lassen, die Wahl als wilder Kandidat abzulehnen.»

Die Geschichte einer Eskalation

Urs Altermatt erzählt die Geschichte der Bundesrats-Tickets als die Geschichte einer Eskalation in fünf Akten – es ist eine Geschichte, die den Ablauf, die Spielregeln und das Machtgefüge von Bundesratswahlen grundlegend verändert hat:

Nach einer turbulenten Wahl in der Landesregierung: Bundesrat Hans Hürlimann (CVP, Zug, hier bei einer Eröffnungsfeier) wurde 1973 als einer von drei «wilden» Kandidaten ins Amt gewählt.
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Am selben Tag wird auch der linksfreisinnige Georges-Andre Chevallaz (FDP, Waadt, rechts im Bild) ins Amt gewählt. Nach der Wahl wird er in seiner Heimatstadt Lausanne, herzlich empfangen.
Obwohl ihn die Partei nicht nominiert hatte, wurde Willy Ritschard (SP, Solothurn) nach seiner Wahl in den Bundesrat im Dezember 1973 bald zur sozialdemokratischen Identifikationsfigur.
Nach seiner von den Bürgerlichen kurzfristig eingefädelten Wahl in den Bundesrat wurde der «Begriff der Nacht der langen Messer» geprägt. Obwohl Otto Stich (SP, Solothurn) nicht nominiert war, wurde er ein populärer Bundesrat.
Francis Matthey (SP, Neuenburg), die tragische Figur der Bundesratswahl von 1993: Die Bürgerlichen wählten ihn statt die nominierte Christiane Brunner (Genf). Doch danach nahm Matthey die Wahl auf Druck seiner Partei nicht an. Gewählt wurde später Ruth Dreifuss (SP, Genf).
Setzte sich im Jahr 2000 gegen zwei offizielle Kandidaten durch: Bundesrat Samuel Schmid (SVP, Bern) bei einem Point de Presse im Bundeshaus.
Der frisch gewählte Bundesrat Christoph Blocher (SVP, Zürich) nach seiner turbulenten Wahl im Jahr 2003: Die Galionsfigur der SVP eroberte für seine Partei einen zweiten Sitz im Bundesrat – auf Kosten der CVP.
Vier Jahre später wurde Blocher wieder abgewählt und durch Eveline Widmer-Schlumpf (SVP, später: BDP, Graubünden) ersetzt. Widmer-Schlumpfs Wahl hatte schwerwiegende Folgen und führte zur Abspaltung der BDP von der SVP.

Nach einer turbulenten Wahl in der Landesregierung: Bundesrat Hans Hürlimann (CVP, Zug, hier bei einer Eröffnungsfeier) wurde 1973 als einer von drei «wilden» Kandidaten ins Amt gewählt.

