Theoretisch kann das Parlament in den Bundesrat wählen, wen es will. Der Druck, den die SP auf Daniel Jositsch ausübt, zeigt jedoch: In der Realität ist die Macht auf die Bundeshausfraktionen übergegangen. Wie konnte es so weit kommen?
«Die Bundesversammlung wählt die Mitglieder des Bundesrates», so heisst es in Artikel 168 der Bundesverfassung. Würde sich das Parlament tatsächlich so frei fühlen, wie es die Formulierung vorgibt, so wäre Daniel Jositsch schon heute so gut wie gewählt: Vielen Bürgerlichen gilt der Zürcher Ständerat als der fähigste, verlässlichste und politisch pragmatischste Bundesratskandidat der SP. Unter Laborbedingungen wäre Jositsch im Wettlauf um die Nachfolge von Alain Berset am 13. Dezember der klare Favorit.
Doch in der Realität gibt nicht das Parlament den Takt vor, sondern die SP. Genauer: die Bundeshausfraktion der SP, bestehend aus allen neu oder wieder gewählten National- und Ständeräten der Partei. Sie entscheiden am Samstag, wen sie für die Bundesratswahl nominieren. Im Jargon spricht man vom «Ticket»: Wenn Jositschs Name nicht auf dem Ticket steht – was angesichts seiner vielen parteiinternen Gegner und vor allem Gegnerinnen gut möglich ist –, darf er nicht Bundesrat werden. Sagt die SP. Sagt auch Jositsch selbst. Schon mehrfach hat er den Treueeid geleistet: Sollten ihn die bürgerlichen Parteien als «wilden» Kandidaten, ohne offizielle Nomination, in den Bundesrat wählen, werde er die Wahl ablehnen.
Also ist das Parlament doch nicht so frei?
«Früher wäre es völlig undenkbar gewesen, dass eine Partei einen unliebsamen Parlamentarier vom Format eines Daniel Jositsch einfach so ausschalten kann», sagt Urs Altermatt, Historiker und Herausgeber von Standardwerken über die Bundesräte. «Nie im Leben hätte ein Otto Stich sich von seiner Partei dazu drängen lassen, die Wahl als wilder Kandidat abzulehnen.»
Urs Altermatt erzählt die Geschichte der Bundesrats-Tickets als die Geschichte einer Eskalation in fünf Akten – es ist eine Geschichte, die den Ablauf, die Spielregeln und das Machtgefüge von Bundesratswahlen grundlegend verändert hat:
«So hat sich über die Jahrzehnte ein abgekartetes Spiel entwickelt», konstatiert der Historiker Urs Altermatt. Zum Glück seien es nicht die Fraktionsspitzen, die allein entscheiden könnten, wer nominiert werde. Die Abläufe in den Fraktionen seien, soweit sich dies von aussen beurteilen lasse, demokratisch und offen. «Trotzdem ist das keine gute Entwicklung», findet Altermatt. Das Vorschlagsrecht der Fraktionen gehe viel zu weit und stelle die Wahlfreiheit der Bundesversammlung infrage.
«Es ist nicht gut, wenn die Parteien starke Figuren, die ihnen – weshalb auch immer – nicht genehm sind, einfach so aus dem Spiel nehmen können. Noch schlechter ist, wenn die Fraktionen die Kandidaten der Konkurrenz unkritisch durchwinken, damit ihre eigenen ebenfalls akzeptiert werden.» Man könne dieses System, konstatiert der Historiker, durchaus als «eine Art von Kartell» bezeichnen.
Der Versuch, den Markt der Kandidatinnen und Kandidaten per Absprachen und Vorgaben fraktionsintern zu steuern und zu beherrschen und auf diese Weise die eigentliche Wahlbehörde zu entmachten, löst ausserhalb der Bundesratsparteien schon seit einiger Zeit Unbehagen aus. Die Parteiausschluss-Klausel der SVP führte 2015 sogar zu einer verfassungsrechtlichen Debatte. Denn nicht nur ist laut Verfassung die Vereinigte Bundesversammlung für die Wahl der Bundesratsmitglieder alleine zuständig. Sie muss diese Wahl auch ohne Befehlsausgabe von aussen vornehmen können. So sieht es das Instruktionsverbot vor, das die Ratsmitglieder vor verbindlichen Weisungen schützt.
Und dennoch geht nach Ansicht der meisten Staatsrechtlerinnen und Staatsrechtler bis heute alles mit rechten Dingen zu. Denn unabhängig davon, was die Fraktionen vorspuren: Das Parlament bleibt juristisch gesehen frei darin, jede stimmberechtigte Schweizerin und jeden stimmberechtigten Schweizer in den Bundesrat zu wählen. Und jede Person, die die Wahl annimmt, wird danach zum regulären Mitglied der Landesregierung – egal, was zuvor unter Druck versprochen und beschworen worden ist. «Alle vorgängigen Abmachungen oder Vorgaben ändern nichts an der Gültigkeit der Wahl», erklärt der Basler Staatsrechtsprofessor Markus Schefer.
Und nicht selten zahlen sich die Eskapaden der Wahlbehörde für die ausgetrickste Partei schliesslich sogar am meisten aus. Wilde Bundesräte können sich zu beliebten Magistraten entwickeln, nicht nur im Volk, sondern auch in der eigenen Partei. Gerade die SP ist damit gut gefahren. Hans Peter Tschudi oder Otto Stich beispielsweise wurden äusserst populär und fanden auch in der Partei breite Unterstützung. Stichs Widerborstigkeit machte den Bürgerlichen, die ihn der SP oktroyiert hatten, bald am meisten zu schaffen.
Und Willi Ritschard, der erste Nichtakademiker in der Landesregierung, wurde während seiner Zeit als Finanzminister gar zur sozialdemokratischen Identifikationsfigur. Der Solothurner war derart beliebt, dass ihm einfache Leute gelegentlich Banknoten zugeschickt haben sollen, um ihn bei der Sanierung des Bundeshaushalts zu unterstützen. So erzählte es der frühere SP-Präsident Helmut Hubacher am Tag nach Ritschards Tod.
Klar ist auch, dass sich Bundesratswahlen niemals dauerhaft regulieren lassen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zum nächsten Eklat kommt. Ein Gremium von 246 überdurchschnittlich selbstbewussten Personen, die in geheimer Wahl neue Magistraten bestimmen dürfen, bleibt unberechenbar. Und nicht jeder, der wild gewählt wird, gibt das Amt danach wieder her, auch wenn er genau dies zuvor hoch und heilig versprochen hat.
Wie sagte doch 2008 Hansjörg Walter kurz nach seiner – offiziell ungewollten – Beinahe-Wahl zum «St. Galler Tagblatt»: «Die Frage, was ich gemacht hätte, hatte ich innerlich nicht beantwortet. Selbst bei Bekanntgabe des Wahlresultats war ich noch nicht schlüssig.»