Keystone
  • 1973 – dreifacher Eklat. Die Bundesratswahl vor 50 Jahren läuft völlig aus dem Ruder. Gleich drei wilde Kandidaten werden an diesem geschichtsträchtigen Mittwoch gewählt. Zuerst muss die SP bei der Ersatzwahl für den abtretenden – und seinerzeit ebenfalls wild gewählten – Hans Peter Tschudi mit ansehen, wie anstelle ihres offiziellen Kandidaten Arthur Schmid der als konzilianter geltende Solothurner Willi Ritschard gewählt wird. Die SP zürnt. Kurz darauf wird auch der offizielle CVP-Kandidat Enrico Franzoni übergangen, an seiner Stelle kürt das Parlament Hans Hürlimann. Wenig später ereilt die FDP dasselbe Schicksal, an der Stelle des Wirtschaftspolitikers Henri Schmitt wird ihr mit Georges-André Chevallaz ein Linksfreisinniger aufs Auge gedrückt. Am Ende grollen alle. Der Schrecken sitzt tief, verfliegt dann aber, womöglich, weil es alle getroffen hat.
  • 1983 – Demütigung der SP. Exakt zehn Jahre später kommt es erneut zu einer wilden Wahl, dieses Mal trifft es nur eine einzige Partei: die SP. Sie hat, wie das zu dieser Zeit üblich ist, eine einzige Kandidatin nominiert: die Zürcherin Lilian Uchtenhagen. Sie soll die erste Frau im Bundesrat werden. Doch die bürgerlichen Fraktionen machen der SP einen Strich durch die Rechnung. Nach klandestinen Absprachen in der Nacht vor der Wahl, die seither als «Nacht der langen Messer» bezeichnet wird, wählen sie den Solothurner Otto Stich. Er bekommt den Beinamen «Ladykiller» und beträchtlichen Ärger, denkt aber nicht daran, das Amt abzulehnen. Die SP schäumt, die Parteispitze um Helmut Hubacher zieht ernsthaft den Rückzug aus dem Bundesrat in Erwägung. So weit geht die Partei zwar nicht. Aber der interne Druck nimmt zu.
  • 1993 – die SP greift durch. Weitere zehn Jahre später folgt ein entscheidender Schritt. Zunächst läuft alles gleich wie im Fall Uchtenhagen: Die SP nominiert eine einzige Frau, die Genferin Christiane Brunner, die Bürgerlichen können sich mit ihr nicht anfreunden und wählen an ihrer Stelle den Neuenburger Francis Matthey. Der weitere Verlauf ist dann aber ganz anders: Die Parteispitze ist besser vorbereitet als 1983. Sie drängt Matthey dazu, die Wahl nicht sofort anzunehmen. In der Partei und auf der Strasse wird er in den folgenden Tagen derart unter Druck gesetzt, dass er die Wahl ablehnt. Die SP nominiert im zweiten Anlauf nebst Christiane Brunner auch Ruth Dreifuss, die schliesslich gewählt wird. Was früher undenkbar war, ist passiert: Ein bereits gewählter Bundesrat wurde von seiner Partei zum Verzicht gezwungen. Das hat Folgen.
  • 2000–2008 – die SVP geht noch weiter. In einer Reihe von Bundesratswahlen rückt nun die SVP ins Zentrum. Im Jahr 2000 muss sie erdulden, dass anstelle von Rita Fuhrer oder Roland Eberle der unerwünschte Samuel Schmid gewählt wird. 2003 und 2007 folgen Triumph und Trauma: zunächst die Abwahl der CVP-Bundesrätin Ruth Metzler und die Ersatzwahl von Christoph Blocher an deren Stelle, vier Jahre später Blochers Entfernung aus dem Amt. Dass sich an seiner Stelle mit Eveline Widmer-Schlumpf eine Parteikollegin als wilde Kandidatin wählen lässt, ist ein historisches Novum – und für die SVP ein Schock, der die Spielregeln von Bundesratswahlen wesentlich verändern wird. Hat die SP im Fall Matthey noch mit informellem Druck operiert, erhebt die SVP die Nulltoleranz gegenüber inoffiziellen Kandidaturen nunmehr zum geschriebenen «Gesetz». Sie verankert in ihren Statuten eine Klausel, die den automatischen Parteiausschluss vorsieht, falls sich jemand «wild» in den Bundesrat wählen lässt. Das wirkt. Bei der Ersatzwahl Ende 2008 erklärt der beinahe gewählte Sprengkandidat Hansjörg Walter in letzter Sekunde, dass er eine Wahl nicht annehmen würde – und ebnet damit den Weg für Ueli Maurer in den Bundesrat.
  • 2022, 2023 – die neuen Regeln sind zementiert. Nach den Querelen um die Blocher-Abwahl sehnen sich spürbar alle Bundesratsparteien nach Ruhe. Die strikten Regeln, die zuerst von der SP und später in noch schärferer Form von der SVP durchgesetzt worden sind, entwickeln sich zum neuen Standard. Die Abmachung geht so: Jede Fraktion beschliesst bei einer Vakanz ein Ticket mit zwei (oder ganz selten drei) Namen, und die anderen Fraktionen halten sich daran. Bei den Vakanzen der SP und der SVP 2022 zeigt sich, wie solid verankert diese Übereinkunft mittlerweile ist – und wie wenig sie noch hinterfragt wird. 2022 ist es Albert Rösti, der schon vor der Nomination öffentlich schwören muss, dass er für eine wilde Wahl nicht zur Verfügung stehe, 2023 ist es Daniel Jositsch – und falls er am Samstag in der SP-Fraktion scheitert, dann vermutlich, weil er dieses Bekenntnis 2022 verweigert hat.

«Eine Art von Kartell»

«So hat sich über die Jahrzehnte ein abgekartetes Spiel entwickelt», konstatiert der Historiker Urs Altermatt. Zum Glück seien es nicht die Fraktionsspitzen, die allein entscheiden könnten, wer nominiert werde. Die Abläufe in den Fraktionen seien, soweit sich dies von aussen beurteilen lasse, demokratisch und offen. «Trotzdem ist das keine gute Entwicklung», findet Altermatt. Das Vorschlagsrecht der Fraktionen gehe viel zu weit und stelle die Wahlfreiheit der Bundesversammlung infrage.

«Es ist nicht gut, wenn die Parteien starke Figuren, die ihnen – weshalb auch immer – nicht genehm sind, einfach so aus dem Spiel nehmen können. Noch schlechter ist, wenn die Fraktionen die Kandidaten der Konkurrenz unkritisch durchwinken, damit ihre eigenen ebenfalls akzeptiert werden.» Man könne dieses System, konstatiert der Historiker, durchaus als «eine Art von Kartell» bezeichnen.

Ist die «Lex Widmer-Schlumpf» widerrechtlich?

Der Versuch, den Markt der Kandidatinnen und Kandidaten per Absprachen und Vorgaben fraktionsintern zu steuern und zu beherrschen und auf diese Weise die eigentliche Wahlbehörde zu entmachten, löst ausserhalb der Bundesratsparteien schon seit einiger Zeit Unbehagen aus. Die Parteiausschluss-Klausel der SVP führte 2015 sogar zu einer verfassungsrechtlichen Debatte. Denn nicht nur ist laut Verfassung die Vereinigte Bundesversammlung für die Wahl der Bundesratsmitglieder alleine zuständig. Sie muss diese Wahl auch ohne Befehlsausgabe von aussen vornehmen können. So sieht es das Instruktionsverbot vor, das die Ratsmitglieder vor verbindlichen Weisungen schützt.

Und dennoch geht nach Ansicht der meisten Staatsrechtlerinnen und Staatsrechtler bis heute alles mit rechten Dingen zu. Denn unabhängig davon, was die Fraktionen vorspuren: Das Parlament bleibt juristisch gesehen frei darin, jede stimmberechtigte Schweizerin und jeden stimmberechtigten Schweizer in den Bundesrat zu wählen. Und jede Person, die die Wahl annimmt, wird danach zum regulären Mitglied der Landesregierung – egal, was zuvor unter Druck versprochen und beschworen worden ist. «Alle vorgängigen Abmachungen oder Vorgaben ändern nichts an der Gültigkeit der Wahl», erklärt der Basler Staatsrechtsprofessor Markus Schefer.

Die Popularität der «Wilden»

Und nicht selten zahlen sich die Eskapaden der Wahlbehörde für die ausgetrickste Partei schliesslich sogar am meisten aus. Wilde Bundesräte können sich zu beliebten Magistraten entwickeln, nicht nur im Volk, sondern auch in der eigenen Partei. Gerade die SP ist damit gut gefahren. Hans Peter Tschudi oder Otto Stich beispielsweise wurden äusserst populär und fanden auch in der Partei breite Unterstützung. Stichs Widerborstigkeit machte den Bürgerlichen, die ihn der SP oktroyiert hatten, bald am meisten zu schaffen.

Und Willi Ritschard, der erste Nichtakademiker in der Landesregierung, wurde während seiner Zeit als Finanzminister gar zur sozialdemokratischen Identifikationsfigur. Der Solothurner war derart beliebt, dass ihm einfache Leute gelegentlich Banknoten zugeschickt haben sollen, um ihn bei der Sanierung des Bundeshaushalts zu unterstützen. So erzählte es der frühere SP-Präsident Helmut Hubacher am Tag nach Ritschards Tod.

Klar ist auch, dass sich Bundesratswahlen niemals dauerhaft regulieren lassen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zum nächsten Eklat kommt. Ein Gremium von 246 überdurchschnittlich selbstbewussten Personen, die in geheimer Wahl neue Magistraten bestimmen dürfen, bleibt unberechenbar. Und nicht jeder, der wild gewählt wird, gibt das Amt danach wieder her, auch wenn er genau dies zuvor hoch und heilig versprochen hat.

Wie sagte doch 2008 Hansjörg Walter kurz nach seiner – offiziell ungewollten – Beinahe-Wahl zum «St. Galler Tagblatt»: «Die Frage, was ich gemacht hätte, hatte ich innerlich nicht beantwortet. Selbst bei Bekanntgabe des Wahlresultats war ich noch nicht schlüssig.»